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Herz-Kreislauf-Krankheiten: Antithrombotika – von Naturstoffen zu Syntheti

Trotz der hohen Inzidenz thromboembolischer Erkrankungen standen lange Zeit eher unspezifisch wirkende Naturstoffe zur Verfügung. Seit einigen Jahren drängen nun ganz neue Arzneistoffe in die Therapie dieses Krankheitsbildes, das in den westlichen Industrienationen zu den häufigsten Todesursachen gehört. Auf der Vortragsveranstaltung der DPhG am 4. Juni in München gab Prof. Dr. Susanne Alban, Abteilung Pharmazeutische Biologie der Universität Kiel, einen detaillierten Überblick über die Entwicklung altbekannter und neuester Antithrombotika.

Jeder zweite Patient mit einer kardiovaskulären Erkrankung ist noch immer von einem tödlichen thromboembolischen Ereignis bedroht. Statistisch kommen auf 1000 Krankenhauspatienten auch heute noch durchschnittlich 10 Lungenembolien, 2 mit tödlichem Ausgang – Zahlen, hinter denen sich individuelles Leid und Belastungen für das Gesundheitssystem verbergen.

Zufallstreffer Dicumarol ...

Über lange Zeit standen zur Behandlung und Prophylaxe thromboembolischer Erkrankungen nur die als Vitamin K-Antagonisten wirkenden Cumarine und das Heparin zur Verfügung. Beide Stoffklassen sind dem Zufall zu verdanken ("serendipity").

Dicumarol wurde 1922 als Ursache erkannt, dass Rinder nach dem Fressen von faulendem Süßklee (Hedysarum) an inneren Blutungen starben. Es hemmt, wie auch die daraus entwickelten Derivate des 4-Hydroxycumarins, indirekt die Biosynthese der Gerinnungsfaktoren in der Leber.

Die oralen Antikoagulanzien Phenprocoumon (Marcumar) und Coumadin (Warfarin) sind nach wie vor – schon aus Kostengründen und trotz einiger Begleitunannehmlichkeiten (Wechselwirkungen, schlechte Steuerbarkeit u. a.) – die am häufigsten verwendeten Antikoagulanzien zur Langzeit-Primär- und -Sekundärprophylaxe.

... und Heparin

Heparin wurde 1916 – auch unbeabsichtigt – aus Hundeleber isoliert und in den Dreißigerjahren als langkettiges, sulfatiertes Polysaccharid identifiziert. Es war damals schon lange im klinischen Einsatz, aber erst 1973 konnte sein vielschichtiger Wirkungsmechanismus aufgeklärt werden. Es hemmt sowohl den Gerinnungsfaktor Xa als auch das Thrombin, indem es die Wirkung der "Gerinnungsbremse" Antithrombin III (AT III) wie ein "Bremskraftverstärker" unterstützt.

Unfraktioniertes Heparin (UFH) ist zwar sehr effizient, weist aber gravierende Nachteile auf: Es kann nur parenteral appliziert werden, hat eine sehr kurze Wirkzeit und ist schwer genau zu dosieren. Als großes, negativ geladenes Molekül bindet und interagiert es mit vielen körpereigenen Strukturen (Plasmaproteinen, Plättchen etc.). Es kann eine Osteoporoseneigung verstärken und zum lebensbedrohlichen Abfall von Thrombozyten führen (Heparin-induzierte Thrombozytopenie = HIT).

Niedermolekulare Heparine

Als sich herausstellte, dass fraktionierte, niedermolekulare Heparine (NMH) ihre antithrombotische Wirksamkeit bewahren, setzten diese sich in den späten Achtzigerjahren immer mehr durch. Die Degradationsmethoden zu ihrer Gewinnung unterscheiden sich zwar von Firma zu Firma, folgerichtig auch ihre chemischen Parameter.

Trotzdem weisen alle – in Deutschland sind Certoparin, Enoxaparin, Nadroparin, Tinzaparin zugelassen – wichtige Gemeinsamkeiten auf:

  • Sie sind nahezu vollkommen bioverfügbar (kaum Bindungen an andere Strukturen) mit ziemlich konstanter Dosis-Wirkungs-Beziehung, eine dauernde Laborkontrolle ist nicht erforderlich.
  • Ihre Wirkzeit ist wesentlich länger als bei Heparin, daher reicht eine einmalige Tagesdosis (s.c.) meist aus.

