Ernährung

aid e. V.Essen und Psyche

Wer Hunger hat, isst, und wer satt ist, hört auf zu essen. Das wäre zwar richtig, ganz so einfach ist es aber nicht. Wir warten niemals so lange mit dem Essen, bis uns schlecht vor Hunger ist, und futtern auch nicht so lange, bis uns schlecht wird. Irgendwo zwischen den beiden Extremen liegen Start- und Stoppsignal zum Essen. Und die gilt es wahrzunehmen. Das ist ziemlich schwierig, weil einerseits die Körpersignale nicht direkt messbar sind, andererseits heute vielfältige psychologische Faktoren die physiologischen überlagern. Essen ist eben nicht nur die Aufnahme von Kalorien und Nährstoffen, sondern ein komplexer psychophysiologischer Vorgang.

Die psychologischen Faktoren regulieren heute sogar weit mehr die Nahrungsaufnahme als die physiologischen. Wen quält in unserem Schlaraffenland denn noch echter Hunger, d. h. das unbehagliche, oft auch schmerzhafte Verlangen nach irgend etwas Essbarem? Höchstens bei radikalen Reduktionsdiäten, wo der Energiebedarf bewusst nicht gedeckt wird, kann man Hunger noch wirklich wahrnehmen. Im Allgemeinen geben wir dem Hungergefühl jedoch keine Chance. Wir essen bereits, bevor ein physiologischer Mangel oder ein intensiv erlebtes Hungergefühl eintritt. Das liegt nicht zuletzt an unserer Vorliebe für viele kleine Mahlzeiten, die ernährungsphysiologisch durchaus erwünscht sein können. Psychologen werten den Trend zu mehreren kleinen Mahlzeiten aber eher negativ. Sie kritisieren mit Recht, dass wir deshalb heute nicht mehr die physiologischen Start- und Stoppsignale zum Essen wahrnehmen können. Tatsächlich fällt es vielen Menschen leichter, nichts zu essen als nur ein bisschen. Also doch lieber nur wenige Mahlzeiten?

Hunger und Appetit – die Startsignale zum Essen

"Hm, wie das duftet, da krieg ich richtig Hunger", "schon 12 Uhr, Zeit fürs Mittagessen", "ohne Frühstück hab ich ein Loch im Bauch", "nach dem Sporttraining hab ich immer einen Bärenhunger".

Diese Sätze reichen aus ... und alle fangen an zu essen. Dabei liegen hier völlig verschiedene Startsignale vor. Die ersten beiden Aussagen deuten auf Appetit hin, die beiden letzten eher auf wirklichen Hunger. Hunger entsteht, wenn z. B. bei großen Essenspausen (über Nacht) bzw. nach einer länger andauernden Belastung die Energiespeicher leer sind. Dann verlangt der Körper nach Kalorien und Nährstoffen. Deshalb ist auch das Frühstück so wichtig. Ob das aus einem belegten Brot, Kakao, Müsli oder zwei Bananen besteht, ist dem wirklich Hungrigen egal. "Der Hunger treibt es rein." Folglich zielt Hunger meist nicht auf ein spezifisches Lebensmittel ab. Ganz anders beim Appetit. Der ist zielgerichtet z. B. auf die duftenden ofenfrischen Brötchen, die würzige Pizza an der Straßenecke, die leckeren Würstchen vom Grill. Ein physiologischer Energiebedarf liegt jedoch nicht vor. Wer sich also allzu stark vom Appetit leiten lässt, überschreitet angesichts der vielfältigen kulinarischen Verlockungen leicht die empfehlenswerte Energiezufuhr und riskiert überflüssige Pfunde.

Deshalb:

  • Zwischen den Mahlzeiten Esspausen von mindestens zwei Stunden einlegen.
  • Feste Essenszeiten einhalten.
  • Möglichst zwischen den Mahlzeiten nichtsessen.

