Berichte

Lesmüller-Vorlesung 2002: Moderne Wirkstoff-Forschung – eine interdiszipl

Die Dr. August und Dr. Anni Lesmüller-Stiftung tritt mit einer besonderen Festvorlesung einmal jährlich an einer bayerischen Universität vor die Öffentlichkeit. Für die heurige 5. Lesmüller-Vorlesung war Regensburg ausgewählt. Im Rahmen eines gemeinsamen Symposiums mit der dortigen DPhG-Regionalgruppe sprach am 12. Juni der langjährige Ordinarius des Instituts für organische Chemie der Universität Regensburg, Prof. Dr. Gottfried Märkl, zum Thema "Moderne Wirkstoff-Forschung Ų eine weltweite interdisziplinäre Herausforderung".

Sorge um die Zukunft der Pharmazie

Professor Sigurd Elz, Hausherr und Geschäftsführer des dortigen Instituts für Pharmazie, betonte in seiner Begrüßung der zahlreichen Ehrengäste und der teils von weit angereisten Zuhörerschaft den regen Kontakt der Regensburger Pharmazie zur Lesmüller-Stiftung.

Es sei erfreulich, dass so viele seiner Studenten und Mitarbeiter mit Buchpreisen und Reisestipendien der Stiftung ausgezeichnet wurden. Trotzdem könne nicht übersehen werden, so Elz, "unser Berufsstand steht bedrohlich am Abgrund". Nur in dauernder Weiterentwicklung und fachübergreifendem Austausch sehe er eine Chance, dass die Pharmazie als Hochschulfach überleben kann.

Öffentlichkeitsarbeit im Sinne Lesmüllers

"Nie war die Zahl der Apotheker, der Apotheker-Studierenden, aber auch der brennenden Probleme so groß wie heute." Auch Dr. Hermann Vogel, der Vorsitzende des Stiftungsrates, zeigte sich besorgt. Mit ihrem Stiftungsziel, der "Förderung der Pharmazeutischen Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Arzneimittels und der Aufgabenstellung des Apothekers in Geschichte und Gegenwart", wirke die Lesmüller-Stiftung mitten in den Spannungsfeldern, denen sich die Pharmazie und der Apothekerberuf und seine Organisation in der Gegenwart ausgesetzt sehen.

Einen markanten Beitrag zur Öffentlichkeitsarbeit im Sinne Lesmüllers leistet die alljährliche Festvorlesung, auch heuer wieder der modernen Arzneimittelentwicklung gewidmet. Die Aufklärung der Bevölkerung über die Rolle des Apothekers und des Berufsstandes innerhalb des Gesundheitswesens sei momentan besonders wichtig.

Die Stiftung fördert daher die Erstellung von Gutachten und Denkschriften, mit denen man hofft, umstrittene und verzerrte Darstellungen von Arzneimittelwesen und Berufsbild – ganz besonders in den Medien, wie Vogel betonte – zurechtrücken und Auseinandersetzungen in Politik und Gesellschaft im richtigen Sinn beeinflussen und steuern zu können.

Der weitaus größte Teil der zur Verfügung stehenden Mittel fließt in die Förderung der pharmazeutischen Wissenschaft. Studien wie "der Pharmaziepraktikant auf Station", die "Versorgung von Schmerzpatienten", der "Praxisdozent für klinisch-pharmazeutische Praxis" sind nur einige der aktuell geförderten Forschungsprojekte. Gemeinsames Anliegen von Apothekerkammer und Lesmüller-Stiftung und wichtiger Förderungsschwerpunkt sind die neuen Arzneimittelinformationsstellen. In Regensburg sind diese in die Studentenausbildung mit eingebunden – ein bundesweit erstmaliges "Vorzeigeprojekt" (siehe DAZ 23, S. 74).

Motivationsschub für die Pharmazie

Frau Dr. Lesmüller, hoch in den Neunzigern, konnte nicht an dem Festereignis teilnehmen. Dr. Vogel dankte ihr für die überaus vorausschauende und großzügige Stiftung, deren Stiftungsziele noch zu Lebzeiten von Dr. August Lesmüller festgelegt worden waren. Mit einem zukünftigen Jahresetat von 500 000 Euro zählt sie zu den zehn größten deutschen Stiftungen und kann ohne weiteres z. B. mit der in der Allgemeinheit bekannteren VW-Stiftung verglichen werden. "Sie bringt einen riesigen Motivationsschub für die ganze Pharmazie und die Bayerische Landesapothekerkammer."

