Pharmazeutische Chemie

G. Folkers et al.Struktur und Wirkung – wo ist

Im letzten Jahrhundert haben sich die Konzepte bei der Entwicklung eines Arzneistoffes grundlegend verändert. Die Zugehörigkeit zu einer chemischen Strukturklasse ist kein zuverlässiges Indiz mehr für den therapeutischen Einsatz. Beispielsweise stellte sich in den Entwicklungsprogrammen für HIV-Proteasehemmer heraus, dass Butyrophenonderivate, therapeutisch verwendet als Neuroleptika, auch ausgezeichnete Inhibitionskonstanten für die Proliferation des HI-Virus aufwiesen. Inzwischen haben sich Start-up-Firmen etabliert, die mit robotisierten Hochleistungstestverfahren "alte" Arzneistoffe auf die Wirksamkeit an neuen therapeutischen Zielstrukturen untersuchen. Überraschenderweise wird man häufig fündig. Als Klassiker für dieses Phänomen könnte man die Acetylsalicylsäure bezeichnen. Warum könnte dieser Sachverhalt Sinn machen, und welche Folgen haben die neuen Befunde für die Praxis?

Früher und heute

Die Pyramide der Findung eines Wirkstoffs ist heute auf den Kopf gestellt. Früher prüfte man potenzielle Arzneimittel direkt in vivo auf ihre Wirksamkeit. Heute stehen am Anfang molekulare Strukturen, wo in vergangenen Tagen klinische oder pharmakologische Beobachtungen am Gesamtorganismus der Ausgangspunkt waren.

Konsequenterweise ist dadurch auch die Erfahrung über die Stoffeigenschaften wie Resorption, Verteilung, Metabolismus und Toxikologie sozusagen der Entdeckung des Wirkprinzips nachgeordnet. Umso wichtiger ist heute das Verständnis auf molekularer Ebene – nicht nur für die Wirkung, die ein Arzneimittel auf sein Zielorgan hat, sondern auch für die Auswirkung des Gesamtorganismus auf das Arzneimittel selbst.

Der Weg zum Ziel

In der Regel erreichen Wirkstoffe ihr Target ("Fachenglisch" für die Zielstruktur eines Arzneistoffes) via Blut. Dies kann durch intravenöse, subkutane, intramuskuläre, orale, transdermale, rektale Verabreichung oder durch Inhalation erfolgen. Damit der Wirkstoff einen biologischen Effekt ausübt, muss er in der minimalen therapeutischen Konzentration, welche in einem gewissen Verhältnis zur Plasmakonzentration des Arzneimittels steht, im Zielgewebe vorliegen. Weiterhin muss die Wirkstoffkonzentration unter der minimalen toxischen Konzentration liegen. Dieser Differenzbereich wird als "therapeutisches Fenster" (Abb. 1) bezeichnet.

Ob eine Verbindung als Medikament geeignet ist, hängt nicht nur von der biologischen Aktivität, der Wechselwirkung mit dem Zielprotein, ab. Vielmehr spielen pharmakokinetische Eigenschaften (Resorption, Verteilung, Metabolisierung, Ausscheidung) eine sehr große Rolle. Dies lässt sich am Beispiel der oralen Gabe eines Medikaments anschaulich darstellen:

Wenn die Arzneiform nach der oralen Applikation den Wirkstoff freigesetzt hat, wird dieser resorbiert (Absorption) und verteilt (Distribution). Die Distribution wird von der Speicherung, Biotransformation (Metabolisierung) und Ausscheidung (Elimination) beeinflusst. Schließlich bindet der Wirkstoff am Wirkort, dem Target. Dies können Rezeptoren, Ionenkanäle, Enzyme und auch Transportproteine sein, an denen er einen Effekt auslöst. Das Resultat ist eine therapeutische Wirkung (Abb. 2), die auch toxisch sein kann. In diesem Zusammenhang muss der plakative Ausspruch von Paracelsus "dosis facit venenum" aus heutiger Sicht differenzierter gesehen werden.

Die orale Verfügbarkeit eines Wirkstoffes ist abhängig von Resorption und First-pass-Metabolisierung. Zuerst kommt es z. B. im Magen zum Zerfall der Arzneiform. Im Dünndarm kann jetzt der Arzneistoff resorbiert und durch die Zirkulation verteilt werden. Mit dem Blut wird der Wirkstoff zunächst über die Pfortader in die Leber transportiert, wo er metabolisiert werden kann. Hier könnte es bereits zu einer Elimination über die Galle kommen. Da alle im Blut befindlichen Verbindungen die Leber passieren, muss die Leberpassage bei allen Betrachtungen zu Arzneimitteln berücksichtigt werden.

