Berichte

Suchtforum – im Netzwerk hat jeder seine Aufgabe

Die Bayerische Landesapothekerkammer (BLAK) und die Bayerische Landesärztekammer (BLÄK) führten in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Akademie für Suchtfragen (BAS) am 12. März 2002 in München ein Suchtforum durch, an dem etwa 300 Ärzte, Apotheker und Angehörige der Drogenhilfesysteme teilnahmen. Es ging darum, wie man Süchtige erkennen, sie beraten und ihnen helfen kann.

Dr. Jens Schneider, Augsburg, Vizepräsident der BLAK, erläuterte den Anlass der Veranstaltung. Es gibt 100 bis 150 Tausend Abhängige in Deutschland, die harte, illegale Drogen in riskanter Höhe konsumieren. Auf diese Gruppe richtet sich das Interesse der Öffentlichkeit, hier läuten die Alarmglocken, wenn wieder eine Zunahme der Todesopfer zu beklagen ist. Vergessen wird dabei oft, dass es 1,6 Mio. Alkoholabhängige und 1,6 Mio. Arzneimittelabhängige gibt, ganz zu schweigen von denen, die nicotinsüchtig sind. Deshalb muss allgemein die Sensibilität für die Problematik der stoffgebundenen Abhängigkeit gefördert werden.

Ärzte und Apotheker können Süchtigen nur in enger Kooperation mit Suchthilfeeinrichtungen helfen. Das Netz ist noch viel zu weitmaschig und die Betreuung auf zu wenige Schultern verteilt. Ein Hilfsangebot ist für viele Betroffene schon rein räumlich schwer zu erreichen.

Wie erkennt man Missbrauch?

Alkohol fordert pro Jahr 40 000 Tote, Nicotin 110 000, die Behandlung kostet die Gesellschaft jährlich 20 Mrd. bzw. 40 Mrd. Euro. Demgegenüber gibt es 240 000 Cannabisabhängige und 1,8 Mio. Menschen, die missbräuchlich Psychopharmaka anwenden. Während z. B. der Alkoholmissbrauch beim Mann doppelt so hoch ist wie bei der Frau, sind 4,1% der Frauen und "nur" 2,6% der Männer arzneimittelabhängig. Kennzeichen der Sucht sind

  • Schädigung von Niere oder Magen,
  • soziale Probleme,
  • Unfälle,
  • Bemerkungen Dritter über Missbrauch,
  • Verlangen nach psychoaktiven Arzneimitteln,
  • Widerstand gegen Absetzen oder Ausschleichen von Arzneimitteln.

In die Gefahr, süchtig zu werden, gelangen Schmerzkranke (Analgetika), Personen mit Befindlichkeitsstörungen (Tranquilizer), Depressive (Anxiolytika), Magersüchtige und Übergewichtige (Appetitzügler und Abführmittel). Alkohol- und Drogenabhängige haben besonders hohen Arzneimittelmissbrauch. Folgende Fragen sollten zur Erkennung von Alkohol- und Arzneimittelmissbrauch gestellt werden:

  • Täuschen Sie sich selbst oder andere über Häufigkeit und Dosis der Einnahme?
  • Verheimlichen Sie die Einnahme von Arzneimitteln oder Alkoholkonsum?
  • Überlegen Sie, wie Sie entsprechende Vorräte horten können?

Der Apotheker hat es schwerer als der praktische Arzt und dieser wieder schwerer als ein Facharzt (der Patienten häufiger sieht), Abhängigkeit von Alkohol und/ oder Arzneimitteln zu erkennen. Aus dem gleichen Grund kann ein Landapotheker mit Stammkunden besser als ein Stadtapotheker mit Laufkundschaft Abhängigkeit von Alkohol oder Arzneimitteln erkennen.

Das Bewusstsein der Öffentlichkeit über Schädlichkeiten ist am ausgeprägtesten beim Rauchen, dann folgt das Trinken und erst an letzter Stelle die Arzneimittel, werden sie doch von hoch angesehenen Gesundheitsberufen verschrieben bzw. abgegeben (Referent Bühringer).