Pharmazie, schon immer interdisziplinär

Der Festredner, Professor Märkl, vor 25 Jahren Organisator und Aufbaumanager der Fakultät Chemie / Pharmazie der damals neuen Regensburger Universität und der dortigen Pharmazie nicht nur nachbarlich verbunden, bezeichnete einleitend die moderne Wirkstoff-Forschung – und damit letztendlich das Fach Pharmazie generell – als das interdisziplinärste Forschungsgebiet der naturwissenschaftlichen Forschung: Pharmazeuten, Chemiker, Pharmakologen, Physiologen, Biologen und Kliniker arbeiten dort seit langem Hand in Hand. Lediglich die Schwerpunkte haben sich in den Jahrzehnten verlagert: von der Chemie zu den Biowissenschaften.

Zu Aspirin-Zeiten – 1899 in den Markt eingeführt und mit einer Jahresproduktion von 50 000 Tonnen nach wie vor erfolgreichstes Arzneimittel der Menschheit – war Pharmaforschung noch eine Sache der Chemiker. "Heute würde Aspirin wegen seiner Unspezifität und der zu hohen Dosen die Hürden der klinischen Prüfungen nicht mehr schaffen", so Märkl; selbst die Entdeckung der Thrombozytenaggregationshemmung zweifelte er aus heutiger Sicht an. Die Entdeckung der Cyclooxygenasehemmung als Wirkweise der ASS war aber immerhin nobelpreiswürdig.

"Blockbuster"-Philosophie

Moderne Wirkstoff-Forschung orientiert sich im 21. Jahrhundert an molekularen Vorgängen. Das aber macht sie so immens teuer. Die Entwicklungskosten eines neuen Arzneimittels klettern in Höhen von 500 Millionen Euro. Das führte in der Pharmaindustrie zur "Blockbuster"-Philosophie.

"Ohne mindestens drei solcher Spitzenreiter in der Pipeline kann eine Firma nicht mehr wirtschaftlich arbeiten. Gleichzeitig erhöht sich aber die Gefahr von wirtschaftlichen Einbrüchen, wie es mit Lipobay zu erleben war." Sowohl totalsynthetisch hergestellte Medikamente wie zahlreiche Naturstoffe entwickelten sich zu solchen "Milliardenmolekülen".

Die Chinolone, die als Gyrasehemmer den Markt eroberten, sind eindrucksvolle Beispiele für die rein synthetisch-chemische Entwicklung eines Wirkstoffs. Sie wurden in einem "simplen" Dreistufenverfahren (nach Karl Grohe) synthetisiert.

Über bekannte Vorläufer wie das Norfloxacin gelangte man schließlich zum Fluorchinolon Ciprofloxacin, als Ciprobay einer der Glückstreffer der Firma Bayer. Aber erst durch Aufklärung des Wirkungsmechanismus – Chinolone hemmen die von der Gyrase gesteuerte Entspiralisierung und damit die Replikation der bakteriellen DNA – war Chinolon zur "lead structure" geworden. In der jetzt 3. Generation mit Moxifloxacin oder Gatifloxacin ist die bakterizide Wirkung um ein Vielfaches stärker.

Resistenzbildung – ein schwer lösbares Problem

Trotzdem war auch bei inzwischen etwa 150 therapeutisch verwendeten Antibiotika das Problem der bakteriellen Resistenzbildung nicht in den Griff zu bekommen. So war dem natürlichen Glykoproteid-Antibiotikum Vancomycin ein durchschlagender Erfolg beschieden, war dieses doch endlich auch gegen Staphyloccocus aureus wirksam.

Man hatte es erstmals aus einer Bodenprobe aus dem Dschungel von Borneo isoliert. 30 Jahre dauerte es, bis für die ungleich komplexere Verbindung die molekulare Wirkweise erklärt werden konnte (Hemmung des Aufbaues von bakteriellen Zellwand-Peptidoglykanen), weitere zehn Jahre, bis eine Synthese des Aglykons gelang.

Hochkomplizierte Synthesen dieser Art haben keine ökonomische Bedeutung, betonte Märkl. Die Kenntnis der Struktur und Reaktivität einer solchen Verbindung schafft aber Möglichkeiten zur Erstellung kombinatorischer Bibliotheken, in diesem Fall von semisynthetischen Vancomycinen.

