Ernährung

S. Klaus, W. MeyerhofHunger entsteht im Gehirn &ndas

Der Hypothalamus reagiert als zentraler Regulator von Hunger und Sättigung auf Signale aus Magen, Darm, Blut und Fettgewebe. Teil 1 des Beitrags stellte Leptin als einen dieser Signalstoffe vor. Der zweite Teil beschreibt das Eingreifen weiterer Ų zum Teil erst seit kurzem bekannter Ų Neurotransmitter und Neuropeptide in den Energiehaushalt des Körpers. Zuletzt geht er der Frage nach, inwiefern Gendefekte für das epidemieartig ansteigende Übergewicht in Europa verantwortlich sind.

Kurz nach der Entdeckung des Leptins, einem Peptid mit Einfluss auf die zentrale Appetitregulation, wurde auch der Rezeptor identifiziert, an den das Leptin andockt und der das Leptinsignal in die Zellen weiterleitet. Dieser OB-Rb genannte Rezeptor ist hauptsächlich in Neuronen des Hypothalamus exprimiert und zwar besonders in den Regionen, die für die Kontrolle der Nahrungsaufnahme und Energiehomöostase essenziell sind. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Leptin-Rezeptoren in diesen Regionen tatsächlich auch durch Leptin stimuliert werden, und dass eine intrazelluläre Signalübertragung stattfindet.

Mäuse und Ratten, die einen Defekt im Leptin-Rezeptor haben, zeigen den gleichen Phänotyp wie die leptindefizienten Ob-Mäuse. Der Leptin-Rezeptor gehört zu der Familie der so genannten Cytokin-Rezeptoren und ist in verschiedenen, zum Teil verkürzten Formen vorhanden, wobei noch nicht genau geklärt ist, welche Funktionen die verschiedenen Formen haben. Es könnte jedoch sein, dass einer der verkürzten Leptin-Rezeptoren an dem Transport des Leptins von der Zirkulation über die Blut-Hirn-Schranke hinweg in den Hypothalamus beteiligt ist.

Leptin-Rezeptoren sind nicht nur im Hypothalamus zu finden, sondern auch auf vielen anderen Zellen, zum Beispiel Muskelzellen, Leberzellen, Pankreaszellen etc. Die Wirkung von Leptin auf das Appetitsystem wird nach bisherigen Erkenntnissen ausschließlich durch seine Bindung an Rezeptoren im ZNS vermittelt. Hier führt Leptin zur Stimulation oder auch Inhibierung der Ausschüttung verschiedener Neuropeptide im Hypothalamus, wie später noch näher erläutert wird.

Im Hypothalamus werden Informationen integriert

Die Integration der vielfältigen Informationen findet im Hypothalamus statt. Selbstverständlich sind die Signale über das innere Milieu eines Menschen oder Tiers, wie abnehmende Glucose- oder Lipidvorräte und im Darm freigesetzte Peptide nicht allein für das Entstehen von Hunger oder Sättigung verantwortlich. Externe Reize, zum Beispiel optische Eindrücke, Geruchs- und Geschmackswahrnehmung von Speisen, aber auch der biologische Rhythmus sind ebenfalls wichtig.

Die eingehenden Signale der Peripherie, humorale und nervöse, die über das innere Milieu berichten, werden im Hypothalamus mit den Signalen verrechnet, die über die externen Bedingungen informieren. Dieser Rechenprozess wird als Integration bezeichnet. Aufgrund seiner funktionellen Anatomie ist der Hypothalamus dafür prädestiniert. Er ist sowohl afferent wie efferent in Verbindung mit dem thalamo-kortikalen System, das für kognitive Prozesse verantwortlich ist und auch mit dem limbischen System, das für die "Gefühlswelt" zuständig ist. Doppeldeutige Begriffe, wie "süß" und "bitter" zur Beschreibung der Geschmacksqualitäten oder von etwas Niedlichem oder einer Enttäuschung machen die Verflechtung der nutritiven Beurteilung mit unserer Gefühlswelt deutlich. Der Hypothalamus ist ebenfalls mit dem Hirnstamm und dem Rückenmark verschaltet. Diese Verschaltung reflektiert seine Kontrolle über autonome Funktionen (Temperaturregulation, Atmung, Verdauung, exokrine Sekretion, Energiehomöostase). Er ist auch efferent mit der Hypophyse verbunden und etabliert auf diese Art die endokrinen Kontrollen von Wachstum, Reproduktion, Metabolismus, Wasser- und Elektrolythaushalt.