Motivationale Beratung durch Ärzte und Apotheker

Damit Konsumenten von Alkohol und stimmungsbeeinflussenden, langfristig schädigenden Arzneimitteln eine Änderung ihres Gebrauchs in Erwägung ziehen, müssen u. a. folgende Bedingungen erfüllt sein:

  • Ein kritisches Ereignis (z. B. familiäre Konflikte, körperliche Nebenwirkungen und Schäden, Verlust der Fahrerlaubnis wegen Führen eines Fahrzeugs im intoxikierten Zustand) muss mit dem problematischen Konsumverhalten in Verbindung gebracht werden.
  • Es müssen individuell wichtige Wertebereiche durch den Medikamentenkonsum beeinträchtigt werden.
  • Die Verantwortung für das eigene Verhalten muss vom Betroffenen anerkannt werden.
  • Der Betroffene muss sich vorstellen können, die notwendigen Änderungen seines Verhaltens erreichen zu können.
  • Es müssen attraktive Verhaltensalternativen zum problematischen Konsum von Medikamenten bestehen.

Der niedergelassene Arzt und die Apotheke sind wichtige Ansprechpartner in dem Behandlungssystem für Menschen mit Alkohol- und Arzneimittelproblemen. Sie werden von den Betroffenen als zuverlässig und kompetent geschätzt. Eine motivationale Kurzintervention für diese Berufe ergibt sich aus folgendem Schema:

Schritt 1: Erfassung des Konsums. Vertrauensvolle Arbeitsbeziehung herstellen. Kompetenz vermitteln. Eingangsfragen zur Erfassung des Suchtmittelkonsums. Vertiefungsfragen zur Erfassung der Schwere des riskanten Konsums. Prüffragen zur Erfassung von Abhängigkeit.

Schritt 2: Förderung der Änderungsbereitschaft. Vermittlung der diagnostischen Erkenntnisse. Ärztliche Empfehlung, Entscheidung des Patienten, schadensbegrenzende Interventionen. Erkenntnisse plausibel und nicht wertend vermitteln. Selbstmotivationale Aussagen bei Patienten fördern. Diskrepanz bei Patienten erzeugen. Konstruktiven Umgang mit Defensivstrategien ermöglichen. Entscheidung der Patienten ermöglichen. Gesprächsinhalte zusammenfassen. Konkrete ärztliche Empfehlungen.

Schritt 3: Förderung der Änderungskompetenz. Änderungszuversicht der Patienten fördern. Entscheidung der Patienten absichern. Verhaltensänderung verbindlich verabreden. Festlegung eines Konsumziels. Vermittlung von Fertigkeiten zur Konsumreduzierung. Erfassung von Hochrisikosituationen. Entwicklung von konstruktiven Bewältigungsstrategien. Inanspruchnahme von spezifischer Behandlung.

Schritt 4: Kontinuierliche Beobachtung und Begleitung. Loben der Patienten. Auf Gefährdungen aufmerksam machen. Prüfen der Aufrechterhaltung der Konsumziele bei psychischen Störungen. Vermittlung einer Psychotherapie. Besprechung von Gefährdungssituationen, u. U. Vermittlung von spezifischer Behandlung. Rückfallprävention und -management.

Der Referent (Psychologe C. Veltrup) hat in verschiedenen Apotheken Aspirin, Hoggar und 200er-Packungen Dulcolax erhalten, ohne dass er auf eventuelle Suchtgefahren angesprochen wurde. Er wünscht sich eine Änderung des "Tresenkonzepts" hin zum "individuellen Reisebüromodell". Wer als Apotheker in der Suchtberatung tätig sein will, benötigt als Ansprechpartner u. a. Ärzte, die in suchtmedizinischer Grundversorgung ausgebildet sind. Ferner ist von Bedeutung, welche Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen im Umkreis der Apotheke zu finden sind. Dies alles kann z. B. dem Buch "Suchtprävention in Bayern" entnommen werden, das kostenlos abgegeben wird von der Landeszentrale für Gesundheit, Landwehrstraße 60 – 62, 80336 München, Fax (0 89) 54 40 73 46.

