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Außenansicht: Wer entscheidet, was der Nutzen eines Arzneimittels ist

Engpässe in der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind Anlass für die Suche nach Einsparpotenzialen. Obwohl die Ausgaben für Arzneimittel nur knapp 16 Prozent aller GKV-Ausgaben (BMG 2002, 12-Monats-Daten) ausmachen, denkt man bei Sparmaßnahmen nach guter alter Sitte zunächst an den Arzneimittelmarkt. Um das Wachstum des Arzneimittelsektors zu bremsen und Belastungen des Marktes mit so genannten Schritt-Innovationen und Analog-Präparaten zu mindern, soll eine so genannte vierte Hürde installiert werden. Ziel ist es, den Markt-Zugang für neue Medikamente zu erschweren.

Nach den Empfehlungen des Runden Tisches soll zusätzlich zu den drei Kriterien "Wirksamkeit", "Unbedenklichkeit" und "Pharmazeutische Qualität" ein weiteres viertes Kriterium eingeführt werden, der "Nutzen". Für den Arzneimittelhersteller bedeutet dies, dass er im Rahmen eines gesonderten Bewertungsverfahrens den Nutzen seines Präparats im Vergleich zu bereits zugelassenen Medikamenten darlegen muss. Nach dem Willen unserer Gesundheitsministerin soll eine Behörde eingerichtet werden, die Preise festlegt und entscheidet, welche zugelassenen Medikamente so nutzbringend sind, dass sie von den Krankenkassen bezahlt werden müssen.

Es soll hier nicht untersucht werden, ob diese Maßnahme überhaupt zu Einsparungen führt, denn auf neue patentierte Arzneimittel entfielen im Jahr 2000 nur etwa 24 Prozent der Arzneimittelausgaben, oder rund vier Prozent der gesamten GKV- Ausgaben. Vielmehr sei der Frage nachgegangen, was unter dem Nutzen eines Medikaments eigentlich zu verstehen ist und wie er nachgewiesen werden kann.

Wovon müssen wir ausgehen?

In den klinischen Prüfungen befindet sich ein Arzneimittel auf dem Prüfstand. Es wird unter laborartigen, nicht unter realen Bedingungen geprüft, denn es müssen strenge Ausschlusskriterien und Sicherheitsmaßnahmen beachtet werden. Auch kann das neue Arzneimittel aus ethischen, zeitlichen und ökonomischen Gründen vor seiner Zulassung nur an einigen tausend (gewöhnlich an nicht mehr als 3000) Menschen erprobt werden.

Was bedeutet das?

Dass die vorklinischen und klinischen Studien die Einführung solcher Medikamente verhindern können, die schwere und häufige Nebenwirkungen haben oder nicht die angestrebten Wirkungen zeigen. Sie erlauben jedoch nicht, seltene Nebenwirkungen eines Medikaments zu erkennen und seinen therapeutischen Nutzen voll zu erfassen. Man darf also nicht annehmen, dass mit dem Beginn der Vermarktung eines neuen Medikaments die Einschätzung seines Risikopotenzials und die Bewertung seines Nutzens abgeschlossen wäre. Vergleichbar mit der Einführung einer neuen Opertionsart beginnt auch mit der Vermarktung eines neuen Arzneimittels ein "Experiment", das an Patienten vorgenommen wird und praktisch nie endet. Es bleibt uns also nichts anders übrig, als mit unvollständigen Daten eine Entwicklung in Gang zu setzen (das Medikament zuzulassen), sorgfältig zu beobachten und aus den hieraus gewonnenen Erkenntnissen zu lernen.

Die heute angestrebte evidenzbasierte Beurteilung des Nutzens eines Medikaments ist somit nur möglich, wenn ausreichende Daten während des täglichen Einsatzes neuer Arzneimittel unter realistischen Bedingungen gesammelt werden. Wie lange dieser Prozess dauert, hängt vom Anwendungsgebiet und der erforderlichen Methodik ab. Man braucht für solche Studien Zeit und sehr viel Geld. Die Frage also, ob ein neues Medikament einen über den Anwendungszweck hinausgehenden Nutzen besitzt, ob also die Senkung erhöhter Cholesterinwerte einen Infarkt verhindert oder das Leben verlängert, kann nun einmal nur durch Langzeitbeobachtungen geklärt, nicht aber zum Zeitpunkt seiner Zulassung durch Handaufhebung von Experten an einem runden Tisch entschieden werden.

Sollte der ministerielle Plan tatsächlich verwirklicht werden, hat Frau Schmidt die Möglichkeit, zwischen zwei Alternativen zu wählen. Entweder sie lässt das neue Medikament unter den bisherigen Bedingungen zu, erstattet es aber den Patienten nicht, dann profitieren die Reichen und leiden die Armen. Oder sie wartet mit der Zulassung, bis der Nutzen nachgewiesen ist, muss dann aber in Kauf nehmen, dass zwischenzeitlich vermeidbare Opfer auftreten. In Großbritannien, wo seit drei Jahren schon getan wird was Frau Schmidt bei uns jetzt tun will, überprüft das National Institute of Clinical Excellence (NICE) neue Arzneimittel auf ihren Nutzenzuwachs im Vergleich zu bereits vorhandenen Präparaten. Die dadurch bedingte zusätzliche Wartezeit von Patienten betrug z.B. bei Medikamenten gegen Brust- und Lymphdrüsenkrebs 15 Monate, gegen Multiple Sklerose 30 Monate.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Betablocker von der amerikanischen Kontrollbehörde FDA erst 1981 zugelassen wurden, nachdem der Wert derartiger Substanzen zur Verhinderung eines Infarkts (Nutzen) in Europa schon seit 1975 anerkannt war. Die FDA musste später zugeben, dass in den sechs Jahren der Zulassungsverzögerung in den USA etwa 100 000 Menschen ihr Leben verloren haben, die länger hätten leben können. Erkennen wir also, dass sich der Nutzen einer medizinischen Innovation meist erst nach langer Beobachtung zeigt, und immer am Patienten selbst.

Klaus Heilmann

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