Feuilleton

Ötzis Tod – Rekonstruktion eines Mordes

Vor gut 5000 Jahren starb ein Mann einsam in den Ötztaler Alpen. Der Fund im Spätsommer 1991 war eine Sensation. Denn er ist die älteste vollständig erhaltene Feuchtmumie. Zum ersten Mal sind anatomische Studien an einem Menschen aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. möglich. Jetzt dienen sie dazu, über seinen gewaltsamen Tod zu spekulieren.

Der Similaunmann, gemeinhin Ötzi genannt, hat auch nach mehr als zehn Jahren seiner Erforschung noch immer nicht alle Geheimnisse preisgegeben. Ein Heer von Wissenschaftlern beugt sich über ihn und wendet alle modernen Künste an, um eines Tages sein Leben und Sterben erzählen zu können.

Der Eifer der vielen Mediziner, Pharmakologen und Biologen, der Physiker, Chemiker, Metallurgen, Dendrologen, Archäologen, Glaziologen und Prähistoriker, der Kulturhistoriker und Kriminologen muss kanalisiert werden. Denn der Mann aus dem ewigen Eis ist seit seiner Entdeckung am 19. 9. 1991 Ursprung und Mittelpunkt eines weltumspannenden Netzes von Wissenschaftlern, die er – 5300 Jahre nach seinem Tod – zu immer neuen Höchstleistungen und technischen Innovationen anstachelt. Die Koordination der Forschung übernimmt der wissenschaftliche Beirat unter der Leitung des Humanbiologen Horst Seidler von der Universität Wien.

Ötzi sah gut aus ...

Es war ein gutgekleideter Mann der (auf das Neolithikum folgenden) Kupferzeit, der sich am Hauslabjoch, unterhalb des vergletscherten, 3600 m hohen Gipfels des Similaun, zu Boden legte und sein letztes Stündlein erwartete. Er war, vom Vintschgau kommend, auf dem Weg gen Norden gewesen. Das belegen Moose, die man bei ihm gefunden hat, und Pollen der Hopfenbuche (Ostrya carpinifolia) in seinem Magen. Dieser im späten Frühling blühende Baum wächst nur südlich des Alpenhauptkammes. Ötzi muss sich zwölf Stunden vor seinem Tod noch dort aufgehalten haben, vermutlich in einer Siedlung am Eingang zum Schnalstal in der Nähe des Schlosses Juvenal. Die Hopfenbuchen-Pollen datieren seinen Tod auf den Juni. Der Gletschermann hätte also wegen eines Überfalls auf seine Siedlung hinauf zur Passhöhe geflüchtet und dort umgekommen sein können. Die gebrochenen Rippen könnten von einem Sturz herrühren. – So lauteten die ersten Spekulationen über sein Ende.

Ötzi trug eine Bärenfellmütze, seine Kleidung war aus gegerbtem Fell. Das knielange Obergewand aus Fellflecken von Hirsch und Ziege war von innen zusammengenäht. Dadurch ergab sich ein farblicher Kontrast, der damals vielleicht Mode war. Lendenschurz und Beinröhren waren aus Ziege gefertigt. Die Lederschuhe nach Art indianischer Mokassins hatte er gegen die Kälte innen mit Heu ausgestopft. Zusätzlich schützte er sich mit einem 90 cm langen Grasmantel gegen den Regen. Es konnten erstaunlicherweise keine Textilien identifiziert werden. In Ötzis Kalbledergürtel steckten ein Beil, ein Dolch und ein Beutel mit Zunderschwamm, Feuerstein und weiteren Utensilien. Zwölf unfertige und zwei zerbrochene Pfeile samt Köcher und Bogen trug er bei sich, zwei Kästchen aus Birkenborke, ein Beutelchen mit Pilzen und eine Rückentrage, die aus gebogenem Haselstock, Lärchenholzbrettchen und Ziegenfell gefertigt war.

... und war wohl nicht ganz arm

Weshalb der 45,7 Jahre alte Mann in dieser unwirtlichen Gegend starb, wird nun schrittweise enthüllt. Man fand im hinteren Ötztal mehrere Felsüberhänge, die als Rast- und Schutzplätze angesehen werden. Die Jäger der mittleren Steinzeit hatten das Gebiet oberhalb der Baumgrenze noch durchstreift, um die reichen Wildbestände zu bejagen. In der Kupferzeit dagegen nutzten die Zeitgenossen des Gletschermannes diese Krautrasen bereits als Weiden für ihre Schafe und Ziegen. Der Übergang am Hauslabjoch diente also schon vor 6000 Jahren zur Wanderweidewirtschaft, das heißt zum Almtrieb. Ötzi war vielleicht gar nicht auf der Flucht von einem Tal ins andere, sondern wollte dort oben nach seinen Ziegenhirten sehen.

