Die Seite 3

Im ersten Moment war ich geradezu sprachlos. Klaus Kirschner, seit 1976 für die SPD im Bundestag, seit 1998 Vorsitzender des Gesundheitsausschusses – ich finde ihn sympathisch, auch wenn ich seine gesundheitspolitische Positionierung in letzter Zeit immer häufiger nicht mehr nachvollziehen kann – dieser nach außen besonnen wirkende Mann hat sich Anfang Juli in einem Brief an seine "lieben Genossinnen und Genossen" zu Aussagen verstiegen, die erneut die Frage provozieren: Nur Irreführung – oder schon Betrug?

Diese Frage war mir auch gekommen, als Anfang des Jahres ein bis dato verborgen gebliebenes Geheimpapier aus dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) ruchbar wurde (DAZ 4 [2003] S. 3). Es zeigte: Den Fachleuten in Ulla Schmidts Ministerium war sehr wohl klar, dass die Apotheken durch das seit Januar 2003 greifende Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG) weit mehr belastet werden würden, als in offiziellen Verlautbarungen auch von der Ministerin immer wieder verkündet worden war.

Verkündet wurde: die Apotheken sollen eine Belastung von insgesamt 350 Mio. Euro schultern (im Durchschnitt also gut 16 000 Euro pro Apotheke) – das sei zumutbar. Das erste Halbjahr 2003 hat nun belegt, was im Geheimpapier des Ministeriums schon vorgerechnet wurde: bei den Apotheken landet weitgehend auch die Belastung, die vorgeblich der Großhandel allein tragen sollte – 600 Mio. Euro, die der Pharmagroßhandel bei einer Rendite der gesamten Branche von unter 250 Mio. Euro bei realistischer Betrachtung im Wesentlichen freilich gar nicht schultern konnte oder könnte.

Die entgegen öffentlichen Versicherungen offensichtlich auch beabsichtigte Gesamtbelastung, die bei den Apotheken landet, wird Ende des Jahres bei über einer Milliarde Euro liegen (im Durchschnitt bei über 45 000 Euro je Apotheke). Sollten die Apotheken damit für die für 2004 ins Auge gefasste Systemumstellung sturmreif geschossen werden?

Diese Frage, folgt man Kirschners Brief, stellt sich gar nicht. Kirschner zielt damit speziell auf jene SPD-Abgeordneten, die nach wie vor überhaupt nicht gut finden, wie das Gesundheitsministerium beim BSSichG mit den Apothekern umgegangen ist. Nach Kirschner legten die Apotheken in 2003 – im Vergleich zu 2002 – sogar weiter zu. In Baden-Württemberg sei bis Mai der Monatsnettoumsatz sogar um 2,48% gestiegen. Kirschner: "Die von der Bundesfinanzverwaltung für Apotheken ausgewiesene Umsatzrendite von 9% zugrundegelegt, ergibt sich so ein monatlicher Mehrerlös von 169,14 Euro je Apotheke, nicht aber ein Mindererlös".

Das ist very tricky: die von der Bundesfinanzverwaltung zugrundegelegte durchschnittliche Umsatzrendite von 9% galt einmal; für 2003 darf man sie aber sicher nicht mehr "zugrunde legen". Sie wird je nach Kassenanteil und je nach Preisgefüge der abgegebenen Rechnungen in der Apotheke 3 bis 4,5%-Punkte niedriger liegen. Denn: Im Vergleich mit 2001 liegt der Zwangsrabatt, den die Apotheken den Kassen einzuräumen haben, statt bei 5% nunmehr – in 2003 – bei über 8%.

Und: Der bislang erhaltene Großhandelsrabatt wird so gekürzt, dass im Schnitt die Rendite der Apotheken um weitere gut 2%-Punkte sinkt. Das Ergebnis: dem moderaten Umsatzplus entspricht ein drastisches Ertragsminus. Dass Klaus Kirschner mit seinen Zahlenspielereien just den gegenteiligen Eindruck zu erwecken versucht, ist schon ein starkes Stück. Es gelingt ihm nicht, "Arzneimittelausgaben", "Umsätze", "Einnahmen", "Rohgewinn", "Gewinn" und "Einkommen" der Apotheker zu unterscheiden. Oder sollte er nur so tun, als ob ...

Ähnlich tricky ist auch sein (in beigefügten Power-Point-Bildern enthaltener) Hinweis auf die Apotheken- und Großhandelsspannen im internationalen Vergleich. Kirschner suggeriert: in Deutschland sind die Distributionskosten besonders hoch. Gestützt auf eine eigenartige österreichische Studie aus dem Jahr 2001 (ÖBIG) behauptet er, die deutsche Apothekenspanne läge bei 31,7%, die des Großhandels bei 13% – daraus ergäbe sich für die Distribution eine Gesamtspanne, die nur noch in Luxemburg höher liegt.

In der Tat: Für 2001 mag die Apothekenspanne von 31,7% im Schnitt einigermaßen realistisch sein – aber nur unter Einbeziehung aller Bar- und Naturalrabatte sowie aller Skonti, die den Apotheken von ihren Vorlieferanten (also im Wesentlichen vom Großhandel) gewährt wurden. Die für den Großhandel angegebene Spanne von 13% ist aber nur nachvollziehbar als Spanne vor Erlösschmälerungen (also vor Rabattgewährung zugunsten der Apotheken).

Fazit: Der Großhandelsrabatt ist einerseits ertragserhöhend der Apothekenspanne zugerechnet worden; er ist aber gleichzeitig nicht von der Großhandelsspanne – ertragsmindernd – abgezogen worden. Dadurch erscheinen die deutschen Distributionskosten weit höher, als sie in Wirklichkeit sind – ganz davon abgesehen, dass die Spannen in Deutschland nach 2001 durch das Arzneimittelausgabenbegrenzungsgesetz (AABG) und durch das BSSichG zweimal erheblich weiter gekürzt wurden.

Ob es Kirschner gelingt, seine Kollegen so hinter "die Fichte" zu führen (um einen Ausdruck von Ex-Ministerpräsident Gabriel zu verwenden)?

Der Atem stockt mir auch, wenn ich lese und höre, was – angeblich – gegen die Apotheker in der Allparteienrunde aus Koalition und Opposition ausgekungelt werden soll. Versandhandel – darauf werde sich die Union einlassen, allen bisherigen Beteuerungen zum Trotz. Auch der Fall des Mehrbesitzverbotes scheine möglich. Noch sind dies alles nur Gerüchte (Stand Montag Abend). Wird mehr daraus? Am Erscheinungstag dieser DAZ werden wir möglicherweise mehr wissen.

Klaus G. Brauer

Da stockt der Atem ...

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