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Außenansicht: Positivliste – Das Urteil der "Neun Weisen"

Wem soll die Positivliste, die alle Medikamente umfasst, die von der gesetzlichen Krankenversicherung in Zukunft bezahlt werden, eigentlich etwas bringen? Den Kassen, den Ärzten, den Patienten? Noch im Januar meinte die für unsere Gesundheit zuständige Ministerin hierzu, dass die Liste die Transparenz des Arzneimittelangebots und die Qualität der Arzneimittelversorgung verbessern werden könne. Denn die Liste, so ihre Begründung, berücksichtige alle Arzneimittel, die nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis für eine sachgerechte Behandlung, Prävention oder Diagnostik geeignet seien. Aber auch Präparate aus der Erfahrungsmedizin (Phytotherapeutika, Homöopathika und anthroposophische Arzneimittel) sollten dazu gehören. Bravo! Eine Liste also für Ärzte und Patienten. Den einen zur Erleichterung der Behandlung, den anderen zum Nutzen.

Nun soll die Liste plötzlich auch als Einsparinstrument dienen (zusätzlich zur Qualitätsstabilisierung oder anstatt?), denn nach "Schätzungen aus Fachkreisen" sind mit ihr jährliche Einsparungen von rund 800 Millionen Euro zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung zu erzielen. Also auch eine Liste für die Krankenkassen. Klar, wenn die Kassen leer sind, muss etwas geschehen.

Für alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens gilt: Wenn nicht alles machbar ist, muss man Prioritäten setzen. Für die Verschreibung von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung bedeutet das: Man muss ausgrenzen, die Spreu vom Weizen trennen. Die wichtigen Mittel werden erstattet, die weniger wichtigen nicht.

Was sind wichtige Mittel? Solche, mit denen die Risikofaktoren wichtiger Krankheiten wirksam behandelt werden können und die gezeigt haben, dass die Behandlung mit ihnen einen relevanten Nutzen für den Patienten besitzt. Was sind wichtige Krankheiten? Solche wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs, an denen wir vorzeitig sterben können. Was ist relevanter Nutzen? Einer, der einen durch das Medikament gesünder und länger leben lässt.

Eigentlich gar nicht so schwer, eine solche Liste zusammenzustellen. Doch nur auf den ersten Blick. Leider weiß man über die Wirksamkeit von Medikamenten sehr viel mehr als über ihren Nutzen. Ob neue Mittel erhöhte Zucker-, Cholesterin- oder Blutdruckwerte zu senken vermögen, ist rasch erkannt. Ob mit diesen Wirkungen aber auch für den Patienten Nutzen verbunden ist, lässt sich erst nach jahrelanger Beobachtung und aufwendigen Studien sagen.

Für viele Medikamente wurden solche Nachweise schon erbracht (evidenzbasierte Studien), für die meisten aber nicht. Und für viele wird dieser Nachweis auch nie möglich sein. Warum also nicht einfach diejenigen aus der Liste verbannen, die den Nutzen noch nicht erbracht haben? Weil das Fehlen des Nachweises von Nutzen bei einem Medikament nicht bedeutet, dass es ihn nicht hat. Von vielen Präparaten, vor allem pflanzlichen, wissen Ärzte, dass sie einen Nutzen haben. Sie wissen es nicht aus Studien, sondern aus überlieferter und selbst gewonnener Erfahrung. Dass auf dieses "Wissen" nicht verzichtet wird und auch Präparate der Erfahrungsmedizin in einem Anhang in die Liste aufgenommen wurden, ist lobenwert. Dass aber eine schier unüberschaubare Vielzahl obskurer und von kaum jemandem beurteilbarer Therapien auf diese Weise das Siegel "wissenschaftlicher" Akzeptabilität erhält, ist weniger gut.

