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Na bitte, wenn das kein Erfolg ist! Die Vertreter des Apothekerverbandes Nordrhein müssen überzeugend argumentiert haben. Nach einem nicht einfachen Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der in Duisburg ansässisigen NOVITAS Vereinigte BKK hat dieser eine Kehrtwendung vollzogen. Fazit: Die NOVITAS wird ihre rechtlich unter verschiedensten Gesichtpunkten völlig unzulässigen Versuche aufgeben, ihre Versicherten einer Versandapotheke in Venlo zuzuleiten (siehe dazu DAZ aktuell).

Es mag sein, dass der BKK-Vorstandvorsitzende angesichts einer klaren Rechtslage einfach nur kalte Füße bekommen hat. Vielleicht hat er aber auch gespürt: Wenn unseren Mitgliedern klar wird, dass wir in diesem einen Fall einen sehr, sehr lockeren Umgang mit bestehenden rechtlichen Vorschriften gepflegt haben, könnte das zum Bumerang für uns werden. Die Mitglieder könnten (mit oder ohne Nachhilfe) auf die Idee kommen, dass ihre Krankenkasse auch auf anderen Gebieten locker zum Rechtsbruch bereit ist z. B. dort, wo Interessen der Kasse mit denen von Mitgliedern in Konflikt stehen.

Der Schwenk des BKK-Bosses ist beachtlich, weil er so gar nicht im Mainstream zu liegen scheint. Besonders in der new economy gilt es ja immer noch als schick, sich kalt lächelnd über bestehendes Recht hinwegzusetzen. Die Absicht, mit neuen Kräften angeblich verkrustete Strukturen aufzubrechen, heiligt aus dieser Sicht nahezu jedes Mittel. Auch wenn man über manche Rechtsnormen durchaus streiten kann solange sie nicht geändert sind, muss man sie auch gegen sich gelten lassen. Das gilt zum Beispiel für das Bekleidungshaus C&A. Es hat sich unlängst mit einer Rabattaktion über bestehendes Recht brutal hinweggesetzt und wurde dafür in fast allen Medien gefeiert.

Es gilt auch für Jens Apermann, den Ex-Marketingdirektor bei DocMorris; er konnte fast unwidersprochen die Parole ausgegeben, solange die Gerichte noch gegen DocMorris entschieden, werden man eben die Doof-Karte spielen und das bestehende Recht austricksen, frei nach dem Motto: legal, illegal, schÖegal. Mit ihm scheinen auch etliche Vertreter von gesetzlichen Krankenkassen den offenen Normenbruch zum Hebel für angestrebte Rechtsänderungen benutzen zu wollen. Die angeblich nicht zu zähmende Wucht der Globalisierung wird als Rechtfertigung vorgeschoben. Globalisierung und Deregulierung werden zu geschichlichen Mächten überhöht, denen sich niemand entziehen könne.

Dass dies blanker Unsinn ist, ist eine relativ neue Einsicht. Der Mainstream, den unsere Medien weiter brav füttern, hat noch nicht wahrgenommen, dass wir die Ambivalenz der Globalisierung und Deregulierung nicht übersehen dürfen. Noch ist in der praktischen Politik, auch in der Gesundheitspolitik nicht angekommen, dass wir die Globalisierung wenn schon, denn schon gestalten müssen. Wir dürfen uns ihr nicht unterwerfen, wenn die Welt nicht außer Rand und Band geraten soll.

Ralf Dahrendorf, der große liberale Denker, gewiss kein Radikaler, hat die Zusammenhänge Ende November letzten Jahres in einer seiner Krupp-Vorlesungen (Welt ohne Halt) vor dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen meisterlich herausgearbeitet: Globalisierung wurde zum großen Alibi, meist für wachsende Gewinne bei schrumpfenden Dienstleistungen. Denn Globalisierung hieß immer auch die Ermutigung eines zunehmend gewinnorientierten Kapitalismus, der die Fesseln korporatistischer Einbindung, langfristiger Verantwortung und sozialer Verpflichtung abgelegt hatte. Die Globalisierung könne sich durchaus als Episode, als ein vorübergehender Irrweg des Kapitalismus erweisen. Bindungen gehen verloren, die Orientierung liefern. Ohne solche Bindungen sind für Dahrendorf auch Recht, Gesetz und Ordnung in Gefahr. Denn hinter der Anomie, der Regellosigkeit, der Beliebigkeit allen Tuns lauere die Diktatur.

Was lernen wir daraus für unsere Situation? Was sollten die Krankenkassen, was der Gesetzgeber daraus lernen? Hüten wir uns vor rechtsfreien Räumen! Sie haben meist nur einen Ausgang: den in Ungerechtigkeit und letztlich Tyrannei, in eine Welt, wo (Hobbes lässt grüßen) jeder Mensch des anderen Wolf ist. Wenn der eine oder andere unter den rechtvergessenen Modernisierern in den Krankenkassen gemerkt haben sollte, wie gefährlich für uns alle der Bazillus der Anomie (Dahrendorf) werden kann es wäre ein Grund zur Freude.

PS: Die Vorlesung Welt ohne Halt von Ralf Dahrendorf ist in der Ausgabe Januar 2002 von Universitas, der in unserer Verlagsgruppe erscheinenden Kulturzeitschrift, publiziert.

Klaus G. Brauer

Legal, illegal, sch...egal - Anomie als Risiko

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