Meinung

H. HörathSelbstbedienung bei ätzenden Stoffen und

Durch die Sechste Verordnung zur Änderung chemikalienrechtlicher Verordnungen vom 19. Mai 2003 ist das Inverkehrbringen ätzender Stoffe und Zubereitungen wesentlich erleichtert worden. Welche negativen Folgen sich aus der uneingeschränkten Freiverkäuflichkeit konzentrierter Säuren sowie von Natrium und Kalium ergeben können, erläutert der folgende Beitrag.

Seit 1990 strenge Vorschriften

Im April 1990 gründete die Zeitschrift "Wiener" eine Briefkastenfirma mit der Bezeichnung "Human Research" und bestellte bei drei namhaften deutschen Chemieunternehmen folgende Chemikalien: Ethylenoxid, Brommethan, Kaliumcyanid und Uranylacetet.

Geliefert wurden ohne vorherige Kontrolle des Empfängers: 100 Gramm Kaliumcyanid 1 Liter Bromethan anstelle Brommethan 115 Liter Ethylenoxid und 25 Gramm Uranylacetet.

Daraus folgerte "Wiener" im Juliheft 1990: "So einfach ist Massenmord – Tod auf Bestellung – Gift gegen Geld.

Ohne Rücksicht auf Verluste verkaufen Deutschlands Chemie-Händler ihre tödliche Ware an jeden, der dafür bezahlt. Wiener-Reporter beschafften sich problemlos Zyankali, radioaktive Uransalze und Giftgas. Genug, um 2500 Menschen zu töten.

Massenmord war noch nie so einfach wie heute. Jeder Attentäter und jeder Terrorist kann in Deutschland ganz leicht tödliche Gifte kaufen … Die Bundesregierung unternimmt nichts gegen die Gift-Geschäfte. Bundeskanzler Kohl und Umweltminister Töpfer haben versagt."

Aufgrund der zitierten Veröffentlichung wurde die Chemikalien-Verbotsverordnung verschärft. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 dürfen sehr giftige und giftige Stoffe und Zubereitungen vom Abgebenden an Handelsgewerbetreibende nur abgegeben werden, wenn der Abgebende sich hat bestätigen lassen, dass die Händler im Besitz einer Erlaubnis sind oder das Inverkehrbringen angezeigt haben.

Ätzende, brandfördernde und hochentzündliche Stoffe und Zubereitungen durften danach nur durch eine im Betrieb beschäftigte Person mit Sachkunde abgegeben werden, sofern feststand, dass der Endabnehmer diese Stoffe und Zubereitungen in erlaubter Weise verwenden wird.

Jetzt Liberalisierung

Diese strengen Vorschriften sind durch die 6. Verordnung zur Änderung chemikalienrechtlicher Verordnungen vom 19. 5. 2003 liberalisiert worden [1]. Danach wurde u. a. im § 3 der Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV) der Buchstabe C (Abkürzung für ätzend) gestrichen. Das bedeutet, dass fast alle Säuren und Laugen zur Selbstbedienung angeboten werden können. Der Erwerber braucht somit vom Abgebenden u. a. nicht mehr

  • auf die Gefahren dieser Stoffe,
  • auf die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen,
  • auf die ordnungsgemäße Entsorgung

hingewiesen werden.

Apotheker, Chemikalienhändler, Drogisten, Spielwarenhändler usw. können somit Schülern, die mit Säure experimentieren möchten, diese gefährlichen Stoffe bei Beachtung der Kennzeichnungsvorschriften (die häufig nicht gelesen werden!) in kindergesicherten Verpackungen uneingeschränkt abgeben.

Ein Kind kann also konzentrierte Schwefelsäure, von der ein Tropfen im Auge zur Erblindung führt, künftig ohne Probleme – selbst im Spielwarenladen – kaufen. Auch Ätznatron-Plätzchen, die verschluckt unter wahnsinnigen Schmerzen zum Tode führen, dürfen an Minderjährige in Selbstbedienung abgegeben werden. (Sie wissen, dass solche "Rotulae" in gleicher Form als Pfefferminzplätzchen im Handel sind und von Kindern gerne genascht werden!)

Ich erinnere mich noch an Diskussionen vor Jahren, bei denen sich Mediziner aus den o. g. Gründen vehement gegen die Teilfreigabe ätzender Stoffe gewandt haben; damals allerdings ohne Erfolg! Die Industrie hat sich durchgesetzt.

In der Begründung zu der inzwischen neugefassten Verordnung vom 13. Juni 2003 [2] steht dazu u. a. Folgendes: "Ätzende Stoffe und Zubereitungen in Verpackungen mit kindergesicherten Verschlüssen sind allerdings generell von den Abgabebeschränkungen befreit (§ 3 Absatz 4 Satz 3 1. Anstrich).