Der Wirkstoff unterliegt auf dem Weg vom Ort der Applikation bis zum Wirkort grundsätzlich der Pharmakokinetik mit ihren Parametern Absorption, Distribution, Metabolisierung und Elimination (ADME). Auf diese Weise wirkt der Organismus auf den Arzneistoff, bevor es umgekehrt zur Wirkung des Arzneistoffes auf den Organismus, z. B. an einem Rezeptor, kommt (Pharmakodynamik).

Rule of Five

Für das Design gut resorbierbarer Pharmaka gibt es eine Faustregel, die "Rule of Five", aufgestellt von C.A. Lipinski (Pfizer) und Mitarbeitern: Ein Molekül wird schlecht resorbiert, wenn es

  • mehr als 5 H-Brücken-Donatoren,
  • mehr als 10 H-Brücken-Akzeptoren,
  • eine Molekularmasse größer als 500 und
  • einen log P größer als 5

aufweist. Ausnahmen davon sind Verbindungen, die einen aktiven Transportmechanismus nutzen, wie Antibiotika, Fungizide, Herzglykoside und Vitamine.

Als Maß für die Lipophilie eines Wirkstoffes wird dessen Verteilung zwischen 1-Octanol und Wasser herangezogen. Der Verteilungskoeffizient P ("partition coefficient") kann gemessen oder berechnet werden. Mit Hansch-Substituentenkonstanten können die log P's von verschiedenen Verbindungen miteinander verglichen werden. 1-Octanol mit seiner polaren Kopfgruppe und der aliphatischen Kette ahmt Lipidmembranen nach, Wasser steht für die hydrophile Phase (Abb. 3). So sind Verbindungen mit einem log P kleiner 0 besser in Wasser löslich, Verbindungen mit log P größer 0 dagegen besser löslich in 1-Octanol (s. Kasten "Definitionen").

Noch größere Aussagekraft besitzt der Distributionskoeffizient D ("distribution coefficient"). Er beschreibt die pH-abhängige Verteilung zwischen lipophiler und hydrophiler Phase. Es wird also die Konzentration von ionisierter und nicht-ionisierter Verbindung in 1-Octanol im Verhältnis zu Wasser bestimmt. (Anzumerken ist hierbei, dass P für ein chemisches Individuum [z. B. nicht ionisierbar] gilt. Das heißt, die gängigen Methoden bestimmen eigentlich D.) So passiert eine schwache Säure den Magen in ungeladenem Zustand, kann aber im Darm (pH-Bereich von 6 – 8) als elektrisch geladenes Molekül nur schlecht resorbiert werden.

Bei Salicylsäure stellt sich genau dieses Problem, da sie bei pH 7,4 einen Distributionskoeffizienten von – 1,63, bei pH 1 jedoch einen Wert von etwa 2,2 aufweist. Das heißt, dass sie im stark sauren Milieu des Magens protoniert wird und damit lipophil vorliegt, hingegen bei pH 6 bis 8 im Darm deprotoniert ist und als hydrophiles Molekül die Lipidmembranbarriere schlecht überwinden kann. Die "Rule of Five" trifft bei etwa 90% der Phase-II-Verbindungen zu. Kombiniert man die zwei Parameter Molekularmasse und log P, ist dies sogar zu über 99% der Fall.

Wechselwirkungen mit Rezeptoren

Bindet ein Ligand, ein so genannter first messenger ("erster Bote"), an einen Rezeptor, der in einer Zellmembran verankert ist, wird ein second messenger ("zweiter Bote") freigegeben. Im Signalverlauf wirkt der Rezeptor als Dolmetscher zwischen Zelläußerem und -innerem, er dient als Vermittler der Information. Im Gegensatz dazu setzt ein Enzym das Substrat zu einem Produkt um, wirkt also als Werkzeug.

Der Mechanismus der Wechselwirkung zwischen einem first messenger und seinem Rezeptor wird heute häufig am Beispiel des von Emil Fischer 1894 formulierten "Schlüssel-Schloss-Prinzips" für Enzyme erklärt, wobei er postulierte, dass Enzym und Substrat wie Schlüssel und Schloss zueinander passen müssen (heute wissen wir, dass nach Haldane und Pauling die Komplementarität des Übergangszustandes das Ziel ist).