Für das Verständnis der Integrationsprozesse im Hypothalamus ist die Kenntnis der genauen Verschaltung der Neurone in den beteiligten hypothalamischen Kerngebieten, die Art, wie sie miteinander kommunizieren und die Identifizierung der chemischen Natur der von ihnen benutzten Signalüberträger erforderlich.

Hypothalamische Kerne und Zonen sind miteinander verschaltet

Der Hypothalamus besitzt eine Reihe so genannter Kerne, lokale Ansammlungen von Neuronen, und weniger gut voneinander abgegrenzte Gebiete, die aufgrund ihrer Lage in drei funktionelle Gruppen eingeteilt werden können:

  • in die periventrikuläre
  • mediale und
  • laterale Zone (s. a. Abb. 1 im ersten Teil des Beitrags, DAZ Nr. 4, S. 45).

Eine Strukturierung von rostral (Kopf) nach kaudal (Schwanz) ist ebenfalls unternommen worden. Die nahe dem III. Ventrikel liegenden Kerne der periventrikulären Zone enthalten neuroendokrine Zellen sowie Neurone, die an der Generierung der Biorhythmen beteiligt sind. Die Kerne dieser Zone projizieren zur Hypophyse (und kontrollieren ihre Aktivität) sowie zu den Kernen des autonomen Nervensystems im Hirnstamm und Rückenmark.

Die mediale Zone empfängt Impulse vorwiegend aus dem limbischen System und gibt diese an die neuroendokrinen Zellen der periventrikulären Zone und an die Kerne der lateralen Zone weiter. Die laterale Zone erhält ihre Informationen vorwiegend durch die zum Gehirn aufsteigende, dopaminerge Leitungsbahn, das mediale Vorderhirnbündel, und "sendet" auch durch dieses Nervenbündel.

Darüber hinaus ziehen einige wichtige Nervenfaserbahnen durch den Hypothalamus. Die große Heterogenität der meisten hypothalamischen Kerne und aller Gebiete hinsichtlich der Größe, Form sowie Färbeeigenschaften in histochemischen Experimenten weist klar darauf hin, dass sie mehr als nur einem funktionellen System zuzurechnen sind.

Ein einfaches Hunger- und Sättigungszentrum gibt es nicht

Die vereinfachte Ansicht eines ventromedialen Sättigungs- (VMH) und eines lateralen Hungerzentrums (LH) ist im Licht moderner Erkenntnisse nicht mehr haltbar. Vielmehr zeigte sich, dass Läsionen im LH das mediale Vorderhirnbündel zerstören. Als Folge stellt sich ein vollständiges Ignorieren aller Außenreize inklusive der von Nahrung ein, also ein extremer Motivationsverlust. Ebenso scheinen die Läsionen im VMH die Projektionsbahnen des Nukleus Paraventrikularis (PVN) zu zerstören und begründen, wie man durch genauere Betrachtungen herausfand, eine höhere Reaktionsfähigkeit gegenüber aversiven oder attraktiven Futtermerkmalen. Ebenso führten Schädigungen im VMH nicht zum Überessen, wenn gleichzeitig der Vagusnerv durchtrennt wurde. Dies ist ein Nerv des autonomen Nervensystems, der unter anderem den Verdauungstrakt innerviert und hungerbedingte Kontraktionen der Magen und Darmwand sowie direkt oder Hormon-vermittelt Informationen über den chemischen Gehalt des Magen und Darms an das ZNS überstellt. Läsionen im VMH sollten also den Stoffwechsel so ändern, dass er sich permanent in der absorptiven Phase befindet. Hyperphagie entstünde also sekundär durch veränderte Signale aus der Peripherie in den Hypothalamus. Ebenso konnte eine reziproke Verbindung des VMH und LH ausgeschlossen werden. Vielmehr ist entdeckt worden, dass VMH und LH eine Reihe von Afferenzen aus einem als dorsomedialen hypothalamischen Nukleus (DMH) bezeichneten Kern bekommen, der umgekehrt Projektionen aus beiden Regionen, VMH und LH, erhält.