Der Gletschermann lebte in einer Zeit reger Handelsbeziehungen. Seine sechs Flint-Feuersteine (Silex) stammen aus Ceredo in den Lessinischen Bergen östlich des Gardasees, wo sie damals bereits bergmännisch gewonnen wurden. Den regen Handel belegt auch die Schneide seines Beils, die zu 99,7 Prozent aus Kupfer besteht, das möglicherweise aus Nordtirol stammt. Über dieses Beil gibt es unterschiedliche Ansichten. Für Eduard Egarter-Vigl vom Bozener Archäologiemuseum, das den Gletschermann umsorgt und ausstellt, ist es eine absolute Rarität der Zeit und deshalb ein Beleg für die gesellschaftliche Ausnahmestellung seines Trägers.

Konrad Spindler, der Frühgeschichtler der Universität Innsbruck, der als Erster die Bedeutung der gefundenen Leiche erkannt hatte, hält das Kupferbeil dagegen für ein weit verbreitetes Produkt seiner Zeit, der Kupferzeit eben. Und für Werner Schoch vom Labor für quartäre Hölzer in Langnau in der Schweiz stellt der Holm aus Eibenholz eine Einmaligkeit der Zeit dar. Wie dem auch sei, in jedem Falle weist seine zarte Knochenstruktur darauf hin, dass der Mann keiner geregelten schweren Arbeit nachgegangen sein konnte. Ein Leben als einfacher Hirte scheidet deshalb aus.

Einsam mit leerem Magen

Wie Ötzi sein Leben verbrachte, wurde bis in den Nanobereich analysiert. Forscher der Universität Graz haben mit der Energie-filternden Transmissionselektronenmikroskopie (EFTEM), mit der sie weltweit im Spitzenfeld der Elektronenmikroskopie liegen, die Lunge des Toten untersucht. Der darin gefundene Dreschstaub lässt auf ein bäuerliches Leben schließen, die mineralischen Stäube, vor allem Muskovit und Illit, beweisen, dass er im Vintschgau lebte. Und die zahlreichen Rußablagerungen zeigen, dass er viel am offenen Feuer gesessen haben muss. Geraucht hat er nicht.

Obwohl er etwas getrocknetes Hirschfleisch bei sich trug, hatte Ötzi während seiner letzten zwölf Stunden nichts gegessen. Sein Magen war nahezu leer. Ein paar Fasern Fleisch, entweder vom Steinbock oder der Gämse, und kümmerliche Reste von Einkorn, das er als Brot gegessen haben muss, konnten bisher identifiziert werden. Auf einem Lederbändchen aufgefädelt, trug er zwei walnussgroße Klümpchen des Birkenporlings Piptoporus betulinus bei sich. Möglicherweise versuchte Ötzi damit seine Infektion mit Peitschenwürmern (Trichuris trichiura) und chronischen Durchfall zu bekämpfen. Denn die Inhaltsstoffe des Pilzes – verschiedene Indolalkaloide – wirken laxativ, vermifug und mild halluzinogen.

Akupunktur 2000 Jahre vor den Chinesen

Eine ganz erstaunliche Entdeckung waren die 47 strichförmigen Tätowierungen, die in 15 Gruppen zusammengefasst sind. Alle Striche verlaufen parallel zur Körperachse. Sie sprechen für eine komplexe antiarthrotische Therapie. Für Frank Bahr, Präsident der Deutschen Akademie für Akupunktur und Aurikulomedizin, weisen die Tätowierungen auf folgendes Krankheitsbild hin: "Elf Strichgruppen liegen auf Punkten des Blasen-Meridians, eine Stimulation dieses Meridians bringt Linderung bei Kreuz- und Gelenkschmerzen. Eine Strichgruppe liegt exakt auf einem Akupunkturpunkt, der auch heute noch als konstitutioneller Punkt bei rheumatischen Gelenk- und Knochenschmerzen Verwendung findet. Die anderen Strichgruppen bezeichnen Punkte, die mit dem Verdauungstrakt in Beziehung stehen." Die radiologischen Untersuchungen untermauern diesen Befund. Ötzi litt an Arthrosen des Lendenwirbelbereichs, der Hüfte, der Knie und eines Sprunggelenks.

Trotz dieser Erkenntnisse steht für Egarter-Vigl die medizinische Erforschung noch am Anfang. "Es ist nicht klar, an welchen Krankheiten er außerdem litt. Wir wissen nicht, ob der Mann fehlernährt war." Von großem Interesse sei die Frage, von welchen Bakterien und Parasiten Ötzi befallen war. Es könne ja sein, dass er Mikroorganismen in sich trug, die damals harmlos waren, heute aber wichtige Pathogene darstellen. Die Harnblase sei mit einem Kinderendoskop über den im trockenen Zustand zu einem winzigen Hautblatt geschrumpften Penis bereits gespiegelt worden. Das sei bei kurzzeitigem Auftauen der Mumie möglich, da das feuchte Gewebe dann elastisch wird. Eine Magenspiegelung stehe noch aus. Man erhofft sich davon Erkenntnisse über eventuell vorhandene unverdaute Speisereste und darüber, ob der Magen von Helicobacter pylori besiedelt war.

Wer ermordete den Gletschermann?