Vom Zufallsfund zum Kassenrenner

Märkl berichtete von einer Vielzahl ähnlicher "Zufallsfunde", die der Traum eines jeden Ethnopharmakologen, Ethnomediziners, Zoopharmakognosten oder sonstigen Urwaldforschers sind. Manchmal liegt das Glück auch vor der Haustüre.

Der Pilzspezialist Anke fand 1976 vor seinem Haus in Kaiserslautern einen Tannenzapfen mit einem unscheinbaren Pilz (Strobilurus tanacellus) darauf. Eine darin enthaltene, einfach gebaute Verbindung zeigte höchste antifungale Aktivität. Auch hier war die Natur Ideengeber. Nach Jahren der Erforschung des Wirkmechanismus, der Strukturabwandlungen und der Patentkämpfe erwuchs der BASF ein Blockbuster im Pflanzenschutz. Prognostiziertes Umsatzvolumen: zwei Milliarden Euro.

Zelluläre Synthesefabriken der Natur

Die Meeresflora und -fauna bietet ein weiteres unerschöpfliches Reservoir für marine Wirkstoffe und Toxine. Denn die durch "das Fegefeuer der Evolution gelaufenen zellulären Synthesefabriken der Natur" übertreffen alles, was die großen Pharmafirmen an "Highchem" leisten können, betonte Märkl.

Bekanntestes Beispiel für Pharmazeuten dürfte der Tumorhemmstoff Paclitaxel (Taxol) sein. Seine Geschichte füllte die Fachpresse über 20 Jahre lang, seine Erforschung, Gewinnung und Synthese beschäftigte die besten Spezialistenteams aus der Naturstoffchemie, Biotechnologie, Botanik oder Molekularpharmakologie.

Nach gleichem Wirkprinzip wie Paclitaxel funktionieren die 20 Jahre später im Uferschlamm des südafrikanischen Flusses Sambesi entdeckten Epothilone A bis E: Auch sie binden während der Mitose an die Mikrotubuli und stabilisieren diese so stark, dass die Zellteilung blockiert wird. Diese Makrolide begründen aber auch neue Wege der kombinatorischen Synthese. Unter Zuhilfenahme bahnbrechender (von der Berichterstatterin nie gehörter) Technologien (Micro Kans, Micro Tubes, SMART-Mikroreaktoren) wird derzeit eine Epothilonbibliothek aufgebaut.

Naturstoff- versus computergesteuerte Forschung

Trotz solcher beeindruckender Ergebnisse ging in den 90er-Jahren die Naturstoff-Forschung in der Erwartung effizienterer Ergebnisse beim computergesteuerten Drug Design und der virtuellen Synthese zurück.

In immer schnelleren Rhythmen lösen sich immer kompliziertere Vorgehensweisen ab:

  • Rezeptorbasiertes Drug-Design setzt die Kenntnis der dreidimensionalen Rezeptorstruktur voraus – hier sind die Röntgenstrukturanalytiker gefragt.
  • Molecular Modelling erfordert das Wissen um die Wechselwirkungen von Liganden und Biomolekülen. "Molecular Modelling Spezialisten sind die neuen Instrumentalisten im großen Orchester der Wirkstoff-Forscher."

Kombinatorische Biochemie . . .

Neue Horizonte für die Synthese von Wirkstoffen eröffnet die kombinatorische Biochemie. Hybridenzyme vermögen zig Varianten neuer Wirkstoffe zu katalysieren. Seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms weiß man auch, dass etwa 1000 Gene an der Entstehung der häufigsten Krankheiten beteiligt sind.

Schon aber wird die Genomforschung von der Proteomforschung (der Erforschung aller durch ein Zellgenom exprimierten Proteine; ein Gen liefert die Baupläne für durchschnittlich etwa zehn Eiweißmoleküle) überholt, bietet sie doch ca. 10 000 Targets mehr für die Strukturchemiker und Strukturbiologen, die "die richtigen Schlüssel zum Knacken der Schlösser" finden müssen.