Sättigung und Sattsein – die Stoppsignale beim Essen

"Mehr schaff ich wirklich nicht, sonst platzt mein Bauch", "eigentlich bin ich ja satt, aber der leckere Nachtisch passt noch rein", "nach so viel Süßem habe ich Lust auf was Deftiges". Die Sättigung beginnt bereits mit dem ersten Bissen, den wir essen. Der Sättigungsprozess ist beendet, wenn bestimmte Signale die Sättigungszentren im Gehirn erreichen (mehr dazu später). Diese so genannte postresorptive Sättigung tritt etwa 15 bis 20 Minuten nach Beginn der Mahlzeit ein. Deshalb immer langsam essen. Erst nach 15 bis 20 Minuten weiß man, ob das Brötchen, die Banane oder der Hamburger einen gesättigt haben. Fast-Food-Esser und solche, die sich fürs Essen kaum Zeit nehmen, sollten sich besser nicht auf ihre physiologischen Stoppsignale verlassen. Jene kommen für sie eindeutig zu spät, entweder wenn sie schon lange fertig sind mit dem Essen oder wenn sie bereits der Magen drückt. Wer schnell isst, muss seine Essensmenge kognitiv kontrollieren. Dazu muss er wissen, durch welche anderen kurz- und mittelfristigen Prozesse seine Nahrungsmenge gesteuert wird. Zunächst sind es sensorische Prozesse, die uns zum Weiteressen verleiten. Je stärker das Essen unsere fünf Sinne reizt, um so mehr essen wir.

Die Erfahrung lehrt,

  • dass man von leckerem Essen gewöhnlich mehr isst als von eintönigem und fadem.
  • dass Geschmacksvielfalt zum Mehressen verleitet.

Die Pizza hat zwar gut gesättigt, trotzdem passt der süße Nachtisch noch rein. Die Gastronomie kennt anscheinend dieses Phänomen der "specific satiety". Sie offeriert deshalb mehrere Gänge mit Lebensmitteln ganz unterschiedlicher Geschmacksrichtungen und erreicht so,

  • dass wir mehr essen, als uns gut tut.
  • dass "auch das Auge mitisst". Ein rotgefärbter Marmorkuchen sättigt viel schneller als ein ungefärbter.
  • dass ein leerer Teller satt macht.

Wird diese Kontrolle unterbunden, z. B. beim Trickteller im Esslabor, konsumieren gezügelte Esser etwa 50 Prozent mehr als üblich. Und wem ständig Wein nachgegossen wird, bevor das Glas leer ist, trinkt oft zu viel. Überprüfen Sie diese Phänomene doch einmal.

Für Schnellesser gilt:

  • Üben, langsam zu essen und intensiv darauf achten, wie die Speise schmeckt.
  • Das Ein-Gang-Menü bevorzugen und die Nachspeise auf später verschieben.
  • Immer nur kleine Portionen aufladen oder bewusst kleine Essteller verwenden.
  • Essen erst nachholen (auch am Büfett) bzw. Getränke erst nachgießen, wenn Teller und Glas leer sind.

Auf sensorische folgen kognitive Prozesse

Auf die sensorischen folgen die kognitiven Prozesse: "Weil ich zu wissen glaube, dass Salat gesund ist, esse ich besonders viel davon. Die verführerische Mousse au chocolat hat dagegen viele Kalorien; also begnüge ich mich mit einer kleinen Portion." Solche Verhaltensweisen sind typisch für gezügelte Esser. Sie funktionieren aber nur dann, wenn die Kontrolle flexibel und das Ernährungswissen fundiert ist. Deshalb: Essen flexibel kontrollieren. Auf lange Sicht ein fundiertes Ernährungswissen aneignen.

Zu den postingestionalen Effekten zählen die Magendehnung, die Entleerungsrate des Magens und die Ausschüttung bestimmter gastrointestinaler Hormone. Sie vermitteln das Sättigungsgefühl aber erst, wenn die Nahrung bereits im Magen ist.

Deshalb: Ballaststoffreiche Kost essen, d. h. reichlich Vollkornprodukte und Gemüse. Vor bzw. beim Essen Mineralwasser trinken.

Wie funktioniert die physiologisch gesteuerte Sättigung?

Diese Frage beschäftigt die Wissenschaft schon lange. Doch nach wie vor gibt es im Wesentlichen vier Modellvorstellungen über die so genannten postresorptiven Mechanismen. Diese werden durch die aufgenommene Nahrung bzw. durch Nahrungsbestandteile beeinflusst.