Nach Einführung dieser Vorschriften in der Chemikalien-Verbotsverordnung wurden – zwecks Umsetzung einer entsprechenden EG-Richtlinie – in der Gefahrstoffverordnung für ätzende Stoffe und Zubereitungen, die für jedermann erhältlich sind, Verpackungen mit kindergesicherten Verschlüssen rechtlich vorgeschrieben (§ 12 Abs. 4 Gefahrstoffverordnung).

Die vorgenannte Ausnahme in der Chemikalien-Verbotsverordnung ist daher heute die Regel. Eine weitere Einbeziehung von ätzenden Stoffen und Zubereitungen in die Abgaberegelungen der Chemikalien-Verbotsverordnung ist daher insgesamt entbehrlich."

Die Behauptung im letzten Satz der Begründung halte ich für nicht richtig! Außerdem frage ich mich, ob unter diesen Umständen für die Abgabe der meisten anderen Stoffe eine Sachkunde und für giftige Stoffe eine Erlaubnis überhaupt noch erforderlich sind. Viele Gifte sind nicht gefährlicher als die o. g. Säuren und Laugen.

Beispiel: Natrium und Kalium

Bei der Vorbereitung dieses Beitrags habe ich mich inzwischen weiter mit den C-Stoffen beschäftigt und bin dabei u. a. auf die Elemente Natrium und Kalium gestoßen, die laut EG-Stoffliste ebenfalls mit den Kennbuchstaben C (und F) eingestuft sind [3].

Schon in der Schule sowie in den chemischen Grundvorlesungen an den Hochschulen lernen viele junge Leute diese beiden Elemente kennen. Da beide Elemente mit Wasser heftig reagieren und durch die sich bildenden Gase selbst entzünden, sind sie sehr gefährlich. Auch diese beiden äußerst gefährlichen Stoffe sind nach der letzten Änderung der Chemikalien-Verbotsverordnung fast uneingeschränkt selbst von Kindern käuflich zu erwerben.

Für mich ist dies unbegreiflich, denn Natrium und das noch reaktionsfähigere Kalium sind zwei von nur 120 Stoffen, die schon im Entwurf der Vorschriften, betreffend den Handel mit Giften vom 13. November 1894 aufgeführt und seitdem streng reglementiert waren.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Erwerber vom Abgebenden u. a. auch bei der Abgabe dieser Stoffe nicht einmal mehr auf deren Gefahren, auf die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen und auf die ordnungsgemäße Entsorgung hingewiesen werden muss.

Ich gehe zwar davon aus, dass Apotheker und Fachdrogisten auch ohne gesetzlichen Zwang es weiterhin ablehnen werden, diese Stoffe z. B. an Jugendliche abzugeben; bei Chemikalienhändlern und Spielwarenhändlern, die Experimentierkästen für chemische Versuche verkaufen, bin ich mir nicht so sicher.

Ich habe kürzlich in einem größeren Spielwarenladen einen Liter eines als giftig gekennzeichneten und dort verbotenermaßen zur Selbstbedienung feilgehaltenen methanolhaltigen Modellflugzeug-Treibstoffs für Unterrichtszwecke problemlos kaufen können. Ein Schluck davon kann bereits zur dauerhaften Erblindung führen.

Der Spielwarenladen hatte keine Erlaubnis zum Handel mit giftigen Stoffen; die sachkundige Person (Halbtagskraft) war nicht anwesend. Gegen welche Vorschriften von dieser Firma verstoßen wurde, ergibt sich aus dem Kasten "Ordnungswidrigkeiten und Straftaten".

Eine weitere Gefahr stellt der Internet-Handel dar. Bei einem Seminar zur Vorbereitung auf die Sachkundeprüfung für den Handel mit gefährlichen Stoffen nach der Chemikalien-Verbotsverordnung [4] haben Teilnehmer mitgeteilt, dass z. B. giftige methanolhaltige Modellflugzeug-Treibstoffe im Internet vertrieben werden. Dieser Internet-Handel mit sehr giftigen und giftigen Stoffen und Zubereitungen wurde jetzt zwar durch die o. g. Neufassung untersagt [5]; ob dieses Verbot beachtet wird, bleibt aber abzuwarten.

Übrigens müssen Teilnehmer der Sachkundeseminare künftig darauf hingewiesen werden, dass nunmehr die C-Stoffe ohne wesentliche Einschränkungen an jedermann, und somit selbst an Kinder abgegeben werden dürfen.

Zur Gefährlichkeit von Kalium und Natrium noch ein paar Hinweise: Laut Merck-Katalog 2003 [6] kosten 250 g Natrium 33,75 Euro 25 g Kalium 35,75 Euro.

Mit einer Packung dieser Stoffe kann man leicht und ohne dass Spuren zurückbleiben zusammenhängende Waldgebiete oder landwirtschaftliche Gehöfte niederbrennen, ebenso Schiffe, Omnibusse und Eisenbahnzüge sowie Flugzeuge. Diese gefährlichen Stoffe sollen künftig freiverkäuflich sein? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das unser Umweltministerium beabsichtigt hat. Vermutlich haben die Chemiker in diesem Ministerium an diese möglichen Folgen nicht gedacht.