Ein gutes Beispiel dafür ist die gegenseitige Passform von Retinol in die 3D-Struktur seines Rezeptors (Abb. 4). Beim Sehvorgang wird Retinol aus dem Blut zu Retinal oxidiert und im Inneren eines Proteins, Rhodopsin, gebunden, das sogar Photonen als Liganden benutzt. Rhodopsin ist ein membranintegraler Rezeptor, der mit sieben hydrophoben Helices in der Zellmembran verankert ist (Abb. 5). Er gehört zur Familie der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren und ist Bestandteil einer Signalkette (Abb. 6) für die Informationsübertragung vom Interstitium in die Zelle.

Das Problem der Ähnlichkeit

Die Ähnlichkeit im Wirkstoffbereich basiert auf zwei Phänomenen: Erstens lässt sich beobachten, dass chemisch nicht identische, aber in ihrer sterischen und elektronischen Struktur doch ähnliche Substituenten bei einem Rezeptor offensichtlich die gleiche Änderung verursachen.

In einem Wirkstoffmolekül kann zum Beispiel in der Regel ein Phenylring durch einen Thiophenring ersetzt werden mit höchstens marginalem Aktivitätsverlust. Dieses Phänomen wird als Bioisosterie bezeichnet. Bioisostere sind chemisch oder physikalisch ähnliche Substituenten und Gruppen, die ein weitgehend gleiches biologisches Wirkspektrum erzeugen. Durch bioisostere Modifikationen kann eine Leitstruktur in ihrer Pharmakodynamik, Pharmakokinetik (ADME) und Toxizität beeinflusst werden.

Im Gegensatz zu klassischen Isosteren wie z. B. Kohlenstoff und Silicium, die die gleiche Anzahl an Valenzelektronen besitzen, weisen Bioisostere keine atomaren Übereinstimmungen auf. Bioisostere Paare sind beispielsweise Carbonsäure und Sulfonsäure, Halogen- und Cyanogruppe und auch Pyridin und Nitrophenol.

Die zweite Beobachtung zeigt uns, dass am gleichen Zielprotein (Enzym oder Rezeptor) die gleiche pharmakologische Wirkung von strukturell ganz unterschiedlichen Molekülen mit ganz unterschiedlichen Bindungsmodi ausgelöst werden kann. Dass also die Anatomie der Substrate nicht alles ist, lässt sich am Beispiel der Aldose-Reduktase darstellen. Die Verbindungen Sorbinil und Tolrestat sind strukturell recht unterschiedlich, und dennoch passen sich beide sehr gut in die Bindungstasche des Enzyms ein (Abb. 7). In diesem Zusammenhang spricht man auch von "induced fit", denn bei der Bindung eines Liganden an ein Protein (Enzym oder Rezeptor) treten auch Änderungen in der Konformation des Proteins auf. Es ist somit auch das "Schloss" zu einem gewissen Grad flexibel, wenn der "Schlüssel" eingeführt wird.

Die Ähnlichkeit ist also relativ, und der Vergleich hinkt. Die Metapher bezieht sich bei Arzneistoffen eher auf die Funktion als auf die Struktur, weil funktionell ähnliche Verbindungen nicht notwendigerweise auch strukturell ähnlich sein müssen. Wie man daraus schließen kann, ist dies eine notwendige, aber nicht immer hinreichende Bedingung, um ihr pharmakotherapeutisches Profil beurteilen zu können.

Wie werden Wirkstoffe beurteilt?

Beim strukturellen Vergleich von natürlichem Substrat einerseits und Agonist bzw. Antagonist andererseits stellt man fest, dass Agonisten sehr oft dem natürlichen Liganden ähneln. Antagonisten müssen das nicht, da sie entweder in beliebiger Geometrie die Bindungstasche blockieren oder sogar an anderer Stelle als der natürliche Ligand binden und dadurch die Konformation des Proteins so verändern, dass das Substrat nicht mehr umgesetzt werden kann (allosterische Hemmung).

