Praxis

T. Müller-BohnChroniker brauchen schnellen und orts

In Diskussionen über die Zukunft der Arzneimitteldistribution wird vielfach behauptet, die Versorgung von Chronikern sei besonders einfach und wenig fehleranfällig. Sie könne daher dem Versandhandel überlassen werden. Diese Behauptung ist in der Realität allerdings nicht zu bestätigen Ų im Gegenteil, gerade bei der Versorgung chronisch Kranker, die besonders viele und erklärungsbedürftige Arzneimittel benötigen, treten besonders viele arzneimittelbezogene Probleme auf, die schnelles Eingreifen vor Ort nötig machen. Die Forderung nach Versandhandel für die Dauermedikation beruht offenbar auf einem medizinisch und ökonomisch höchst gefährlichen Trugschluss.

Die hier vorgestellten Fälle aus der Realität zeigen, wie problematisch die Arzneimittelversorgung chronisch Kranker sein kann. Besonders viele Schwierigkeiten ergeben sich offenbar aus der Versorgung von Diabetikern mit Insulin-Pens und den dazugehörigen Insulinen. Denn viele der vorliegenden Meldungen über arzneimittelbezogene Probleme in nordrheinischen Apotheken1 beziehen sich auf diese Produkte. Das Problem sind dabei zumeist nicht die Pens an sich, sondern die Besonderheiten bei ihrer Distribution und Anwendung.

Glück am Weihnachtstag ...

Die Problematik ist gut an einem Fall zu erkennen, der sich während eines Notdienstes am ersten Weihnachtsfeiertag 2001 in einer Essener Apotheke ereignete. Am Morgen meldete sich am Telefon ein verzweifelter Patient, der in der Apotheke nicht bekannt war. Er war am Vortag, d. h. Heiligabend, nach einem Herzinfarkt aus dem Krankenhaus entlassen worden. Dabei hatte er als Diabetiker weder genügend Insulin für die Feiertage noch ein Rezept erhalten. Außerdem war seine Insulintherapie im Krankenhaus auf ein Insulin umgestellt worden, das er nicht benennen konnte.

Für ein weiteres Problem sorgte der neue Pen, den er im Krankenhaus erhalten hatte, aber nicht bedienen konnte. Verständlicherweise dauerte es einige Zeit, bis der Mann alle diese Probleme erläutert hatte. Daher war es kaum anders zu erwarten, als dass der Apotheker das Telefonat abbrechen musste, weil jemand an seiner Notdiensttür klingelte.

Anschließend versuchte der Apotheker zwei Stunden lang, den hilfesuchenden Diabetiker zurückzurufen. Dort war das Telefon aber immer besetzt. Der Apotheker war allerdings mit einigem detektivischen Spürsinn ausgestattet, und der Patient stand glücklicherweise im Telefonbuch. So war seine Adresse zu ermitteln. Daraufhin fuhr die Frau des Apothekers zu dem Patienten, um den Pen in die Apotheke zu holen.

Ihr Eintreffen bei dem Patienten löste dort wohl gleichermaßen Überraschung über den unerwarteten Besuch und Freude über die nahende Lösung des Problems aus. So konnte der Apotheker das Insulin in dem Pen ermitteln und seine Frau mit neuem Insulin und einem weiteren Pen als Demonstrationsmodell zu dem Patienten schicken. Die Antwort des Diabetikers soll gewesen sein: "Nun kann Weihnachten endlich beginnen!"

... oder am Wochenende

In eine solche Notlage können aber nicht nur Patienten geraten, die gewissermaßen durch die organisatorischen Lücken des Gesundheitssystems fallen. Wer das Pech hat, an einem Feiertag oder am Wochenende Hilfe zu brauchen, kann auch bei guter Vorbereitung leicht in Schwierigkeiten geraten. Über einen solchen Fall berichtete die N.-Apotheke in Mönchengladbach.

Dort rief an einem Samstag ein Stammkunde an und erklärte, seine beiden Huma-Pens seien kaputt. Sie könnten nicht mehr eingestellt werden, weil einer zu schwergängig geworden sei und bei dem anderen eine Kunststoffzacke abgebrochen war. Die Apotheke besorgte ihm noch am Samstag zwei neue Huma-Pens, sodass er seine Insulin-Therapie mit zwei verschiedenen Insulinen fortsetzen konnte.

Das Problem wurde demnach schnell und unbürokratisch gelöst, nicht dagegen die Honorierung der Apotheke. Denn der Arzt verweigerte dem Patienten Rezepte über die gelieferten Pens, weil er genügend Pens in der Praxis habe. Die hätten dem Patienten aber am Samstag nicht geholfen. Der Arzt riet dem Patienten, die defekten Pens zum Umtausch in die Apotheke zu bringen.