1. Die glucostatische Hypothese geht davon aus, dass der Blutglucosespiegel über Hunger und Sattsein entscheidet. Sinkt der Blutzucker, essen wir, und zwar so viel, bis er wieder Normalniveau erreicht hat.

2. Die thermostatische Hypothese postuliert Thermosensoren, die das Signal zum Essen geben, wenn die Wärmeproduktion zurückgeht.

3. Höchstwahrscheinlich gibt es auch Liposensoren, die bei Nahrungsmangel den Abbau von Fettdepots melden. Diese so genannte lipostatische Theorie hat Mitte der 90er-Jahre durch die Entdeckung des obesitas-Gens und des dadurch codierten Proteins Leptin eine Renaissance erlebt. Rattenversuche brachten eindeutige Hinweise, dass Leptin ein Sättigungsfaktor ist. Beim Menschen sind die Ergebnisse bis heute noch nicht eindeutig.

4. Die Tryptophan-Serotonin-Hypothese wird schon seit über zehn Jahren kritisch diskutiert. Vollmundig ist da die Rede von "Schokolade macht glücklich", eine Botschaft, die allen Süßschnäbeln unter uns sehr willkommen ist.

Solche und ähnliche Schlagzeilen sind die journalistische Interpretation der Untersuchungsergebnisse von Wurtman. Er beobachtete, dass sich nach einer kohlenhydrat- oder fettreichen Diät die für die Bildung von Serotonin im Gehirn erforderliche Tryptophan-Konzentration erhöht. Er schloss daraus, dass Serotonin die Stimmung positiv beeinflusst und Depressionen abnehmen müssten. Auch fettreiche Nahrung führt – über einen anderen Mechanismus – zu einem erhöhten Tryptophan-Spiegel. So willkommen und überzeugend die Wurtman-Hypothese zunächst klang, heute ist sie wissenschaftlich umstritten.

  • Verschiedene Studien fanden keinen Einfluss von Kohlenhydraten versus Protein auf die Stimmung, trotz Einfluss auf Tryptophan im Verhältnis zu den neutralen großen Aminosäuren. (Deijen et al., 1989; Christensen & Redig, 1993)
  • Die Veränderung des Tryptophan/LNAA-Quotienten ist möglicherweise zu klein, um die Serotoninbildung zu beeinflussen. (Young, 1991)
  • Bereits 4 Prozent Protein können den Tryptophan-Effekt verhindern. (Teff et al. 1993)
  • "carbohydrate craver" (= Kohlenhydratsüchtige) essen nicht mehr Lebensmittel mit hohem Kohlenhydrat- und geringem Protein-Anteil (Schlundt et al. 1993)
  • "carbohydrate craver" essen bevorzugt Schokolade und Eiskrem (hoher Fettanteil). (Drewnowski, 1990) (Aufstellung nach Westenhöfer, 1999)

Ob nun Veränderungen in unserer Stimmung, die nach dem Verzehr einer Tafel Schokolade oder eines Stückes Nusstorte auftreten, tatsächlich etwas mit Serotonin zu tun haben, ist keinesfalls bewiesen. Dennoch greifen viele Menschen bei Stimmungsschwankungen zu Süßem als Stimmungsaufheller. Wenn dann tatsächlich eher zufällig ein positiver Effekt eintritt, greifen sie immer öfter immer dann zur Schokolade, wenn die Stimmung im Keller ist. Manche fühlen sich geradezu abhängig davon. Gefährdet sind vor allem solche Menschen, die nur "ein unzureichendes Repertoire an geeigneten Strategien zur Bewältigung psychischer Belastungen besitzen".