Auch ein als Nukleus Arcuatus (ARC) bezeichneter Kern sendet Projektionen zum LH, VMH sowie zum PVN. Die Beteiligung des ARC an der Kontrolle von Appetit war lange bekannt durch die Beobachtung, dass Injektionen von Natriumglutamat in neugeborene Ratten zur chemischen Zerstörung großer Teile des ARC führt und dadurch massives Übergewicht und Hyperphagie produziert. Die Prozessierung von Information über Hunger- und Sättigung wird also auch durch den DMH und ARC modifiziert. Die neueren Arbeiten zeigen also, dass die simplen Thesen von spezifischen Hunger- und Sättigungszentren im LH und VMH aufgegeben werden müssen zu Gunsten eines orexischen Netzwerkes, dass als Integrationszentrum zur Kontrolle der Nahrungsaufnahme und der Energiehomöostase fungiert und wenigstens den PVN, DMH, VMH, LH und ARC einschließt.

Neurotransmitter und Neuropeptide – Signalüberträger im Hypothalamus

Ein anderes Problem, das ein detailliertes Verständnis der chemischen Neuroanatomie von Energiehomöostase und Hunger-Sättigungsmechanismen beeinträchtigt, betrifft die beteiligten Neurotransmitter und Neuropeptide. Bislang konnten keine dafür spezifischen Transmitter gefunden werden. Das ZNS benutzt für viele seiner Funktionen die gleichen Transmitter. Keiner ist allein für eine besondere Aufgabe zuständig. Darüber hinaus aktivieren diese Transmittersubstanzen in der Regel nicht nur eine Art von Bindungsmolekül. Sie alle besitzen mehrere solcher Bindungsmoleküle, so genannte Rezeptoren. Auf die genaue Kombination von Transmitter und Rezeptor kommt es also an.

Weiterhin ist es erforderlich zu verstehen, welche Nervenzellen einen bestimmten Neurotransmitter freisetzen und welche Nervenzellen den oder die dafür passenden Rezeptoren besitzen. Dennoch kommen die stärksten Hinweise für die Lokalisation eines orexischen (Nahrungsaufnahme stimulierenden) Netzwerkes im Hypothalamus von Versuchen, in denen man Neurotransmitter oder Neuropeptide zur chemischen Stimulation in den III. Ventrikel oder bestimmte Kerne injizierte. In Tabelle 2 (Teil 1 des Beitrags) waren die wichtigsten bisher bekannten hypothalamischen Neurotransmitter und Neuropeptide aufgelistet, die die Nahrungsaufnahme beeinflussen. Danach kann ein Neurotransmitter, nämlich Noradrenalin, die Nahrungsaufnahme sowohl inhibieren als auch stimulieren, je nachdem an welche Rezeptoren er bindet.

Noradrenalin ruft im PVN nicht nur eine Stimulation der Nahrungsaufnahme hervor, sondern steigert selektiv die Aufnahme von Kohlenhydraten. Ähnlicherweise bewirkt das Peptid Galanin eine verstärkte Fettaufnahme und Opioid-Peptide eine verstärkte Proteinaufnahme. Der wohl stärkste Stimulator von Fressverhalten ist das Neuropeptid Y (NPY). Seine Injektion in den PVN stimuliert sogar in gesättigten Tieren insbesondere die Aufnahme von Kohlenhydraten.

Gleichzeitig wird jedoch die energieverbrauchende Thermogenese eingeschränkt. Die Bedeutung von NPY wird durch weitere Beobachtungen unterstrichen. Nahrungsentzug führt zu seiner verstärkten Freisetzung und Nahrungsaufnahme zur Reduktion der Freisetzung von NPY. NPY wird in Nervenzellen des ARC synthetisiert und aus Nervenendigungen freigesetzt, die in den PVN projizieren. Dort freigesetztes NPY aktiviert einen ganz bestimmten NPY-Rezeptor, den Y5-Rezeptor. Dieser ist sowohl in den Neuronen des PVN lokalisiert – und übermittelt das Signal aus dem ARC – als auch auf den ARC Neuronen selbst vorhanden.

Dort kontrolliert der Y5-Rezeptor als "Autorezeptor" die Ausschüttung des NPY, seines eigenen Agonisten. Die Beteiligung des Y5-Rezeptors an der Kontrolle von Hunger- und Sättigung sowie an der Energiehomöostase macht die Entwicklung von Y5-Antagonisten zu einer lohnenden Aufgabe der Pharmaindustrie. Mäusemutanten mit experimentell induziertem Verlust ihrer NPY Gene (so genannte knock-out Mäuse) behalten zwar ein nahezu normales Körpergewicht, aber wenn diese Mutation in Ob-Mäuse eingekreuzt wird, sind die resultierenden Doppelmutanten weitaus weniger fett (und fertil) als normale Ob-Mäuse. Diese Befunde platzieren das NPY-System klar stromabwärts von Leptin und dem Leptin-Rezeptor. In Übereinstimmung mit diesen Befunden wurde auch beobachtet, dass NPY-Neurone den Leptin-Rezeptor enthalten, und dass Leptin die NPY-vermittelte neuronale Aktivität und die NPY Biosynthese hemmt.

