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Psychiatrisch-psychotherapeutische Forschung und Versorgung (Bericht vom DGPPN-K

BERLIN (sw). Mit Fragen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Forschung und Versorgung befasste sich der Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychologie und Nervenheilkunde (DGPPN), der vom 21. bis 25. November 2001 in Berlin stattfand.

Psychische Krankheiten sind die sechsthäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit und der häufigste Grund für Frühverrentung. Weltweit leiden 25 bis 30 % der Menschen unter behandlungsbedürftigen psychischen Störungen, von denen nur 30 % in Behandlung sind, meist beim Hausarzt, der wiederum ein Drittel bis die Hälfte der Fälle von psychischen Erkrankungen nicht erkennt (Prof. Dr. Fritze, DGPPN-Geschäftsführer). Insbesondere bildgebende Verfahren ermöglichen eine bessere Früherkennung, neue Medikamente ohne belastende Nebenwirkungen bieten bessere Behandlungsmöglichkeiten.

Genetische Ursachen psychischer Erkrankungen

Mit Inzidenzen von jeweils deutlich über 1 % gehören Schizophrenie, Depression, Suchterkrankungen, Alzheimer-Demenz wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu den Volkskrankheiten. Es handelt sich bei den psychischen und neuropsychologischen Erkrankungen meist um chronische oder rezidivierende Erkrankungen. Es gibt keine Einzelursachen, sondern viele Bedingungsfaktoren, wobei es stets eine genetische Komponente und einen nichtgenetischen Ursachenkomplex gibt, die beide einen Anteil um die 50 % haben. Nachdem früher die Umgebungsfaktoren im Zentrum der Ursachenforschung standen, richtete sich das Interesse der Forschung in den letzten Jahren zunehmend auf die Gene (Prof. Maier, Universität Bonn). So hat sich mit Hilfe familiär-genetischer Studien, insbesondere mit Zwillingen und Adoptivkindern, herausgestellt, dass die familiäre Belastung der stärkste Prädiktor für das Auftreten der meisten psychischen Erkrankungen ist. Vererbt wird allerdings nicht die Krankheit, sondern das Erkrankungsrisiko. Dabei gibt es kein einzelnes verantwortliches Gen, sondern viele Genvarianten spielen eine Rolle. Bei manchen Erkrankungen kennt man bereits einige Risikogene, bei anderen nicht.

Außerdem ist jede psychische Erkrankung auch eine Erkrankung des Gehirns. Mittels moderner Imaging-Verfahren kann man beispielsweise Volumenverkleinerungen in bestimmten Hirnregionen oder qualitative Veränderungen der Nervenzellen nachweisen. Teilweise bleiben die Veränderungen ohne Krankheitsfolgen, teilweise werden sie durch die genetischen Faktoren getriggert.

Alkoholsucht

Von übermäßigem Alkoholkonsum sind ca. 10. Mio. Bundesbürger betroffen - fast 5 Mio. mit riskantem Konsum, 2,7 Mio. Missbrauch, 2 Mio. Abhängigkeit; 42 000 sterben pro Jahr daran - Drogentote gibt es dagegen "nur" ca. 1800 (Prof. Böning, Universität Würzburg). Da viele Alkoholiker gleichzeitig Raucher sind, potenzieren sich die Folgen; die volkswirtschaftlichen Schäden werden mit 100 Mrd. DM pro Jahr angegeben. Die gesundheitsorientierte Politik steht der marktorientierten Politik entgegen und die vielgepriesene Reduktion des kardiovaskulären Risikos konnte bisher nur für gesunde 35- bis 50-jährige Männer bei 15 bis 25 g Alkohol/Tag nachgewiesen werden.

Trotz der hohen Zahlen wird die Diagnose Alkoholismus nur sehr selten gestellt, weshalb weniger als 5 % angemessen behandelt werden. Sowohl beim Hausarzt als auch im Krankenhaus (Knochenbruch, Leberprobleme o. ä.) wird der Patient nur selten daraufhin angesprochen (Ausbildungsmängel der Ärzte, Tabuthema, fatalistische Grundhaltung der Ärzte). Dabei gibt es gute und erfolgversprechende Möglichkeiten, die Alkoholabhängigkeit medikamentös zu behandeln, wenn dies möglichst frühzeitig erfolgt - z. B. mit Opiatrezeptorblockern. So ist seit längerem bekannt, dass mit Naltrexon gute Ergebnisse mit einer geringen Rückfallquote erreicht werden. (Es gibt übrigens 3 bis 4 Mio. trockene Alkoholiker!)