Wenn das Kriterium "therapeutischer Nutzen" also nicht für alle Präparate herangezogen werden kann, wird die Erstellung einer solchen Liste schwierig, um nicht zu sagen problematisch. Denn wer entscheidet dann, was bleiben darf und was nicht? Antwort: die Experten, die Weisen, wie sie auch genannt werden. So auch bei der Positivliste. Sie basiert auf dem Vorschlag einer vom Bundesgesundheitsministerium beauftragten Kommission, die aus neun Experten besteht, die nicht nur ihr fachliches Wissen zur Verfügung stellen, sondern dies auch noch ehrenamtlich tun. Zwar müssen die, die etwas unentgeltlich tun, nicht unbedingt das Richtige tun, aber die Ehrenamtlichkeit kennzeichnet doch ihre Unabhängigkeit.

Kann es also etwas Vernünftigeres geben, als unabhängige Experten die Spreu vom Weizen trennen zu lassen? Eigentlich nicht, doch das Problem liegt bei den Experten selbst. Experten sind nämlich Leute, die sehr genaue Kenntnisse von dem haben, was sie überblicken. Leider überblicken sie nicht sehr viel, ihr Gesichtsfeld beträgt in der Regel nur wenige Grade. Deshalb braucht man bei komplexen Sachverhalten so viele Experten. Neun Fachleute für tausende von Substanzen, Wirkgruppen und Krankheiten ist also etwas wenig.

Und weil das so ist, weil es kaum Experten gibt, die in der Lage sind, den Weizen in der Spreu zu erkennen, die also sowohl etwas von Betablockern als auch von Zubereitungen aus Tollkirschen, Brechnüssen und Knollenblätterpilzen verstehen, werden die einen die Segnungen der pharmazeutischen Industrie und die anderen die von Wald und Flur loben.

Warum sollte nur Viagra eine Chance bekommen, ein Stierhodenextrakt aber nicht? Warum nur Alpha-Glucosidasehemmer und Artischocken-Präparate nicht? Darüber kann man durchaus diskutieren. Wenn es aber – wie in beiden Beispielen – genau umgekehrt ist, der Stierhoden also Viagra vorgezogen wird und der Alpha-Glucosidase-hemmer gegenüber der Artischocke auf der Strecke bleibt, dann ist das irgendwie schwer nachvollziehbar. Sicher, man kann es nicht allen recht machen, aber so sehr daneben liegen mit seinen Empfehlungen muss man nun auch nicht. Vor allem passt dies alles gar nicht zu den Forderungen der heutigen Medizin nach einer evidenzbasierten Therapie und auch nicht zu dem Anspruch von Frau Schmidt, entsprechend dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse die Behandlungsqualität auf hohem Niveau zu erhalten.

Damit kein Irrtum aufkommt: Zwischen den fünf Wirtschaftsweisen und Frau Schmidts Weisengremium für die Gesundheit besteht – was die Überzeugung der Experten von der Richtigkeit ihres Urteils anbelangt – kein Unterschied, wohl aber einer hinsichtlich der Folgen. Denn die Voraussagen der Wirtschaftsweisen richten, wenn sie nicht eintreten, keinen Schaden an, während die Analysen der Gesundheitsweisen, deren Empfehlungen in der Positivliste zum Gesetz erhoben werden sollen, dies sehr wohl tun: Pharmazeutische Unternehmen, ihre Mitarbeiter, die Forschung und mit ihr der therapeutische Fortschritt könnten dies dann auf die eine oder andere Weise zu spüren bekommen. Und sicher auch die Patienten selbst. Noch ist Zeit, die gravierendsten Ungereimtheiten aus der Liste zu eliminieren und möglichen Schaden abzuwenden.

Wem soll die Positivliste, die alle Medikamente umfasst, die von der gesetzlichen Krankenversicherung in Zukunft bezahlt werden, eigentlich etwas bringen? Den Kassen, den Ärzten, den Patienten? Professor Klaus Heilmann befasst sich in seiner Kolumne "Außenansicht" kritisch mit diesem Instrument, dass nun auch zu Einsparungen beitragen soll.

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