Als Apotheker sollte man folgende persönliche Voraussetzung mitbringen:

  • Bereitschaft, ständig dazuzulernen,
  • neue Ansätze mit gebotener naturwissenschaftlicher Distanz betrachten,
  • Kompetenz anderer Berufsgruppen anerkennen,
  • Bereitschaft zur interdisziplinären Kommunikation,
  • Willen, dafür Zeit und Kraft aufzuwenden,
  • eigene Fehler und Mängel eingestehen und aus diesen lernen.

Suchthilfe befasst sich mit den Themen Entzug, Entwöhnung, Nachsorge, Rückfallprophylaxe, Umgang mit Rückfällen und Substitution. Die Bayerische Akademie für Suchtfragen (BAS) gibt es seit drei Jahren, sie sucht Netzwerkpartner, denen sie gute Unterstützung zukommen lässt.

Die Apotheke als niedrigschwellige Anlaufstelle kann Folgendes tun:

  • Vermittlung entsprechender Ärzte und Beratungsstellen,
  • Kritische Gesundheitsberatung (Hinweis auf Konsequenz fortgeschrittenen Suchtmittelkonsums),
  • Rücksprache mit verordnenden Ärzten (manchmal mehrere),
  • bei begründetem Verdacht auf Missbrauch Abgabeverweigerung gemäß § 17 der Apothekenbetriebsordnung.

    Augsburger Drogenprojekt

    Im Augsburger Drogenprojekt, das auf Grund einer hohen Anzahl von Drogentoten gegründet wurde, arbeiten alle Beteiligten in einem von vier interdisziplinären Arbeitskreise mit (Referentin Christiane Fahrmbacher-Lutz). Sowohl zur Substitutionsbehandlung, bei der kein Beikonsum toleriert werden kann, als auch zur Entzugsbehandlung kann der Apotheker beitragen. Er kann Mehrfachverordnungen erkennen und geeignete Stellen zu Entzugs- oder Substitutionsbehandlung ausfindig machen. Die stationäre Entzugsbehandlung dauert zwei Wochen und verwendet die Substanzen Clomethiazol (Distraneurin), Carbamazepin (Tegretal) und Clonidin (Catapresan). Die ebenfalls stationäre Drogenentzugsbehandlung erfordert vier Wochen und benützt Methadon (Methaddict), Buprenorphin (Temgesic) sowie Benzodiazepine in hoher Dosierung. Versuche des ambulanten Entzugs haben sich nicht als erfolgreich erwiesen.

    Auch in der Apotheke ist der so genannte psychosomatische Problemkreis erkennbar, der sich folgendermaßen darstellt:

    • Schlafstörungen,
    • Müdigkeit,
    • Leistungsreduktion,
    • Sorgen und Ängste, Depressionen, Anxiolytika,
    • Bedürfnis nach Schlafmitteln oder Aufputschmitteln,
    • Anhaltende Anspannung führt u. a. zu Rückenschmerz, deshalb die Einnahme von Schmerzmitteln, Relaxanzien.

    Ganzheitliches Denken ist in der Suchtbekämpfung deshalb unerlässlich (Referent Felix Tretter).

    Dr. Wolfgang Schlemmer, Schliersee

    Kastentext

    Wenn jede Apotheke in Bayern vier Meter Schaufenster zur Verfügung stellt, ergeben sich 15 Kilometer Information zur Suchtbekämpfung. Dr. Enzo Amarotico, Hauptgeschäftsführer BLÄK

    Kastentext Potenzial der Apotheken

    Die etwa 3400 Apotheken in Bayern mit etwa 7600 Approbierten sind im Jahr 2002 an 302 Tagen geöffnet, dazu kommt die Dienstbereitschaft. Täglich gibt es in den bayerischen Apotheken 427 000 Kundenkontakte. Mit diesen Zahlen wird die Bedeutung der Apotheken in der Suchtbekämpfung unterstrichen.

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