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Krankenkassen-Papier: Arzneimittelsektor soll GKV-Defizit ausgleichen

BERLIN/STUTTGART (hst). Mit tiefen Einschnitten bei den Arzneimittelausgaben wollen die Krankenkassen den erwarteten Beitragssatzsteigerungen um bis zu 0,3%-Punkte zum Jahreswechsel begegnen. Dies geht, wie die Apotheker Zeitung bereits berichtete (AZ Nr. 41), aus einem gemeinsamen Papier der GKV-Spitzenverbände hervor, das die Kassenverbände am 1. Oktober im Bundesgesundheitsministerium vorstellten. Vor dem Hintergrund des Defizits der gesetzlichen Krankenkassen von 2,5 Mrd. Euro (4,89 Mrd. DM) im ersten Halbjahr 2002 und einer tendenziell weiter sinkenden Einnahmenbasis sehen die Kassenverbände dringenden Handlungsbedarf für ein Sofortprogramm im Arzneimittelbereich zur Stabilisierung der Ausgabenentwicklung und zur Verbesserung der Einnahmensituation. Damit sollen die für den Jahreswechsel bereits angekündigten Beitragserhöhungen auf das unbedingt notwendige Maß reduziert werden.

Verwundern muss allerdings der plötzliche Sinneswandel bei den Krankenkassen. Noch Ende August hatte der Verband der Ersatzkassen erklärt, das Defizit beruhe wesentlich auf noch nicht ausgeglichenen Zahlungen im Rahmen des Risikostrukturausgleichs. Auch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hatte Anfang September bei der Vorlage der Finanzergebnisse des ersten Halbjahres erklärt, das Defizit werde durch Renten- und Tariferhöhungen sowie Sonderzahlungen im zweiten Halbjahr weitgehend ausgeglichen. Wie in der Vergangenheit wollen die Kassen wiederum vornehmlich bei den Arzneimittelausgaben sparen. Im Fokus stehen vor allem die Vertriebskosten und die Ausgaben für Arzneimittel, für die bislang keine Festbeträge gelten.

In einem gemeinsamen Papier fordern die Kassenverbände Korrekturmaßnahmen, die kurzfristig wirken und Beitragssatzerhöhungen in Grenzen halten oder vermeiden. Ein entsprechendes Vorschaltgesetz müsse daher unmittelbar nach Bildung der neuen Bundesregierung auf den Weg gebracht werden und möglichst zum 1. Januar 2003 in Kraft treten. Im wesentlichen müssten die Einsparungen aus dem Arzneimittelbereich finanziert werden. Hier seien dringend Korrekturmaßnahmen erforderlich, die sachlich mehr als gerechtfertigt und zudem wegen der rasanten Ausgabenentwicklung gut begründbar seien.

Die Kassenvorschläge im Einzelnen

Die Kassenverbände schlagen im Einzelnen folgende kurzfristig wirksamen Maßnahmen zur Dämpfung des Kostenanstiegs bei den Arzneimittelausgaben und zur finanziellen Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung vor:

  • Preisstopp für Nicht-Festbetragsarzneimittel Für Arzneimittel, die nicht der Festbetragsregelung unterliegen, soll für 2003 und 2004 ein Preisstopp und eine Absenkung der Preise um 10% gelten. Die erwartete Einsparung beträgt 800 Mio. Euro. Einen ähnlichen Vorschlag enthielt bereits der Entwurf des Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz (AABG), allerdings war dort ein Abschlag von 4% für 2002 und 2003 vorgesehen. Diese Regelung wurde durch die Einmalzahlung der forschenden Arzneimittelhersteller für die Jahre 2002 und 2003 ersetzt. Beobachter fragen sich, wie der Preisabschlag und die noch bis Ende 2003 laufende Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Pharmaindustrie in Einklang gebracht werden sollen.

  • Absenkung der Großhandelsspanne Die Handelsspannen des pharmazeutischen Großhandels sollen nach dem Vorschlag der Kassen um 25% abgesenkt werden. Sie erwarten Einsparungen von 400 Mio. Euro. Unerwähnt bleibt in dem Papier, dass eine solche Maßnahme unmittelbare Auswirkungen auf die Apotheken hätte, weil der Großhandel eine solche massive Kürzung wegen der niedrigen Erträge angesichts des ausgeprägten Wettbewerbs nicht kompensieren kann. Beobachter erwarten, dass diese Maßnahme weitgehend auf die Apotheken abgewälzt würde.

  • Kappung von Zuschlägen/Fixzuschläge Die Aufschläge für Arzneimittel im hochpreisigen Bereich sollen gekappt werden. Die möglichen Einsparungen beziffern die Kassen auf 300 bis 500 Mio. Euro. Als Alternative zur Kappung schlagen die Kassen die Umstellung auf ein Fixzuschlagssystem vor. Die Kassen weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Fixzuschläge entsprechend den gewünschten Einsparungen ausgestaltet werden könnten. Mit dieser Maßnahme, so die Begründung, werde die Arzneimittelpreisverordnung an den zunehmenden Anteil hochpreisiger Produkte am Arzneimittelmarkt angepasst.