Daraufhin schickte die Apotheke die defekten Pens auf eigene Kosten zum Umtausch an den Hersteller zurück. Da die Apotheke für neue Pens keine Verwendung gehabt hätte, war der Hersteller so kulant, der Apotheke eine Gutschrift über den Einkaufspreis zu schicken. Die Versandkosten und der sonstige Aufwand gingen allerdings zu Lasten der Apotheke.

Insulin-Pens – richtige Handhabung ...

Auch aus anderen Apotheken wurden Fälle berichtet, in denen die Abgabe von Pens in Krankenhäusern oder Arztpraxen später zu Problemen bei der Anwendung führte. Manche Patienten lassen sich daraufhin in der Apotheke die Handhabung des Pens erklären. In Apotheken kann auch ein umfangreicher Überblick über die möglichen Applikationshilfen gegeben werden, wenn eine Neueinstellung langfristig vorbereitet wird. Eventuell werden Leihgeräte zum Ausprobieren vermittelt.

Manchmal werden bei solchen Gesprächen auch Probleme identifiziert. So wurde in der A.-Apotheke in Bonn eher zufällig ermittelt, dass eine Kundin ihre Pennadeln nur alle zwei Wochen wechselt.

Aus einer Apotheke in Essen wurde über eine fast blinde Patientin berichtet, für die der Pen stets in der Wohnung eingestellt und mit tastbaren Markierungen versehen wird. Durch diesen Apothekenservice kann die Patientin weiterhin selbstständig in der eigenen Wohnung leben.

In einer Apotheke in Neuss bat ein Diabetiker um Hilfe, der eine Luftblase in seinem Pen nicht wegspritzen konnte. Die Ursache wurde erst klar, als er die Vorgeschichte zu diesem Problem erklärte. Er hatte vor einigen Wochen den Pen ohne Packungsbeilage, aber mit einer offenbar falschen mündlichen Bedienungsanleitung aus der Arztpraxis erhalten. Die Blutzuckerspiegel sanken nicht. Daraufhin ordnete der Arzt immer höhere Insulindosierungen an.

Von ursprünglich 6 I.E. wurde die Dosis innerhalb von etwa drei Wochen auf 14 I.E. erhöht, doch blieb der Erfolg aus. Die fehlende Wirkung lag aber nicht an der Dosis, sondern an der falschen Anwendung des Pens, bei der kein Insulin freigesetzt wurde. In der Apotheke erhielt der Patient die richtige Anleitung, den Hinweis, mit der ursprünglich vorgesehenen Dosis zu beginnen, und baldmöglichst seinen Arzt zu informieren.

... und richtiges Insulin

Zur richtigen Funktion eines Insulin-Pens gehört aber nicht nur die richtige Handhabung, sondern auch das richtige Insulin. Die vorliegenden Meldungen aus nordrheinischen Apotheken sprechen dafür, dass die Verordnung des falschen Insulins das häufigste arzneimittelbezogene Problem ist, das in Apotheken bei der Diabetiker-Versorgung auffällt. Es kommt dabei nicht nur auf die pharmakologischen Eigenschaften des Insulins, sondern auch auf die Auswahl des richtigen Herstellers für den jeweiligen Pen an. Alle diese Angaben geben Anlass zu Verwechslungen.

In der Apotheke können solche Verordnungen nur dann auf Plausibilität geprüft werden, wenn auch der Pen aus der Apotheke bezogen wurde oder zumindest Daten über frühere – hoffentlich richtige – Verordnungen vorliegen. Gerade bei der besonders heiklen Erstverordnung hilft der Rückgriff auf ältere Daten aber nicht.

Ein Fall aus einer Apotheke in Heimbach zeigt, welche Folgen die Auswahl des falschen Insulins haben kann. Dort beklagte ein Diabetiker, dass er die Kanüle nicht an der Spitze seines Pens fixieren könne. Dies lag aber nicht am Pen, sondern es war das falsche Insulin in den Pen eingelegt worden, wie in der Apotheke festgestellt wurde. Die Patrone des falschen Herstellers passte in das vorgesehene Fach, aber sie war dort nicht funktionsfähig. Stattdessen lief das Insulin aus. Der ganze Pen war feucht und roch nach Insulin.

Beim Hausarzt erhielt der Patient daraufhin einen richtigen Ersatzpen und U40-Insulinspritzen. In der Apotheke wurden die falschen Spritzen glücklicherweise erkannt und durch U100-Spritzen ersetzt.

