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Pharmakoepidemiologie: Hintergründe der Verordnung von Arzneimitteln

Die 9. Jahrestagung der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie (GAA) fand am 30. November 2002 in Dresden statt und wurde als Satellitenprogramm des 10. Jahrestreffens der Europäischen Public Health Gesellschaft (EUPHA) durchgeführt. Damit sollte die Relevanz der Arzneimittelanwendungsforschung für das öffentliche Gesundheitswesen zum Ausdruck gebracht werden. Präsident des EUPHA-Meetings war Prof. Dr. Dr. Wilhelm Kirch (Klinische Pharmakologie, Universität Dresden). Prof. Dr. Gerd Glaeske (Bremen) und Prof. Dr. Jürgen Frölich (Hannover) hatten den Hauptteil der GAA-Tagung organisiert.

Aktuelles aus der Arzneimittelanwendungsforschung

In die Thematik des Drug Utilisation Research führte Prof. Dr. Joerg Hasford (München) ein. Das Spektrum reicht von Untersuchungen auf der Basis von Globaldaten der GKV (GKV-Arzneimittelindex) und versichertenbezogenen Daten (GEK, Versichertenstichprobe AOK Hessen/KV Hessen) über Multizenterstudien (z. B. zur Verordnungsweise psychotroper Mittel), Patientenbefragungen, Pharmakotherapiezirkel zur Optimierung der Verordnungsqualität bis hin zu Projekten der Pharmazeutischen Betreuung, die auf das Erkennen und Verhindern arzneimittelbezogener Problem zielen. Hasford wies darauf hin, dass sich nur wenige Studien mit dem Arzneimittelgebrauch bei Migranten und Schwangeren befassen, ebenso liegen nur wenig Daten zum Bereich der Selbstmedikation oder Komplementärmedizin vor.

Welche Informationen aus personenbezogen erhobenen Verordnungsdaten durch Routineauswertungen gewonnen werden können, stellte Dr. Jesper Hallas (Dänemark) anhand der pharmakoepidemiologischen Datenbasis der Universität Odense dar, die anonymisierte Versicherten- und Verordnungsdaten der Bevölkerung von Fünen enthält. Die Beispiele umfassten Prävalenz- und Inzidenzschätzung zur medikamentösen Behandlung, Angaben über Behandlungsdauer für verschiedene Arzneimittelgruppen und Hinweise zur Intensität des Verbrauchs, z. B. anhand der Lorenzkurve, mit der für jede Indikationsgruppe die Anteile an "high oder low utilisern" visualisiert werden können.

Prof. Dr. Flora Haaijer-Ruskamp (Groningen, NL) erläuterte am Beispiel der Asthmaerkrankung, welche methodischen Schwierigkeiten bei der Bildung erkrankungsspezifischer Indikatoren auf der Basis von Verordnungsdaten auftreten. So lassen sich beispielsweise nicht alle Asthmapatienten anhand einer Antiasthmatika-Verordnung identifizieren. Auch das Auftreten einer Exazerbation ließ sich anhand spezifischer Arzneimittel (z. B. Antibiotika) – wie ein Abgleich mit den ärztlichen Diagnosen und der klinischen Untersuchung der Patienten zeigte – nicht hinreichend sichern.

Haaijer-Ruskamp empfahl deshalb, die auf der Basis der Verordnungen konstruierten Indikatoren in erster Linie für ein Screening oder zur Darstellung der Verordnungsqualität heranzuziehen. Bei Aussagen zur Behandlungsqualität sollten zu- gleich die Validität der herangezogenen Indikatoren nachgewiesen und die Grenzen der Interpretation der Ergebnisse benannt werden.

Asthma und COPD waren auch Untersuchungsgegenstand einer Studie aus dem Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (Prof. Bertram Häussler, Berlin), die von Dr. Holger Gothe und Dr. Ariane Höer vorgestellt wurde. Auf der Basis von Daten einer Krankenkasse, d. h. mithilfe der Dokumentation von Verordnungen, Krankenhausaufenthalten und Arbeitunfähigkeitsbescheinungen, sollten die Behandlungsprävalenz, der Schweregrad und der Erfolg der Behandlung bei Asthma und COPD abgebildet werden. Die Definition der Asthma/COPD-Patienten erfolgte über die Medikation. Die ermittelten Prävalenzen für medikamentös behandeltes Asthma bzw. COPD stimmten mit den in der Literatur diskutierten Prävalenzschätzungen gut überein. Der Schweregrad wurde anhand der Stufentherapie der Medikation abgebildet. Die Möglichkeiten, den Behandlungserfolg auf der Basis der Daten darzustellen, wurde anschließend diskutiert.

Interaktionen von Arzneimitteln

Inwieweit GKV-Daten auch zur Analyse potenzieller Interaktionen genutzt werden können, soll ein Projekt der Medizinischen Hochschule Hannover zeigen, das Ina Scheuer und Prof. Jürgen Frölich konzipierten. Einer internationalen Studie zufolge sind schätzungsweise 6,7% der Krankenhausaufnahmen durch eine ernsthafte UAW bedingt.