    Sowohl die Reduktion der Großhandelsaufschläge als auch die Kappung im hochpreisigen Bereich erfordern eine Änderung der Arzneimittelpreisverordnung. Dies bedarf jedoch der Zustimmung des Bundesrates.

    Starke Belastung der Apotheken

    Nach vorläufigen Schätzungen würden allein diese drei Maßnahmen die Apotheken mit bis zu 914 Mio Euro (1,788 Mrd. DM) belasten. Würden die Vorschläge der Kassen so umgesetzt, würde dies Ertragsausfälle für jede öffentliche Apotheke von durchschnittlich 42 500 Euro bedeuten. Die Schätzung geht davon aus, dass im Großhandel ansetzende Maßnahmen aufgrund des harten Wettbewerbs dort nicht aufgefangen werden können und in Form von Konditionsverschlechterungen weitgehend auf die Apotheken abgewälzt werden.

    Außerdem: Positivliste, Versandhandel und mehr

    Als weitere Maßnahmen schlagen die Kassen vor:

  • Festsetzung von Festbeträgen durch die Selbstverwaltung Die Kassen fordern die sofortige Schaffung von Rechtssicherheit bei der Festbetragsregelung und Einschränkungen bei den Ausnahmen von der Festbetragsregelung bei so genannten Analogpräparaten. Die Festbetragsfestsetzung durch die Selbstverwaltung hat sich nach Meinung der Kassen als sinnvoll und steuernd erwiesen. Unerwähnt bleibt, dass die Aut-idem-Regelung, bei der die Kassenverbände zwar Vollzugsorgan bei der Bekanntmachung des unteren Preisdrittels sind, aber über keine Entscheidungskompetenzen verfügen, nach Einschätzung aus Industriekreisen zu wesentlich kurzfristiger greifenden Anpassungen des Preisniveaus an Marktveränderungen führt und somit Wirtschaftlichkeitsreserven wesentlich zeitnäher erschließt als die Festbetragsregelung jemals konnte.

    Angesichts der bisherigen Ratlosigkeit über die rechtssichere Gestaltung des Verfahrens gilt es als unwahrscheinlich, dass die Politik hier eine Entscheidung trifft, solange die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof nicht abgeschlossen sind.

  • Mengensteuerung Um eine effiziente Mengensteuerung zu erreichen, sind nach Meinung der Kassen Budgetvorgaben auf Dauer unverzichtbar. Ausgehend von den auf Bundesebene für das Jahr 2002 den Kassenärztlichen Vereinigungen vorgegebenen Ausgabenrahmen müssten noch im laufenden Jahr Ausgabenobergrenzen für das Jahr 2003 gesetzlich vorgeschrieben werden und mit einer uneingeschränkten Honorarhaftung der Ärzte verbunden werden.

    Bislang ist die Durchsetzung von Ausgabenobergrenzen bei den Arzneimittelausgaben daran gescheitert, dass kein rechtssicheres Verfahren zur Umlage der Honorarkürzungen auf die Vertragsärzte in den jeweiligen KVen zur Verfügung stand. Hierzu enthält das Kassenpapier ebenfalls keinen Vorschlag.

    Als Alternative zu den Budgets schlagen die Kassen entsprechend der Vertragssituation in Nordrhein und Berlin vor, dass flächendeckend kombinierte Budgets einzuführen seien, die die vertragsärztlichen Honorare mit der Ausgabenobergrenze für Arznei- und Heilmittel verknüpfen. Hierfür müssten verbindliche gesetzliche Vorgaben geschaffen werden.

  • Versandhandel/E-Commerce Durch die Lockerung des Versandhandelsverbots seien kurzfristig Wirtschaftlichkeitsreserven von 400 Mio. Euro realisierbar, so die Kassenverbände. Insbesondere für die Versorgung von chronisch kranken Patienten, z. B. in Disease Management Programmen, sei unter Kontrolle eines Arztes ein wirtschaftlicher, qualitätsgesicherter und patientengerechter Bezugsweg zu installieren. Beobachter schließen nicht aus, dass sich hinter dieser alles andere als klaren Formulierung eine Forderung der Kassen verbergen kann, Patienten in Disease Management Programmen grundsätzlich über Versandapotheken zu versorgen.

  • Positivliste Von dem unverzüglichen Inkraftsetzen der Positivliste erhoffen sich die Kassen ein Zeichen für eine rationalere und rationellere Arzneimittelpolitik. Allerdings bedarf die entsprechende Rechtsverordnung, deren Entwurf bislang nicht vorliegt, ebenfalls der Zustimmung des Bundesrates. Die Union lehnt jedoch die Positivliste ab.

