Arzneimittel und Therapie

Chronische Schmerzen: Natriumkanal-Blockade durch Tolperison

Ergebnisse klinischer Untersuchungen zeigen, dass der systemische Natriumkanal-Blocker Tolperison (Mydocalm®) in der Lage ist, Schmerzchronifizierungsvorgänge zu durchbrechen. Tolperisonhydrochlorid ist ein Aminoketon, dessen analgetische und muskelrelaxierende Wirkung schon lange bekannt ist. Der zugrunde liegende Wirkmechanismus Ų eine Blockade der Natriumkanäle Ų wird jedoch erst seit kurzer Zeit mittels klinischer Studien erforscht.

Chronifizierung von Schmerzen

Im Gegensatz zum akuten Schmerz ist der chronische Schmerz biologisch nicht sinnvoll und kann sich bei unzureichender Primärtherapie zur eigenständigen, komplexen Schmerzkrankheit entwickeln. Aus molekularbiologischen Untersuchungen ist bekannt, dass die wiederholte Reizung peripherer Schmerzrezeptoren zu einer langfristigen strukturellen Veränderung der Nervenzellen des nozizeptiven Systems führt.

Der Nozizeptor wird durch diese wiederholten Reize sensibilisiert, wobei der Natriumionen-Kanal eine entscheidende Rolle spielt. Die Neurone lernen quasi nach ständig wiederholter Erregung durch Anpassung schneller und intensiver zu reagieren. Dieser Vorgang wird auch als neuronale Plastizität bezeichnet.

Neuronale Veränderungen führen zu einem Schmerzgedächtnis

Auf molekularer Ebene spielen Schmerzmediatoren wie Glutaminsäure, Substanz P und calcitonine-gene-related-peptide eine entscheidende Rolle. Es kommt über einen erhöhten Calciumeinstrom in die Nervenzelle zu einer gesteigerten Gentranskription und schließlich zu einer Neubildung von Rezeptoren, Rezeptorsubtypen und Ionenkanälen.

Diese zellulären Aktivitäten führen letztendlich zu einer Veränderung der Reaktionsbereitschaft der Zelle. Eine chronische Übererregbarkeit ist die Folge. Diese neuronalen Veränderungen, die mit einer Sensibilisierung der nozizeptiven Nervenfasern einhergehen, werden unter dem Schlagwort Schmerzgedächtnisbildung zusammengefasst. Das Gedächtnis reagiert schließlich sensibler und intensiver auf schmerzhafte (Hyperalgesie) und nicht schmerzhafte Reize (Allodynie).

Reduktion des erhöhten Muskeltonus als Therapieansatz

Bei der Behandlung von Schmerzen sind neben einer raschen Behandlung des Akutschmerzes insbesondere die Verhinderung der Chronifizierung bzw. Abbau chronifizierender Faktoren zentrales Therapieziel. Wichtig ist dabei die Reduktion des schmerzhaft erhöhten Muskeltonus, um den Teufelskreis der schmerzreflektorischen Muskelverspannung zu durchbrechen.

Ein Therapieansatz stellt die Blockade der Natriumkanäle dar. Mit Tolperison, einem systemischen Natriumkanal-Blocker ist es möglich, die Weiterleitung von Schmerzreizen zu bremsen, um so den Chronifizierungsprozess aufzuhalten. Tolperison wird zur Behandlung aller Formen der schmerzhaften Muskelverspannung eingesetzt.

Wirkprinzip von Tolperison – Natriumkanal-Blockade

Das Wirkprinzip von Tolperison basiert auf einer Natriumkanal-Blockade. Tolperison hemmt den Natriumeinstrom vorwiegend an den Nervenfasern des nozizeptiven Systems – dem Ausgangspunkt der Schmerzleitung. Tolperison wirkt dabei wie ein Filter: Normale Aktivität gelangt hindurch, pathologisch erhöhte Aktionspotenziale dagegen nicht.