Die Beobachtung, dass die Ob/NPY-/- doppelmutanten Mäuse zwar weniger fett aber doch immer noch übergewichtig sind, weist klar auf die Wirkung zusätzlicher Faktoren stromabwärts von Leptin hin. Ein Gegenspieler von NPY ist das Corticotropin-freisetzende Hormon (CRH). Es zeigt katabole Wirkung, da es im PVN zur Inhibition der Nahrungsaufnahme führt und den Energieverbrauch erhöht. Gleichzeitig ruft es die Stressantwort durch Freisetzen von Stresshormonen aus der Hypophyse hervor. Leptin stimuliert die Biosynthese und Freisetzung von CRH. Die Applikation eines spezifischen CRH Antagonisten hemmt den anorektischen Effekt des Leptins. Die Leptin-vermittelten Gewichtsverluste werden daher vermutlich durch die hypothalamische Freisetzung von CRF mitveranlasst. Tatsächlich ist der Leptin-Rezeptor in den CRH-Neuronen des PVN enthalten. Interessanterweise enthalten diese CRH-Neurone auch Galanin, das besonders die Fettaufnahme stimuliert. Blockade des CRH-Weges führt auch zu einer verstärkten Nahrungsaufnahme nach NPY-Stimulation, das heißt CRH ruft den hemmenden Effekt auf die Nahrungsaufnahme offenbar durch die Inhibition des anabole NPY Signalweges hervor. Kürzlich wurde Urocortin entdeckt, ein dem CRH sehr ähnliches Peptid. Die besondere Eigenschaft von Urocortin ist aber seine Fähigkeit Gewichtsverlust zu induzieren, ohne gleichzeitig eine Stressantwort auszulösen.

Der POMC/MC-Signalweg

Wichtige Arbeiten haben die Bedeutung eines anderen Signalweges, des hypothalamischen Melanocortin (MC)-Weges für die Energiehomöostase hervorgehoben. Die Peptide dieses Weges leiten sich aus einem als Proopiomelanocortin (POMC) bezeichneten Vorläufer-Polypeptid ab.

Durch differenzielle Spaltung entstehen aus dem POMC-Vorläufer eine Reihe von Peptid-Hormonen mit völlig unterschiedlicher Wirkung. Der POMC-Vorläufer wird im Hypothalamus im ARC synthetisiert. Eines dieser Peptide, das alfa-Melanozyten-stimulierendes-Hormon (alfa-MSH) aktiviert Melanozyten, die an der Ausbildung der Fell beziehungsweise Haarfarbe beteiligt sind. Mäuse einer Mutante agouti weisen nicht nur eine ungewöhnliche gelbe Färbung auf, sondern sind auch fett. Es stellte sich heraus, dass in diesen Tieren das agouti-Gen überexprimiert wird und dass das Produkt dieses Gens ein sezerniertes Peptid ist. In Hautzellen blockiert es die Wirkung von alfa-MSH durch Bindung an den MC-1-Rezeptor und bestimmt so die Fellfarbe. Gleichzeitig vermutete man, dass das agouti Peptid die alfa-MSH Wirkung im Hypothalamus durch Bindung an den dort lokalisierten MC-4-Rezeptor blockiert und dadurch die Energiehomöostase beeinflusst.

Diese Vermutungen wurden durch MC-4-Rezeptor Knock-out Mäuse erhärtet. Diese Tiere sind so fett wie agouti Tiere, weisen jedoch keine gelbe Fellfärbung auf. Die sehr hohen Leptinspiegel in MC-4-Rezeptor Knock-out Mäusen legt nahe, dass diese Tiere nicht adäquat auf erhöhte Leptinspiegel reagieren können. Die Assoziation von Leptin mit alfa-MSH und MC-4-Rezeptor wird durch die Lokalisation von Leptin-Rezeptoren in POMC-Neuronen weiter gestützt.