Nehmen wir als einfaches Beispiel die Vorgänge an den Synapsen der Neuronen. Dort liegen beispielsweise die Zielgebiete der Antihypertensiva und Antidepressiva. Durch den Vergleich von natürlichen Liganden und verschiedenen Arzneistoffen (Abb. 8) mit stimulierender bzw. hemmender Wirkung versucht man Aussagen zu treffen, welche strukturellen Anforderungen Agonisten und Antagonisten erfüllen müssen. So weisen z. B. die direkten Sympathomimetika Isoprenalin und Dobutamin zusätzlich zur Grundstruktur des Adrenalins lipophile Reste auf. Clonidin und das indirekte, durch Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin wirkende Sympathomimetikum Cocain zeigen dagegen keine strukturelle Übereinstimmung mit Adrenalin.

Weil sie nicht an der gleichen Bindungsstelle binden müssen, benötigen Antagonisten keine Ähnlichkeit mit der Grundstruktur des Agonisten. Der α1-Adrenozeptor-Antagonist Prazosin weist statt der Catecholamin- eine Chinazolin-Grundstruktur auf. Auch die Neuronen-Blocker Reserpin, ein Rauwolfia-Alkaloid, das die Speicherung der Catecholamine unterbindet, und Guanethidin, welches ihre Freisetzung hemmt, haben keinerlei Übereinstimmung mit der Catecholamin-Grundstruktur.

Für die strukturelle Beurteilung des Wirkstoffs sind somit drei Parameter von Bedeutung:

  • seine direkte Wechselwirkung mit der Zielstruktur,
  • seine Lokalisierung in einem bestimmten Gewebe und
  • seine Fähigkeit, die notwendige Wirkkonzentration zu erreichen.

Um Struktur-Wirkungs-Beziehungen erklären zu können, genügt es also nicht, die Struktur des Wirkstoffes und des Wirkortes zu kennen; es ist auch notwendig, die Konformationsänderungen des Wirkortes sowie seine Verschaltung in der biochemischen Regulation des Organismus, die meist durch Rückkopplungsmechanismen gesteuert wird, verstanden zu haben.

Nichtvorhersehbarkeiten

Bei heutiger Kenntnis der Ligand-Rezeptor-Wechselwirkungen muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass die chemische Struktur der Liganden und die pharmakologischen Effekte auf der Ebene von Gewebe oder Organismus so korrelieren, dass eindeutige Vorhersagen möglich sind. Dieser Rest an Nichtvorhersehbarkeiten des Wirkprofils bedingt einen Rest von Unwägbarkeiten bei der Beurteilung der Toxizität eines Stoffes.

So gesehen ist Toxizität

  • sowohl eine Funktion molekularer Targets, d. h. der Rezeptoren oder Enzyme,
  • als auch eine Folge des Metabolismus, d. h. der Abbaufähigkeit des Cytochrom-P450-Systems, oder der Akkumulation im Fettgewebe.

Wie diese Parameter jedoch zusammenwirken, hängt wiederum von der genetischen Determination des Individuums und seiner Lebensweise ab. So wird in der Pharmazie sicherlich "Pharmacogenomics" eines der wichtigsten Forschungsgebiet für Arzneimittel sein und bleiben, weil in Zukunft weitere individuelle Einflussfaktoren für die Zielstrukturen greifbar sein werden.

Die Konzepte der Arzneistoffentwicklung haben sich grundlegend verändert. Die Zugehörigkeit zu einer chemischen Strukturklasse ist kein zuverlässiges Indiz mehr für den therapeutischen Einsatz. Denn Struktur-Wirkungs-Beziehungen sind nicht starr, sondern dynamisch. Bei der Interaktion von Ligand und Rezeptor spielen die Konformationsänderungen der Proteine eine große Rolle. Bestimmte chemische Strukturen können an ganz unterschiedliche Rezeptoren binden. Deshalb werden viele "alte" Arzneistoffe an neuen therapeutischen Zielstrukturen mit Erfolg auf ihre Wirksamkeit getestet.

Rule of Five Die Rule of Five* ist für das Design gut resorbierbarer Arzneistoffe wichtig. Sie besagt: Ein Molekül wird schlecht resorbiert, wenn es

  • mehr als 5 H-Brücken-Donatoren,
  • mehr als 10 H-Brücken-Akzeptoren,
  • eine Molekularmasse > 500 und
  • einen log P > 5 aufweist.

Ausnahmen

  • Verbindungen mit einem aktiven Transport-Mechanismus (Antibiotika, Fungizide, Herzglykoside, Vitamine)

*Sie wurde so genannt, weil die Zahl 5 oder deren Produkte (10, 500) in jedem Satz vorkommen.

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