  • Arzneimittel-Richtlinien Die bereits 1999 beschlossene Neufassung der Arzneimittel-Richtlinien sollte mit der rechtlichen Absicherung der Aufgabenstellung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen unverzüglich in Kraft gesetzt werden. Mit dem Inkraftsetzen der Arzneimittel-Richtlinien werden präzisere, an bestimmte medizinische Bedingungen geknüpfte Verordnungsvorgaben für die Vertragsärzte geschaffen.

  • Absenkung des Mehrwertsteuersatzes Die Kassenverbände haben sich die von Industrie und Apothekerschaft seit Jahren erhobene Forderung nach Senkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel zu eigen gemacht. Die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes von sieben Prozent auf Arzneimittel anstelle von 16% würde auf einen Schlag die Krankenkassen um 1,6 Mrd. Euro entlasten. Angesichts der gewaltigen Löcher in den öffentlichen Haushalten gilt es jedoch als unwahrscheinlich, dass der Finanzminister hier nachgibt.

  • Aufhebung der Apothekenpflicht für Impfstoffe Erst die Einführung der Apothekenpflicht für Impfstoffe 1994 führte nach Meinung der Kassen zu einer Verteuerung der Impfstoffe um die Handelsspanne der Apotheken. Durch die Abschaffung der Apothekenpflicht wäre es, so die Kassen, den Ärzten und Krankenkassen wieder möglich, Impfstoffe zu Großhandelspreisen zu beziehen. Bei einem derzeitigen durchschnittlich geschätzten Apothekenaufschlag von ca. 15% gehen die Kassen von einem Einsparpotenzial in Höhe von rd. 75 Mio. Euro aus.

    Ferner fordern die Kassen eine Flexibilisierung der Hilfsmittelversorgung. Die Krankenkassen seien bei der Hilfsmittelversorgung bislang weitgehend auf die Rolle als Kostenträger beschränkt. In einem stark ausdifferenzierten Markt mit weitgehend kartellierten Strukturen müssten Anreize zu einem aktiven Nachfragemanagement gesetzt werden. Den Krankenkassen müsse deshalb das Recht eingeräumt werden, bei der Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln unter den zugelassenen Leistungserbringern auszuwählen und Aufträge an preisgünstige Leistungserbringer zu vergeben. Ferner sei eine klare gesetzliche Definition zur Abgrenzung des Hilfsmittelbegriffs in der gesetzlichen Krankenversicherung und der Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens unerlässlich.

    Entlastung von versicherungsfremden Leistungen

    Weiterhin enthält das Papier Vorschläge zur Entlastung der Kassen von versicherungsfremden Leistungen, zur Stärkung der Finanzgrundlagen und zur Vermeidung einer weiteren Erosion der Beitragsgrundlagen. Als Beispiele krankenversicherungsfremder Leistungen, die aus der Verantwortung der Krankenkassen in die staatlich finanzierte Versorgung verlagert werden sollten, nennt das Papier

  • die Versorgung der Versicherten bis zum vollendeten 20. Lebensjahr mit empfängnisverhütenden Mitteln,
  • die Leistungen bei einer nicht-rechtswidrigen Sterilisation und bei einem nicht-rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft, soweit nicht medizinisch begründet,
  • Mutterschaftsgeld und Entbindungsgeld,
  • Sterbegeld,
  • Krankengeld bei Erkrankungen des Kindes.

    Eine Herausnahme der genannten versicherungsfremden Leistungen aus dem Leistungsrahmen der GKV würde die GKV um ca. 2 Mrd. Euro entlasten. Nachdrücklich warnen die Kassen davor, dass es bei der Umsetzung von sozialpolitischen Reformen zu keinen neuen Erosionen der Finanzgrundlagen der GKV kommen darf. Risiken für mögliche Einnahmeausfälle mit gleichzeitigen Ausgabenerhöhungen sehen die Kassen offensichtlich z. B. bei der Ausweitung der Geringfügigkeitsgrenze oder der Reform von Sozial- und Arbeitslosenhilfe.

    Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass im Bundesgesundheitsministerium an einem möglichst zum 1. Januar 2003 in Kraft tretenden Vorschaltgesetz, d. h. ein Bündel von kurzfristig wirkenden Maßnahmen zur Begrenzung der Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung, bereits gearbeitet wird. Beobachter erwarten, dass es hierzu nach der Regierungsbildung mehr Klarheit geben wird.

  • Mit tiefen Einschnitten bei den Arzneimittelausgaben wollen die Krankenkassen den erwarteten Beitragssatzsteigerungen um bis zu 0,3%-Punkte zum Jahreswechsel begegnen. Dies geht aus einem gemeinsamen Papier der GKV-Spitzenverbände hervor, das die Kassenverbände am 1. Oktober im Bundesgesundheitsministerium vorstellten. Vor dem Hintergrund des Defizits der gesetzlichen Krankenkassen und einer tendenziell weiter sinkenden Einnahmenbasis sehen die Kassenverbände dringenden Handlungsbedarf für ein Sofortprogramm im Arzneimittelbereich zur Stabilisierung der Ausgabenentwicklung und zur Verbesserung der Einnahmensituation 

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