Eine neue Wendung kam durch die Entdeckung eines agouti verwandten Peptids, AGRP. AGRP ist beschränkt auf den ARC und seine Spiegel sind in Ob-Mäusen erhöht. AGRP ist ein spezifischer Antagonist am MC-4-Rezeptor, bindet also nicht an den MC-1 Rezeptor wie agouti selbst. Experimentell erzeugte ektopische Expression von AGRP resultiert in Fettsucht, wie der MC-4-Rezeptor knock-out selbst. Das Konzentrationsverhältnis von alfa-MSH und AGRP im ARC reguliert anscheinend die Aktivität des MC-4-Rezeptors. In Abbildung 1 ist schematisch dargestellt, wie Leptin hypothalamische Neurone und Neurotransmitter-Ausschüttung beeinflusst und reguliert. Obwohl dieses Schema schon sehr komplex erscheint, sind sicher noch weitere Neurotransmitter und Signalwege beteiligt.

Die wichtige Rolle des POMC/MC Signalweges wurde auch kürzlich durch Befunde beim Menschen erhärtet. So gibt es den Fall von zwei Kindern, die extrem adipös sind und rote Haare haben, was sonst nicht in den Familien vorkam. Es stellte sich heraus, dass diese beiden Kinder einen genetischen Defekt im POMC-Genes haben, sodass keine abgeleiteten Peptide gebildet werden können. Der Mangel an alfa-MSH beeinflusst bei ihnen offensichtlich die Haarfarbe und führt zur Adipositas. Mittlerweile wurden auch in verschiedenen Familien Mutationen im MC-4-Rezeptor entdeckt. Die meisten der Betroffenen zeigen ebenfalls eine extreme Adipositas.

Bislang unbekannte Neuropeptide

Zusätzlich zu den beschriebenen Neuropeptiden mit Wirkung auf die Regulation der Energiebilanz und Appetit im Hypothalamus sind jüngst einige andere Peptide mit ähnlichen Wirkungen beschrieben worden. Dazu zählen einige schon länger bekannte Peptide wie Melanin-konzentrierendes Hormon (MCH), Glucagon-like-peptide 1 (GLP1), Galanin oder Neurotensin.

In der Regel wurden für diese Peptide Einflüsse auf die Nahrungsaufnahme nach ihrer zentralen Administration festgestellt. Die Befunde wurden meist erhärtet durch die Verwendung von Antagonisten und/oder ihre Regulation durch Leptin und/oder durch ihre Ko-Lokalisation mit dem Leptin-Rezeptor. Diese Arbeiten führten auch zur Entdeckung neuer, bislang unbekannter Neuropeptide. Eines davon nennt sich CART. CART steht für Cocain und Amphetamin-reguliertes Transkript, da seine mRNA Spiegel im Hypothalamus durch diese Verbindungen mit stark anorektischer Wirkung beeinflusst werden. CART mRNA ist ebenfalls in hungernden Tieren reprimiert und in Ob-Mäusen kaum noch nachweisbar. CART Peptid selbst führt zu einer starken Hemmung der Nahrungsaufnahme und hemmt vollständig die NPY-induzierte Nahrungszufuhr. CART ist mit POMC in Neuronen im ARC und in der direkt benachbarten retrochiasmatischen Region kolokalisiert.

Die CART/POMC Nervenzellen sind Leptin sensitiv und innervieren sympathische präganglionäre Neurone im thorakalen Bereich des Rückenmarks. Die Befunde deuten darauf hin, dass diese Verschaltung zur Leptin-vermittelten Steigerung von Thermogenese und Energieverbrauch und reduziertem Körpergewicht beiträgt.

Zwei weitere Peptide wurden kürzlich und unabhängig voneinander von zwei Arbeitsgruppen entdeckt. Sie leiten sich vom gleichen Prohormonvorläufer ab und wurden aufgrund ihrer Wirkung Orexin-A und Orexin-B beziehungsweise Hypocretine getauft. Diese Peptide sind beschränkt auf den LH, was ihre Bedeutung für Hunger-Sättigungskontrollen impliziert. Die Expression von Orexin ist bei Hunger erhöht, seine zentrale Administration ruft Hyperphagie hervor. Die Verschaltung von Neuronen des ARC mit solchen im PVN und LH und die Wirkung von Leptin ist in Abbildung 2 schematisch skizziert.