Als eleganten Ansatz, der keinerlei Kenntnis der Raumstruktur des Proteins voraussetzt, bezeichnete Märkl die "gerichtete In-vitro-Evolution im Reagenzglas im Zeitraffer", z. B. zur Erzeugung von enantioselektiven Biokatalysatoren und von Enzymen mit erhöhter Stabilität und Aktivität. Nach wie vor aber stellt die Findung von Wirkstoffen, die an den komplexen, dreidimensionalen Proteinstrukturen andocken, eine gewaltige Herausforderung an die Chemie dar.

. . . und Gen-basierte Wirkstoffe

Die Gen-basierte Wirkstoffentwicklung ist da wesentlich weiter. Von den etwa 70 gentechnisch hergestellten Wirkstoffen – Insuline, Hirudine, Interferone – kommt der neuen Generation der monoklonalen Antikörper besondere Bedeutung zu, auch wenn sich die Hoffnungen für die Tumorbekämpfung nicht voll erfüllt haben, denn die murinen Antikörper (aus der Maus) werden vom menschlichen Immunsystem "gefressen".

Nach 25 Jahren Forschung weiß man nun, dass die murinen Antikörper "humanisiert" werden müssen: Einige Teile müssen gentechnisch ersetzt werden. So spricht man von murin-humanen Antikörper-Chimären (50% Maus-, 50% Human-Antikörper) oder humanisierten Antikörpern (10% Maus-Antikörper). Für die Wirkung reichen sterisch passende Bruchstücke eines solchen Antikörpers oft schon aus.

Seit 1998 wurden sechs gentechnisch hergestellte chimäre Antikörper zugelassen, u. a. Rituximab zur Therapie des Non-Hodgkin-Lymphoms oder Trastuzumab zur Therapie des Mammakarzinoms.

Mit Cybernom zum maßgeschneiderten Medikament

Gen-Mikrochips, DNA-Mikroarrays, Nanotechnik, um den Wirkstoff an den Ort des Geschehens zu transportieren, Cybernom – die virtuelle Zelle als Computermodell sämtlicher biologischer Zellvorgänge, die einmal zum maßgeschneiderten Medikament führen könnte! In immer schwindelerregendere Höhen und Aussichten der "chemischen Bergwelt" – zumindest für Otto Normalpharmazeut – stieg der Redner mit seiner Schilderung des derzeitigen Standes der Forschung empor.

Biomedizinische Chemie – ein neues Aufbaustudium

Märkls Fazit am Ziel: Alle Bereiche der Wirkstoff-Forschung – Analytik, Spektroskopie, Biologie, Chemie, Pharmazie, Informatik, Medizin und Physik – fordern Spezialisten, die aber zugleich teamfähig sein müssen. Nur ein Team sei in der Lage, durch Synergismen die erforderliche geballte Intelligenz zu sichern. "Wir brauchen aber auch den General, der entsprechende Strategien entwickelt und koordiniert."

Von einer Fachkommission aus all diesen Fakultäten wurde bereits ein Lehrinhaltskatalog für das neue Aufbaustudium der "Biomedizinischen Chemie mit Schwerpunkt Wirkstoff-Forschung" erarbeitet. Nach sechs Semestern Grundstudium in den Fächern Chemie, Biologie oder Pharmazie mit Diplom- oder Bachelor-Abschluss (B.Sc.) könne im 7. bis 10. Semester das Aufbaustudium als Masterstudium (M.Sc.) angeschlossen werden.

Wärmstens empfahl Märkl den pharmazeutischen Hochschullehrern, einen Diplom- oder B.Sc.-Abschluss für das Pharmaziestudium zu etablieren. Dann sei ihm um das Universitätsfach Pharmazie nicht bang!

Zitate:

Vancomycin ist der Mount Everest der chemischen Landschaft. R. Nicolaoou, Entdecker der Vancomycin-Synthese, 1998

Die Natur verfügt über Abwehrsysteme mit definierten Funktionen, die über Jahrmillionen optimiert sind – Waffensysteme, um sich gegen natürliche Feinde zu wehren – Waffensysteme, die für den Menschen bei richtiger Dosierung Wirkstoffe sein können. Prof. Dr. Gottfried Märkl

Die Totalsynthese von Chlorophyll durch Woodward war alpiner Schwierigkeitsgrad 6. Prof. Dr. Gottfried Märkl

Aus dem Antibody ist durch Molekül-Striptease ein Minibody geworden. Prof. Dr. Gottfried Märkl

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