Aus eigener Erfahrung

Liebe KollegInnen, vielleicht halten Sie das für eine maßlose Übertreibung. Aber ich schreibe das aus eigener Erfahrung: Vor Jahren hat ein hochintelligenter Bauernsohn nach seinem Abitur ein Stipendium zum Studium der amerikanischen Landwirtschaft erhalten. Nach seiner Rückkehr aus den USA wollte er den großflächigen Getreideanbau in seinem Dorf einführen.

Da die anderen Bauern dazu nicht bereit waren, entschloss er sich, vollendete Tatsachen zu schaffen und das Dorf niederzubrennen. Als erstes zündete er das größte Gehöft am Ortseingang, den jahrhundertealten Vierseithof meiner Großeltern an. Es bildete sich spontan eine riesige Stichflamme, die von einer in ca. 2 km zufällig vorbeifahrenden Polizeistreife erkannt wurde; so konnte der Brandstifter nur noch sein eigenes Anwesen anzünden.

Mit Natrium hätte er damals ungestört, unbemerkt und somit in aller Ruhe das Dorf in Brand setzen und auf das Ergebnis fern der Heimat warten können. Beweise hätte es nicht gegeben, denn das Löschwasser bildet mit Natrium u. a. Natronlauge, die mit dem Löschwasser weggespült wird.

Vorschlag zur Güte

Ich bin deshalb nach wie vor der Meinung, dass C-Stoffe nicht vollständig aus der Chemikalien-Verbotsverordnung gestrichen werden sollten.

Mit folgender leicht zu realisierenden Änderung könnte dieser Fehler korrigiert werden: Im Anhang zu § 1 der Chemikalien-Verbotsverordnung wird ein Abschnitt 25: "Ätzende Stoffe" angefügt. In Spalte 2 (Verbote) steht: "Ätzende Stoffe dürfen nur an berufsmäßige Verwender abgegeben werden."

In Spalte 3 (Ausnahmen) sollten die bisherigen Ausnahmen aufgeführt werden, ergänzt durch etwa notwendige Klarstellungen.

Eine derartige Änderung würde zusätzlich der besseren Lesbarkeit der Verordnung für Laien (z. B. Teilnehmer an den Lehrgängen zur Vorbereitung auf die Sachkundeprüfung) dienen. Die Gefahrstoffverordnung würde von dieser Änderung nicht berührt.

Ordnungswidrigkeiten und Straftaten (§§ 7+8 ChemVerbotsV und 26 + 27 ChemG + § 823 BGB) Beispiel: Ein Spielwarenhändler, der keine Erlaubnis zum Inverkehrbringen giftiger Stoffe und Zubereitungen besitzt, bietet in seinem Laden einen als giftig gekennzeichneten methanolhaltigen Modellflugzeugmotoren-Treibstoff in Form der Selbstbedienung an und gibt ihn ohne jegliche Prüfung an einen unbekannten Kunden ab.

Welche Straftaten begeht er und wie hoch ist das Strafmaß?* 1. Bußgeldvorschriften: (§ 26 Abs. 1 Nr. 7 ChemG) – Abgabe an unbekannten Erwerber (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 7 Nr. 2 ChemVerbotsV) — Abgabe ohne Prüfung des Verwendungszwecks (§ 3 Abs. 1 Nr. 2b i.V.m. § 7 Nr. 2 ChemVerbotsV) – Abgabe ohne die erforderliche Sachkunde (§ 3 Abs. 2 i.V.m. § 7 Nr. 3 ChemVerbotsV) – Abgabe ohne Eintrag ins Abgabebuch (§ 3 Abs. 3 i.V.m. § 7 Nr. 4 ChemVerbotsV) – Abgabe in Form der Selbstbedienung (§ 4 Abs. 1 i.V.m. § 7 Nr. 5 ChemVerbotsV) Strafmaß: Geldbuße bis zu 50 000,– Euro

2. Straftaten: (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 + Abs. 2 – 4 ChemG) – Inverkehrbringen ohne Erlaubnis (§ 2 Abs. 1 i.V.m. § 8 Nr. 2 ChemVerbotsV)

Strafmaß: Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe, wenn das Leben oder die Gesundheit eines anderen gefährdet wird.

3. Schadensersatzpflicht: (§ 823 BGB) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit … eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

* Als Überwachungsbeamter würde ich in diesem Falle eine Geldbuße von ca. 3000 Euro festsetzen.

Literaturtipp Hörath, Helmut Gefährliche Stoffe und Zubereitungen. Gefahrstoffverordnung – Chemikalien-Verbotsverordnung – Richtlinien der europäischen Gemeinschaft. Eine Einführung in die Gesetzes- und Gefahrstoffkunde, zugleich eine Vorbereitung auf die Sachkundeprüfung. 6., völlig neu bearb. Aufl., Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2002. 712 S., 27. Abb., 54 Tab., kt. E 39,–. ISBN 3-8047-1850-7

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