Eva Baur beschreibt in ihrem Buch "Süße Gelüste" den Fall einer Arzthelferin, die dem Serotonin-Glauben verfallen war: "Ein ganz normaler Montagvormittag in der Arztpraxis. Sprechzimmer überfüllt. Patienten wegen der Warterei gereizt. Telefon und Türglocke klingeln prinzipiell gleichzeitig. Unter ihrem frischgebügelten Lächeln befindet sich die Seele der Sprechstundenhilfe in Aufruhr. Sie hasst ihren Chef, ärgert sich über die Patienten, ist wütend auf ihren Job. Da auf einmal fällt ihr ein, was sie in diesem Augenblick retten kann: die Schachtel in der Schreibtischschublade. Für jedes Mal, wo sie sich zum Lächeln aufrafft, eine Praline. Für jedes Mal, wo sie ihre Neigung loszuschimpfen beherrscht, eine Praline. Bis zur Mittagspause ist die Schachtel leer. Und die Arzthelferin auch. Sie fühlt sich matt, erschöpft, geschwächt, ausgebrannt. Und außerdem schindet sie der Gedanke, dass sie mit den insgesamt 2000 Kalorien ihren Tagesbedarf bereits überschritten hat, heute Abend also beim Pizzaessen mit dem Freund die Pizza liegen lassen und morgen einen Fastentag einlegen muss. Es folgt ein ganz normaler Montagnachmittag in der Praxis. Das Sprechzimmer ist noch immer überfüllt, die Patienten wieder wegen der Warterei gereizt, Telefon und Türglocke klingeln immer noch dauernd gleichzeitig. Die Arzthelferin zischt die Patienten an, giftet den Chef an, knallt den Hörer aufs Telefon, schmeißt die Türen zu. Was hat sie nur? fragen sich alle. Sie hatte zu viel Schokolade."

Deshalb: Keine Unmengen Süßes als Stimmungsaufheller essen, insbesondere bei fettreichen Süßigkeiten. Lieber entspannen und dabei vielleicht ein Stück Schokolade oder eine Praline genießen.

Kastentext: Definitionen

Hunger: unangenehmes, auch schmerzhaftes Verlangen zu essen; oft unspezifisch. Appetit: lustvolle Motivation zu essen; häufig auf bestimmte Lebensmittel ausgerichtet. Sättigung = intra-meal-satiety: Prozess der Beendigung einer Mahlzeit, der direkt durch die Nahrungsaufnahme ausgelöst wird. Sattsein = inter-meal-satiety: bewirkt, dass eine gewisse Zeit vergeht, bevor wieder Nahrung aufgenommen wird.

Kastentext: Literaturtipp: Süße Gelüste

Auf die Schicksalsfrage: "Was macht dick?" gibt es nur eine Antwort: Die Stimmung ist an allem schuld. Wer mit Lust isst, bleibt schlank, Frustessern dagegen bleibt jede einzelne Kalorie an den Hüften kleben. Eva Gesine Baur liefert keine Kochrezepte, sondern Verhaltenstipps und Selbstüberlistungshilfen. Weg mit Ernährungspäpsten, Party-Häppchen und Gewissensbissen. Hin zum Sex-Appeal der Langsamkeit, zur Lust am Genuß und zur sinnlichen Wirkung der fünf Elemente. Statt Kalorientabellen verhilft praktische Psychologie zu einer guten Figur! Süße Gelüste – Wie die Stimmung uns beim Essen beeinflusst. Von Eva Gesine Baur. 140 Seiten. S. Hirzel Verlag 1997. Bestellbar zum Preis von 7 19,40 beim Deutschen Apotheker Verlag, Postfach 10 10 61, 70009 Stuttgart, Tel. 07 11-25 82-3 42 oder -3 41, Bestell-Service: 0800 2990 000, Fax 07 11-25 82-2 90, E-Mail: service@deutscher-apotheker-verlag.de, Internet: www.deutscher-apotheker-verlag.de

Wer Hunger hat, isst und wer satt ist, hört auf zu essen. Das wäre zwar richtig, ganz so einfach ist es aber nicht. Wir warten niemals so lange mit dem Essen, bis uns schlecht vor Hunger ist und futtern auch nicht so lange, bis uns schlecht wird. Irgendwo zwischen den beiden Extremen liegen Start- und Stoppsignal zum Essen. Und die gilt es wahrzunehmen. Das ist ziemlich schwierig, weil einerseits die Körpersignale nicht direkt messbar sind, andererseits heute vielfältige psychologische Faktoren die physiologischen überlagern. Essen ist eben nicht nur die Aufnahme von Kalorien und Nährstoffen, sondern ein komplexer psychophysiologischer Vorgang.

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