Die große Zahl peptiderger Signalwege an der Regulation der Energiehomöostase und Hunger- / Sättigungsmechanismen mag überraschen. Ihre Bedeutung wird aber sehr eindrucksvoll unterstrichen durch die Aufklärung der fat Mutation in Mäusen. fat Mäuse zeigen eine moderate spät einsetzende Adipositas und ist genetisch charakterisiert durch ein defektes Carboxypeptidase E (CPE) Gen. CPE ist ein proteolytisches Enzym, dessen Gen stark in neurosekretorischen Zellen exprimiert wird. CPE entfernt C-terminale basische Aminosäuren von Peptidhormon-Vorläufern und ist erforderlich zur "Reifung" der biologisch aktiven Peptide. Es ist nicht nur an der Reifung von Insulin sondern auch einiger der oben besprochenen Peptide beteiligt, wie NPY, POMC, GLP1, CCK und MCH.

Die Energiehomöostase ist noch nicht vollständig erforscht

Das Bild, das die Regulation der Energiehomöostase und die von Hunger-Sättigungsmechanismen beschreibt, zeigt sich derzeit als äußerst komplex, unvollständig und daher partiell verwirrend. Weder sind alle molekularen Teilnehmer am Geschehen bekannt, noch kennen wir alle Orte des Geschehens. Nur wenig ist über die Verbindung der verschiedenen Orte als gesichert anzusehen. Das betrifft insbesondere die nervöse Verschaltung. Dennoch haben die aufregenden Entdeckungen der letzten wenigen Jahre das Forschungsgebiet stark belebt, sodass bislang ein beträchtlicher Erkenntnisgewinn erzielt wurde und sicherlich in naher Zukunft weiterhin erzielt werden wird. Dazu zählt auch das Interesse der Pharmafirmen an den neuen Molekülen und neuen Wegen, um therapeutisch die Probleme der Adipositas anzugehen.

Immerhin haben wir heute ein ungefähres Bild vom komplexen Geschehen um die Energiehomöostase. Wir wissen, dass Nahrungsaufnahme motiviertem Verhalten entspricht und von der molekularen Natur einiger Kurz- und Langzeitsignale aus dem inneren Milieu und der Umwelt und ihrem Einfluss auf den Hypothalamus, der als Verrechnungsmaschine angesehen werden kann, gesteuert wird. Leptin als Indikator der Fettdepots, aber auch Glukose aktiviert bestimmte Nervenzellen in hypothalamischen Kernen und Gebieten, unter denen sich immer wieder der ARC, aber auch der VMH und DMH als essenziell erwiesen hat. Diese Aktivierung setzt (wie dargestellt teilweise bekannte peptiderge) Signalwege in Gang. Die Projektionen ziehen vom ARC und DMH direkt und vom VMH indirekt zum PVN. Der PVN ist Bestandteil des hypothalamischen "Ausgangs" und übt Kontrolle über die sympathischen und parasympathischen Neurone und über die Hypophyse aus. Damit wird die endokrine und nervöse Kontrolle über Energieverbrauch und -aufnahme etabliert und der Regelkreis geschlossen. Von Michael W. Schwartz und Mitarbeitern wurde kürzlich ein neuroanatomisches Modell erstellt, das sehr schematisch die Integration von Energiehomöostase und Essverhalten illustriert (Abb. 3).

Sind genetische Defekte für Adipositas verantwortlich?

Wie bereits in Teil 1 ausgeführt, sind Übergewicht und Adipositas in allen industrialisierten Ländern im Vormarsch. Immer mehr setzt sich dabei die Ansicht durch, dass Adipositas auch genetische Ursachen hat, also nicht allein von den Lebensbedingungen bestimmt wird.