Da NMH nur über eine Faktor-Xa-Hemmung wirken, nicht aber (wie das langkettige Heparin) auch an das Thrombin binden, sind Heparin-spezifische Nebenwirkungen wie HIT und Blutungsneigungen reduziert, aber nicht ausgeschaltet. Denn nach wie vor stellen sie ein uneinheitliches, polydisperses Molekülgemisch dar.

1986 wurde Nadroparin (Fraxiparin®) als erstes NMH zur Prophylaxe venöser thromboembolischer Erkrankungen (VTE) zugelassen und sein Einsatz später auf die Prophylaxe im Hochrisikobereich der orthopädischen Chirurgie und von Multitraumata ausgedehnt. Seit Mitte der Neunziger Jahre darf es auch zur Therapie tiefer Beinvenenthrombosen angewendet werden. Derzeit wird der Einsatz von NMH u. a. in der Onkologie, Neurochirurgie, beim ischämischen Schlaganfall und bei Bypass-Operationen klinisch geprüft, ihre Zukunftsperspektiven sind laut Alban vielversprechend.

Ressourcenprobleme

All diesen Verbindungen gemeinsam ist ihre Herkunft aus tierischem Material. Solche bergen immer ein gewisses Kontaminationsrisiko und sollen daher allmählich aus Vorsichtsgründen ("precautionary principle") sukzessive aus der Therapie ausgeklammert werden. Zudem tut sich immer mehr ein Ressourcenproblem auf. Seit der BSE-Krise werden Heparine (UFH und NMH) nur noch aus Schweinedarm-Mukosa gewonnen, der Bedarf kann kaum noch gedeckt werden.

Neue Strukturen durch gezieltes Drug Design

Auch die NMH gelten deshalb noch nicht als optimale Antithrombotika, und man sucht weiter intensiv nach spezifischeren, effizienteren und sicheren Arzneistoffen. Neue Wege eröffnet dazu das Drug Design: Innerhalb der Gerinnungskaskade werden Angriffspunkte gesucht, die als Targets für maßgeschneiderte Antikoagulanzien dienen können.

In Frage kommen z. B. die Verstärkung endogener Inhibitoren oder die direkte Hemmung der Gerinnungsaktivierung, des Thrombins oder der Thrombinsynthese. Die meisten Ansätze befinden sich noch im vorklinischen Stadium.

Als direkter Thrombin-Inhibitor wirkt der Naturstoff Hirudin aus dem Speichel des Blutegels, der inzwischen auch gentechnisch produziert wird. Rekombinantes Hirudin (Desirudin = Revasc®) und das synthetische Hirudin-Analogon Bivalirudin stehen seit einigen Jahren zur Behandlung von HIT-gefährdeten Patienten und für eingeschränkte Indikationen zur Verfügung.

Erstes Vollsynthetikum

Als Meilenstein innerhalb dieser Forschungen kann nach Prof. Albans Meinung die Einführung von Fondaparinux angesehen werden, dem ersten selektiven Faktor-Xa-Inhibitor. Es ist ein vollsynthetisch gewonnenes sulfatiertes Pentasaccharid mit einer Katalysator-ähnlichen, hundertfach höheren Hemmung des Gerinnungsfaktors Xa. Es wird vollkommen resorbiert, nach 3 bis 4 Tagen kann sich ein Steady-State-Plasmaspiegel einstellen.

Gegenüber den Heparinen besitzt es den Vorteil, als Totalsynthetikum keiner Kontamination ausgesetzt zu sein. In gewährleisteter Chargenkonformität kann es eindeutig dosiert werden, seine Eliminations- und Wirkzeitzeit ist um ein Vielfaches höher als die der NMH, Laborkontrollen sind nicht notwendig.

Da Fondaparinux keine unspezifischen Bindungseigenschaften mehr aufweist, sind Kreuzreaktionen bei HIT-Patienten bisher nicht beobachtet worden. In vier internationalen Studien an 7000 Patienten mit identischem Design und gleichen Endpunkten wird derzeit der therapeutische Einsatz von Fondaparinux geprüft.

Weitere vielversprechende synthetische Peptide und Oligosaccharide, u. a. Ximelagatran als erster oral verfügbarer Thrombininhibitor, befinden sich bereits "in der pipeline" vor der Zulassung, so die Referentin. All diese Entwicklungen lassen einen eindeutigen Paradigmenwechsel auf einem Gebiet erkennen, das lange von unspezifisch wirkenden Arzneistoffen tierischen Ursprungs dominiert wurde.

R. Seitz

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