Die Frage, die alle Gemüter derzeit am stärksten bewegt, ist die nach der Todesursache. Als der Bozener Radiologe Paul Gostner im Juli 2001 computertomographisch eine 21 mm lange Pfeilspitze unter dem linken durchlöcherten Schulterblatt entdeckte, war die Überraschung groß. Ötzi muss also von hinten mit dem Bogen angegriffen worden sein. Der Pfeil war etwa 6 cm in den Körper eingedrungen. Die Spitze ist im Weichgewebe, 15 mm vor der Lunge, steckengeblieben. Dort liegt das Gefäßnervenbündel des linken Armes. Die Lage des rechten Armes deutet darauf hin, dass der Verletzte die schmerzende Wunde "gehalten" hat. Die schwere Verletzung könnte eine starke Blutung und die Lähmung des linken Armes verursacht haben. Deshalb soll auch noch der Blutkuchen in den großen Arterien immunologisch untersucht werden. Doch zuvor muss die Pfeilspitze entfernt werden.

Sofort nach Gostners Entdeckung brachen wilde Spekulationen über einen hinterlistigen Mord aus. Wer könnte ihn aus welchen Gründen auf dem Gewissen haben? "In der Archäologie ist alles erlaubt", meint Egarter-Vigl dazu. Dennoch widerspricht er der Opfertheorie des US-amerikanischen Archäologen Johan Reinhard. Dieser behauptet, der Gletschermann sei einem Ritualmord zu Ehren der Götter zum Opfer gefallen, und begründet dies u. a. damit, dass die Kelten vor 2000 Jahren Exekutionen mit Pfeil und Bogen durchgeführt hätten. Egarter-Vigl geht dagegen von einem Gewaltszenario aus.

Ötzi hat auch eine schwere Schnittwunde, die bis vor kurzem übersehen wurde, weil sie genau in der zusammengeschrumpften Beugefalte der rechten Hand liegt. Durch eine in den Röntgenaufnahmen Gostners sichtbare Knochenkerbe wurde man darauf aufmerksam. Da keine beginnende Wundheilung zu erkennen ist und eine mögliche Tatwaffe nicht gefunden wurde, muss Ötzi die Verletzung erst kurz vor seinem Tod empfangen haben. Er könnte sich, so Egarter-Vigl, nach einem Kampf mit Feinden auf der Flucht befunden haben. Durch den Pfeil schwer verwundet, habe er sich in Sicherheit gebracht. Dort sei er dann der Kälte und der Verwundung erlegen.

Doch Klarheit über die Schwere der Verletzung und damit über die Todesursache kann man erst gewinnen, wenn die Pfeilspitze entfernt worden ist. Erst dann wird es möglich, die Zeit zwischen Pfeileintritt in den Körper und Tod zu schätzen. Erst dann wird man die Frage beantworten können, ob der Gletschermann an Blutverlust gestorben ist, ob er durch die Verwundung linksseitig gelähmt war oder ob er seinen Feinden entkommen konnte und dann im Gebirge erfror. "Wir wissen nicht, ob der Eismann Stunden oder Tage nach seiner Verletzung gestorben ist", sagt Seidler. "Nach dem derzeitigen Wissensstand hat er die Passhöhe erreicht, sich dann auf die Seite gelegt, um zu schlafen oder sich zu erholen, und ist dann erfroren."

Kastentext Staatsaffäre

Der Streit um die Fundstelle erzwang eine exakte Vermessung der 1919 festgelegten Staatsgrenze. Ötzi lag zum Leidwesen der Österreicher 92,56 m von der Staatsgrenze entfernt auf Südtiroler und somit italienischem Hoheitsgebiet.

Ganz schön alt

Um Ötzis Alter zu bestimmen, wurden in der Universität Stockholm die sich ständig verändernden Bausteine (Osteone) der kompakten Knochenrinde gezählt und die Fläche gemessen, die sie und die so genannten Schaltlamellen innerhalb eines definierten Areals beanspruchen. Als Referenz wurden Anatomieleichen im Alter zwischen 19 und 80 Jahren herangezogen. Der Mittelwert aus neun Regressionsanalysen ergab 45,7 Jahre, ein für die späte Jungsteinzeit bzw. Kupferzeit stolzes Alter.

Stete Begleiter

In Ötzis Kleidung sind die zwei ältesten bisher bekannten Menschenflöhe gefunden worden. Auch Wanzen, Ameisen, Fliegen, Mistkäfer, Borkenkäfer, Marienkäfer sowie Wespen lebten im Gewand und im Köcher des Gletschermannes.

Die Zähne

Ötzi hatte keine Karies, dafür aber stark abgenutzte Zähne.

Medizin

Das sehr hohe Niveau der Akupunkturbehandlung des Gletschermannes beweist, dass die jungsteinzeitliche mitteleuropäische Medizin wesentlich höher entwickelt war als bisher angenommen. Die vertieften medizinischen Kenntnisse setzten mindestens 2000 Jahre früher als in China ein.

Ötzi hatte ein erstaunliches Alter von 45 Jahren erreicht, als er hinterrücks mit einem Blattschuss ermordet wurde. Wir berichten über neue Erkenntnisse zum Leben und Sterben der Südtiroler Gletschermumie.  

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