Unterschiedliche Insulinkonzentrationen

Die unterschiedliche Konzentration der Insuline für Pens und für herkömmliche Spritzen ist demnach ein weiteres Problem. Offenbar sind sich manche Diabetiker dieses Unterschieds nicht bewusst und haben keine U100-Spritzen, um notfalls ein Pen-Insulin auf konventionelle Weise spritzen zu können.

In einer Apotheke in Köln stellte sich in einem Kundengespräch sogar heraus, dass eine Kundin regelmäßig das Insulin aus den verordneten Pen-Patronen mit einer Spritze applizierte. Sie konnte mit ihrem Pen aus dem Krankenhaus nicht umgehen und war wohl nicht auf die Idee gekommen, in der Apotheke nachzufragen. Stattdessen spritzte sie das U100-Insulin mit ihren alten U40-Spritzen. Als Ergebnis war sie ständig unterzuckert.

Sogar die Injektionsnadeln können Anlass zu Problemen geben, wie aus der N.-Apotheke in Düsseldorf berichtet wurde. Ein Direktlieferant, den die Krankenkasse einer Patientin vermittelt hatte, lieferte der Diabetikerin die falschen Nadeln, angeblich mit dem Kommentar: "Andere haben wir nicht."

Diabetestherapie – komplex und störungsanfällig

Die dargestellten Probleme rund um die Diabetikerversorgung sind ebenso vielschichtig wie der Versorgungsprozess selbst. Doch in kaum einem Fall ist das Arzneimittel die Ursache des Problems. Über eine Ausnahme berichtete die S.-Apotheke in Düsseldorf. Dort beklagte sich ein Diabetiker über ein reimportiertes Insulin. Die Ampulle war so umfangreich etikettiert, dass die Restmenge nicht mehr abgelesen werden konnte.

Die gemeldeten Schwierigkeiten sind ganz unterschiedlichen Phasen des Versorgungsprozesses zuzuordnen. Sie betreffen sowohl die Verordnung als auch die Distribution und die Anwendung. Hinsichtlich der Anwendung gehören sie überwiegend zu den darreichungsformspezifischen Problemen. Der Systematik dieser DAZ-Serie folgend, wären sie daher in unterschiedlichen Folgen abzuhandeln. Doch wurden die Probleme bei der Diabetikerversorgung hier zusammengeführt, um die Schwierigkeiten dieser wichtigen Zielgruppe besser zu verdeutlichen.

Die dargestellten Fälle zeigen, wie wichtig eine enge Beziehung zwischen Apotheke und Diabetiker für den Erfolg der Therapie ist. Die Informationen über das "richtige" Insulin sollten in der Apotheke vorliegen.

Insbesondere eine langfristige Therapie, die auf einer sorgfältigen Einstellung beruht, sollte auch am Wochenende und bei unerwarteten technischen Problemen weitergeführt werden. Denn so sind medizinisch schwerwiegende und teure Komplikationen zu vermeiden. Daher kommt es oft auf schnelle Hilfe und den unmittelbaren persönlichen Kontakt an. Ein Pen kann nicht über das Telefon erklärt oder gar überprüft werden. Patienten, denen eine telefonische Erklärung helfen würde, kommen wohl auch alleine mit der Bedienungsanleitung zurecht.

Chronikertherapie muss ortsnah sein

Diese Erkenntnisse über die Diabetikerversorgung dürften grundsätzlich auch auf andere Patienten mit chronischen Krankheiten zu übertragen sein. Die Probleme, die beispielsweise mit Asthma-Dosieraerosolen auftreten können, unterscheiden sich pharmazeutisch von den Sorgen der Diabetiker, doch aus der Perspektive des Versorgungsprozesses ähneln sich die Strukturen bei den chronischen Krankheiten. Stets geht es darum, eine langfristige komplexe Therapie mit erklärungsbedürftigen Arzneistoffen oder Arzneiformen möglichst konsequent durchzuführen.

Chronisch Kranke sind offensichtlich nicht so einfach zu versorgen, wie dies oft behauptet wird. Wahrscheinlich brauchen sogar gerade die Chroniker mehr als manche andere Patienten einen schnellen und ortsnahen Service, um folgenschwere Therapieversager zu verhindern.

Wer das Pech hat, an einem Feiertag oder am Wochenende Hilfe zu brauchen, kann leicht in Schwierigkeiten geraten.

Die Verordnung des falschen Insulins ist das häufigste arzneimittelbezogene Problem, das in Apotheken bei der Diabetiker-Versorgung auffällt.

Die dargestellten Fälle zeigen, wie wichtig eine enge Beziehung zwischen Apotheke und Diabetiker für den Erfolg der Therapie ist.

Wahrscheinlich brauchen gerade die Chroniker mehr als manche andere Patienten einen schnellen und ortsnahen Service, um folgenschwere Therapieversager zu verhindern.

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