Dadurch reduziert der Wirkstoff die Intensität der afferenten Schmerzreize, die von der Peripherie in das zentrale Nervensystem geleitet werden. Infolge werden schmerzreflektorische Muskelverspannungen, die im Rahmen nahezu aller Erkrankungen des Bewegungsapparates resultieren, effektiv abgeschwächt.

Durch Senkung des nozizeptiven Inputs werden letztendlich Chronifizierungsprozesse vorgebeugt. Darüber hinaus hemmt Tolperison über den Mechanismus der Natriumkanal-Blockade die mono- und polysynaptische Reflex-Überaktivität auf spinaler Ebene, wie sie bei Spastik im Rahmen neurologischer Erkrankungen auftritt.

Klinische Studien belegen Wirksamkeit und Verträglichkeit

Hauptindikationsgebiet für Tolperison sind schmerzhafte Erkrankungen des Bewegungsapparates. Klinische Wirksamkeit und Verträglichkeit in den verschiedenen Indikationsgebieten wurden durch mehrere klinische Studien belegt. Auch bei Spastizität ist Tolperison wirksam, wie in einer prospektiven, doppelblinden, plazebokontrollierten klinischen Prüfung an 120 Patienten mit Spastik nach Apoplex gezeigt werden konnte. Die Schlaganfallpatienten wurden zwölf Wochen lang mit einer individuell optimalen Dosis (3-mal 2 bis 3-mal 6 Tabletten à 50 mg Tolperison pro Tag) behandelt.

Der primäre Zielparameter "Prä-Post-Differenz" der Mittelwerte der Ash-worth Scale, einer fünfstufigen Skala zur Beurteilung der Intensität der Spastik, zeigte bereits nach vier Wochen für die Patienten der Tolperisongruppe eine im Vergleich zu Plazebo signifikant bessere Wirksamkeit auf die Intensität der Spastik (p < 0,0001).

Darüber hinaus dokumentierten die Ergebnisse die gute Verträglichkeit besonders bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. In einer weiteren Studie konnte gezeigt werden, dass die Therapie mit Tolperison frei von sedierenden Einflüssen ist: Die Reaktionsfähigkeit unter dem Natriumkanal-Blocker unterscheidet sich nicht von Plazebo.

Kasten Natriumkanäle – nicht alle werden blockiert

Natriumkanäle sind membrandurchspannende Proteine und gehören zu den spannungsabhängigen Ionenkanälen. Sie sind entscheidend an der Auslösung von Aktionspotenzialen beteiligt. In verschiedenen Geweben sind unterschiedliche Subtypen lokalisiert, die sich geringfügig in ihrer Struktur unterscheiden.

Bisher konnten bereits zehn verschiedene Subtypen identifiziert werden, von denen einige ausschließlich am peripheren Nozizeptor lokalisiert sind. Studiendaten weisen darauf hin, dass Tolperison nicht alle Natriumkanäle gleichermaßen blockiert, sondern dass der Wirkstoff eine erhöhte Bindungsfähigkeit zum Subtyp 1.8 aufweisen soll. Dadurch ließen sich auch die fehlenden kardialen Nebenwirkungen erklären.

Kasten Hyperalgesie

Übersteigertes Schmerzempfinden auf einen ohnehin schmerzhaften Reiz.

Kasten Allodynie

Schmerzempfinden aufgrund eines Reizes, der normalerweise nicht schmerzhaft ist.

Quelle

Prof. Dr. med. Dieter Pongratz, München, Dr. med. Uwe Junker, Remscheid, Dr. med. Andreas Ruch, Bad Driburg, Dr. med. Katrin Kuhn, Hamburg; Mydocalm-Symposium "Erfahrungen mit Tolperison: Therapie von chronischen Rückenschmerzen und Spastizität", 2. November 2002, Tremsbüttel, veranstaltet von der Strathmann AG.

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