Arzneiverordnungsreport: Ärzte: Report ist reine Theorie

Bonn (im). Ärzte verordnen zunehmend neuere, zumeist teuere Arzneimittel. Dieser Trend, im Fachjargon als "Strukturkomponente" bezeichnet, lag im vergangenen Jahr bei plus 6,6 Prozent, was zu Mehrausgaben von 1,4 Milliarden Euro zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen führte. Am 30. September stellten Prof. Dr. Ulrich Schwabe und Dr. Dieter Paffrath den Arzneiverordnungsreport 2003 (AVR) in Berlin vor. Ärztevertreter Dr. Leonhard Hansen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bezeichnete den Report als "sinnvolles, aber rein theoretisches Werk ohne Praxisbezug". Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) wertete das Buch als Beleg für vorhandene Einsparpotenziale im Arzneisektor.

Jedes Jahr stellen Schwabe, Pharmakologe an der Universität Heidelberg, und Mitherausgeber Paffrath, Köln, den AVR vor, der ein großes Echo in den Publikumsmedien zumeist mit dem Hinweis auf Milliarden an Einsparmöglichkeiten findet. Genau genommen ist das Werk zweigeteilt, in den Arzneimittelindex der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), der somit statistische Zahlen zu dem Segment enthält, das zu Lasten gesetzlicher Kassen verordnet wird, und in eigene Bewertungen von Schwabe und Paffrath. Träger des GKV-Arzneiindexes sind die Kassen, die KBV und die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, was den großen Wert der Datensammlung ausmacht. Diese Organisationen liefern die Verordnungsdaten an das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen zur Aufbereitung.

In diesem Jahr basiere der Report erstmals auf einer vollständigen Erfassung aller 888 Millionen GKV-Verordnungen, hieß es. Hinzu kommen im AVR Analysen der Herausgeber. Sie beziffern mögliche Einsparungen im Arzneisektor auf 4,1 Milliarden Euro, die sie wie jedes Jahr bei den Generika, Me-too-Präparaten und so genannten umstrittenen Medikamenten ausmachen. Laut Pharmakologe Schwabe sind die Arzneiumsätze für GKV-Patienten um 6,5 Prozent auf 22,7 Milliarden Euro gestiegen. Der Umsatz habe um 1,4 Milliarden Euro gemessen am Vorjahreszeitraum zugelegt.

Die Hitliste

Nach seinen Worten entfielen 17 Prozent der Arzneiausgaben auf die 25 umsatzstärksten Präparate, die ihren Umsatz um knapp 600 Millionen Euro gesteigert hätten. Der Blick in den AVR zeigt zwei Statine, die die Hitliste der umsatzstärksten Arzneimittel anführen (Atorvastatin vor Simvastatin), gefolgt von Fentanyl, Erythropoietin, Pantoprazol und Amlodipin. Auf Rang sieben liegt die Kombination der beiden Wirkstoffe Salmeterol und Fluticason, es folgen Olanzapin, humanes Insulin sowie Metoprolol auf Platz 10. Allein durch den Patentablauf des Cholesterinsenkers Simvastatin in diesem Jahr könnten 700 Millionen Euro jährlich durch Generika gespart werden, meint der Heidelberger Wissenschaftler.

Allerdings attestierte Schwabe den niedergelassenen Ärzten, in den vergangenen Jahren bereits sehr viel gespart zu haben, insgesamt rund 2,8 Milliarden Euro bei Generika und bei "umstrittenen" Arzneimitteln drei Milliarden Euro. Der Heidelberger Pharmakologe schlug vor, den Einfluss der pharmazeutischen Industrie zurückzudrängen. So solle es beispielsweise identische Arzneipreise in Krankenhausapotheken und Offizinen geben, "um das Anfüttern mit teueren Originalpräparaten zu erschweren", so Schwabe. Darüber hinaus wurde eine industrieunabhängige Information über Medikamente an Ärzte angeregt.

Ärzte: Sparen um jeden Preis negativ

Das Sparen an Arzneimitteln um jeden Preis, das zu Lasten der Versorgungsqualität gehe, lehnte Dr. Leonhard Hansen ab. Der Vizechef der KBV, die die niedergelassenen Mediziner vertritt, nannte den AVR ein theoretisches Werk ohne Praxisbezug. Die hohe, rein theoretische Summe von angeblich vier Milliarden Einsparung bei Arzneien diene einem schlechten Ziel, sie stempele die Ärzte als Sündenböcke. Dagegen wehrte sich der Arzt, der auch Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein ist. Allein durch den vermehrten Einsatz von Generika hätten die Mediziner 2001 rund 2,3 Milliarden Euro eingespart, 2002 weitere 146 Millionen. Seit langem gingen die Ausgaben für "umstrittene" Arzneimittel sowie für Analogpräparate zurück, während im Gegenzug die Reimporte stiegen.

Eine Schwäche sah Hansen im AVR, dass der AVR nicht zwischen "guten" und schlechten" Me-too-Präparaten unterscheide. In Leitlinien empfohlene Arzneimittel tauchten genauso auf wie generikafähige - und somit preiswerte - Medikamente oder nicht klassifizierte. Die Kassen rief der KBV-Vize zu mehr Informationen für die Patienten rund ums Arzneimittel auf. Würde nur am Medikament gespart, bliebe die medizinische Qualität auf der Strecke, warnte Hansen. Schließlich gebe es bei vielen Indikationen wie zum Beispiel Alzheimer sogar einen Mehrbedarf an Arzneimitteln in Milliardenhöhe.

Nach Ansicht der Bundesgesundheitsministerin ist "nicht jede Pille", die verordnet wird, wirklich notwendig. Vieles könnte durch kostengünstigeres ersetzt werden. Der AVR bestätige die Notwendigkeit ihrer Gesundheitsreform, so Ulla Schmidt. Sie zählte die bekannten Einschnitte im Arzneisektor sowie die neue Honorierung der Apotheker und den geplanten Versandhandel mit Arzneimitteln auf.

Ulrich Schwabe, Dieter Paffrath: Arzneiverordnungsreport 2003, Springer Verlag Berlin, Heidelberg. 2004, 1050 S. ,29,95 Euro, ISBN 3-540-40188. Zu beziehen über die Buchhandlung des Deutschen Apotheker Verlags, Postfach 10 10 61, 70009 Stuttgart, Tel. (0711) 2582 290.

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