Anhand von Verordnungsdaten zweier Krankenkassen wurde das Ausmaß der gleichzeitigen Verordnung problematischer Kombinationen (z. B. Moclobemid und Antidepressiva; kaliumsparende Diuretika und ACE-Hemmer) untersucht. Weitere Analysen werden sich auf die Häufigkeitsverteilungen nach Alter und Geschlecht, auf verordnende Arztgruppen und – soweit der Medikation zuzurechnen – auf die Folgen der Therapie beziehen (Krankenhausaufenthalte, zusätzliche Eingriffe, Todesfälle, Kosten).

gamsi: GKV-Arzneimittel-Schnellinformation

Auswertungen von Routinedaten sollen Transparenz über den Arzneimittelverbrauch herstellen und Ärzten eine Rückmeldung über ihre Verordnungsweise geben. Gisbert Selke (Bonn) berichtete über die Arbeit des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) in diesem Bereich: Aus den Daten, die die Apothekenrechenzentren bei der Abrechnung durch das Scannen der Rezepte erzeugen, werden die Informationen Pharmazentralnummer, Fachgruppe und Region des Arztes herausgefiltert und für alle Krankenkassen beim WIdO zusammengeführt.

Nach der Ergänzung artikelbezogener Informationen umfasst diese monatlich erstellte GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (www.gamsi.de) unter anderem folgende Darstellungen nach Regionen:

  • Gesamtverordnungen und -umsatz (auch nach Fachgruppen),
  • kostenintensive Indikationsgruppen und Produkte,
  • Anteil der Generika, Analogpräparate und Spezialpräparate. Diese Vollerhebung wird ab dem Auswertungszeitraum 2002 die bisher genutzte Stichprobe für den GKV-Arzneimittelindex ablösen.

    Das von der AOK eingesetzte Auswertungsprogramm Actrapid® beinhaltet zusätzlich das Alter und Geschlecht der Versicherten, sodass auch diese Aspekte dargestellt werden können. Beide Analysen dienen den Krankenkassen dazu, Probleme bei der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung zu erkennen.

    Ein weiteres Programm des WIdO, pharmPRO®, nutzt die AOK für die Beratung einzelner Ärzte. Hier ist der Bezug der Verordnungen zu den Ärzten und den (anonymisierten) Patienten nicht aufgehoben, sodass mit Zustimmung der Ärzte Einzelanalysen (Verordnungsprofile einzelner Patienten für ein Quartal) erstellt werden.

    Das Biometrische Zentrum Nord analysiert mit dem Programm "PLATO" die von einer Krankenkasse bereitgestellten Daten. Die gespeicherten Verordnungen können auf der Ebene eines Arztes, eines Patienten, einer Indikationsgruppe, eines Wirkstoffs oder eines Produkts abgerufen werden. Während die Krankenkasse die Gesamtergebnisse nutzen kann, um Problembereiche zu erkennen, dienen die arztbezogenen Ergebnisse zur Beratung einzelner Ärzte.

    Die IfAp GmbH, ein Dienstleistungsunternehmen für Ärzte und deren Verbände, erstellt auf der Basis der Verordnungen, die Ärzte mithilfe ihrer Praxis-EDV ausstellen, den Therapiereport® (www.therapiereport.de). Monatlich erhalten die Ärzte per Fax eine Darstellung für ihre Praxis, auch im Vergleich mit den Ärzten aus der Fachgruppe, soweit sie dem IfAp Daten zur Verfügung stellen. Ausgewiesen werden unter anderem:

  • Zahl der behandelten Fälle,
  • Zahl der mit Arzneimitteln behandelten Fälle,
  • Zahl und Kosten der Verordnungen,
  • Richtgrößensumme der Praxis,
  • Indikationsgruppen. Von besonderem Interesse ist hierbei für die Ärzte auch die Prognose bezüglich der Fälle, Verordnungen und Kosten für das gesamte Jahr.

    Kurzvorträge

    Weitere Forschungsprojekte wurden in Kurzvorträgen vorgestellt:

  • Christiane Buchardt (Institut für Klinische Pharmakologie, Universität Jena) untersucht die Relevanz von genetischen Polymorphismen arzneimittelmetabolisierender Enzyme für unerwünschte Arzneimittelwirkungen.
  • Dr. Elisabeth Bronder (Institut für Klinische Pharmakologie, Charité Berlin) stellte Design und Methodik einer vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte geförderten Studie vor: Unerwünschte Arzneimittelwirkungen und die Entwicklung von seltenen, schweren Blutzellerkrankungen wie akute Agranulozytose, Immunthrombozytopenie, immunhämolytische Anämie, aplastische Anämie, thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP), hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) sowie Heparin-induzierte Thrombozytopenie vom Typ II (HIT-II).
  • Dr. Katja Taxis (Institut für Pharmazeutische Biologie, Universität Tübingen) fand bei 14% der Patienten eine Veränderung der Arzneimitteltherapie nach Krankenhausentlassung, die in erster Linie mit Kosten, aber auch mit einer mangelnden Compliance auf Seiten der Patienten begründet wurde.
  • Ulf Maywald (Institut für Klinische Pharmakologie, Universität Dresden) stellte ein Projekt in Dresden vor, das Patienten eine unabhängige telefonische Arzneimittelberatung anbietet. 40% der Anfragen haben Nebenwirkungen zum Thema.
  • Prof. Hans-Ulrich Melchert (Robert Koch-Institut, Berlin) berichtete über den ersten Deutschen Gesundheitssurvey für Kinder- und Jugendliche (www.kinder-jugendgesundheit21.de), der 20 000 Teilnehmer umfassen soll. Mithilfe eines standardisierten Fragebogens wird der Arzneimittelgebrauch der letzten sieben Tage erhoben. Ein Schwerpunkt der Untersuchung wird auf Arzneimitteln mit Abhängigkeitspotenzial liegen.

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