Gestärkt wurde das durch Untersuchungen an eineiigen Zwillingen, die getrennt lebten. Etwa zwei Drittel der Zwillingspaare haben ein ähnliches Körpergewicht, obwohl sie in verschiedenen Familien aufgewachsen sind. Das bedeutet, dass bis zu 70 Prozent von Adipositas genetisch mitbestimmt sein könnte. Das klingt zunächst unlogisch, da sich unsere Gene in den letzten Jahrzehnten kaum verändert haben dürften, aber es noch vor 50 Jahren sehr wenig Adipöse gab. Jedoch gibt es eine genetische Prädisposition, die sich manifestiert in verschiedenen physiologischen Faktoren, die das Risiko dick zu werden erhöhen. Dazu gehört zum Beispiel ein niedriger Grundumsatz oder auch ein niedriges Niveau an Spontan-Aktivität (Ein "Zappel-Phillip" wird selten dick). Es stellt sich tatsächlich heraus, dass es bessere und schlechtere "Futterverwerter" gibt. In Zeiten von Hungersnöten oder Nahrungsknappheit hatten die guten Futterverwerter, also die, die sehr ökonomisch mit ihrem Energiehaushalt umgingen, eine größere Überlebens-Chance. Wenn allerdings, wie in der heutigen Zeit, Nahrung im Überfluss vorhanden ist und große körperliche Anstrengungen nicht mehr nötig sind, sind es eben diese Personen, die schneller Fett ansetzen und dick werden. Daher spricht man hier von so genannten Gen-Umwelt-Interaktionen. Ein gutes Beispiel dafür ist die zunehmende Körpergröße in den letzten Jahrzehnten. Körpergröße ist zum großen Teil genetisch determiniert, wie man unschwer in den meisten Familien beobachten kann. Jedoch ist in den letzten hundert Jahren die durchschnittliche Größe um fast zehn Zentimeter angestiegen, was auf die veränderten Umweltbedingungen, insbesondere bessere Ernährung zurückgeführt wird.

Größer zu sein ist allerdings kaum mit gesundheitlichen Problemen verbunden und stört daher nicht. Adipositas ist jedoch ein ganz erheblicher Risikofaktor für eine Reihe von Stoffwechselerkrankungen wie Bluthochdruck und Diabetes und sogar Krebserkrankungen. Die genetische Ausstattung, die zu anderen Zeiten ein Vorteil war, wirkt sich jetzt nachteilig aus. Welche Gene nun tatsächlich beteiligt sind, ist noch nicht geklärt. Da es aber eine Vielzahl von Genen gibt, die an der Regulation des Körpergewichts und des Appetits mitwirken, können potenziell auch Veränderungen in sehr vielen Genen die Prädisposition zur Fettleibigkeit ausmachen. Bisherige Kartierungen des menschlichen Genoms weisen auch auf eine Vielzahl von Orten (Verschiedenen Genen) auf den Chromosomen hin, die vielleicht eine Rolle spielen.

Es ist eindeutig belegt, dass nur in wenigen Fällen von extremer Adipositas der Defekt eines einzigen Genes für die Entgleisung verantwortlich ist. Bereits erwähnt wurden die Personen mit Leptin-Mangel und mit Defekten im POMC-Gen. In Tabelle 1 aufgelistet sind die bisher bekannten Fälle von monogen verursachter Adipositas beim Menschen. All diesen Fällen ist gemeinsam, dass Adipositas schon in den ersten Lebensmonaten auftrat, weil alle Personen eine extreme, sehr frühe Hyperphagie zeigten. Das heißt, diese Gendefekte wirken sich alle auf die zentrale Appetitregulation aus und unterdrücken offenbar das Sättigungsgefühl. Dies unterstreicht noch einmal die wichtige Rolle, die das Essverhalten, also die Appetitregulation bei der Steuerung des Körpergewichtes spielt.

Die Ansätze der Pharmaindustrie, eine medikamentöse Therapie von Adipositas zu entwickeln, sind daher auch hauptsächlich auf Anorektika fokusiert. Dies sind Medikamente, die durch Beeinflussung von Neurotransmittern und deren Wirkung den Hunger unterdrücken. Problematisch dabei ist die Tatsache, dass die beschriebenen Neurotransmitter auch an der Regulation anderer physiologischer Systeme beteiligt sind und so unerwünschte Nebenwirkungen auftreten können.

Quelle: Nachdruck aus Ernährung im Fokus, Heft Nr. 07/01. Herausgegeben vom Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (aid) e. V., Friedrich-Ebert-Straße 3, 53177 Bonn, Internet: www.aid.de

Der Hypothalamus reagiert als zentraler Regulator von Hunger und Sättigung auf Signale aus Magen, Darm, Blut und Fettgewebe. Teil 1 des Beitrags (DAZ Nr. 4, S. 43 ff) stellte Leptin als einen dieser Signalstoffe vor. Der zweite Teil beschreibt das Eingreifen weiterer – zum Teil erst seit kurzem bekannter – Neurotransmitter und Neuropeptide in den Energiehaushalt des Körpers. Zuletzt geht er der Frage nach, inwiefern Gendefekte für das epidemieartige Übergewicht in Europa verantwortlich sind.

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