Mittels moderner bildgebender Verfahren (Positronen-Emissions-Tomographie) kann man beispielsweise die Neurorezeptoren im Gehirn darstellen, und bei Alkoholabhängigen hat man festgestellt, dass diejenigen, bei denen die Aktivität besonders stark erhöht ist, auch einen besonders starken "Saufdruck" haben. Solche Patienten sprechen vermutlich am besten auf Opiatrezeptorenblocker wie Naltrexon an. Außerdem hat eine neue Studie ergeben, dass eine Kombination von Naltrexon mit Acamprosat noch wirksamer ist als die Präparate jeweils einzeln (Prof. Mann, Mannheim, erster und einziger Lehrstuhl für Suchtmedizin in Deutschland).

Entscheidend ist aber auch, schon in den Familien einen ethischen Konsens zu erreichen, dass man eben in bestimmten Situationen nicht trinkt (Arbeitsplatz, Straßenverkehr, Schwangerschaft ...).

Angsterkrankungen

Angsterkrankungen zählen zu den häufigsten psychiatrischen Störungen (zweithäufigste nach Depressionen). Jeder vierte erkrankt im Laufe seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen Angsterkrankung, z. B. Panikstörung mit/ohne Agoraphobie, generalisierte Angsterkrankung, soziale Phobie, spezifische Phobie, Zwangsstörung - Überlappungen sind möglich, auch mit Depressionen (Prof. Bandelow, Universität Göttingen). Nachdem man früher traumatische Kindheitserlebnisse oder Erziehungsfehler als alleinige Ursache ansah, weiß man heute, dass auch genetische Faktoren eine Rolle spielen und neurobiologische Veränderungen im Gehirn erkannt werden können (s. o.). Nur die Hälfte der Erkrankten wird in der Primärversorgung (Hausarzt) erkannt. Nicht einmal 10 % der diagnostizierten Patienten werden effektiv medikamentös behandelt. Das liegt zum großen Teil an dem Vorurteil, dass derartige Störungen nur psychotherapeutisch zu behandeln seien.

Da aber eine Beteiligung biologischer Ursachen erwiesen ist, gibt es auch wirksame medikamentöse Verfahren. So ist bei bis zu 60 % der Patienten eine Vollremission innerhalb weniger Wochen mittels Antidepressiva möglich (Dr. Dr. Boerner, Universität München).

Goldstandard sind die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI). Die Nichtbehandlung der Störungen führt nicht nur zu großem Leid für die Betroffenen, sondern auch zu hohen Kosten durch Arbeitsausfälle bis hin zur Frührente.

Demenz

In Deutschland sind 1 bis 2 Mio. Menschen von Demenz betroffen. Da der Beginn schleichend ist, kann man die Zahl nicht genau bestimmen. Der Hauptrisikofaktor ist das Alter. Etwa ein Drittel der über 65-Jährigen leidet unter leichten geistigen Beeinträchtigungen, von diesen entwickelt ein Drittel innerhalb von drei Jahren eine krankhafte Demenz. "Wenn wir alle 100 Jahre alt würden, würden wir auch alle dement", so die Aussage führender Neurologen. Die häufigsten Hirnveränderungen bei alten Dementen sind Alzheimer-Plaques und Neurofibrillen, daneben Nervenzellverlust und Lewykörperchen, Hirngefäßveränderungen und Folgen von Entzündungen und Verletzungen.

Der beste Schutz vor Demenz ist ein frühzeitiger Aufbau einer hohen Reservekapazität, die frühe Behandlung von Grunderkrankungen und die Vermeidung zusätzlicher Risiken (Prof. Förstl, Klinikum München). Viele Demente werden völlig unzureichend behandelt. Schlaf- und Beruhigungsmittel können die Erkrankung noch verschlimmern. Nur 15 % der Kassenpatienten werden überhaupt behandelt (30 % der Privatpatienten). Demenz kostet Milliarden - zwei Drittel der Kosten tragen die Familien, ein Drittel die Pflegekassen, die Krankenkassen nur 3 % (Prof. Gutzmann, Krankenhaus Berlin-Hellersdorf). Mit neuen Medikamenten ist es möglich, in den gestörten Informationskreislauf im Gehirn einzugreifen, die Botenstoffe länger zu erhalten.

Acetylcholinesterasehemmer bremsen den natürlichen Abbau der Botenstoffe, die geistige Leistungsfähigkeit bleibt länger erhalten, Verhaltensstörungen werden positiv beeinflusst. Ginkgo biloba hat sich ebenfalls als wirksam erwiesen.

Auch in der nichtmedikamentösen Begleittherapie wurden große Fortschritte erzielt, die bisher in Deutschland kaum genutzt werden (kognitives Training, psycho- und sozialtherapeutische Maßnahmen, Realitäts-Orientierungs-Training). Wichtig ist auch der Wiederaufbau des beschädigten Selbstbewusstseins durch Erinnerungshilfen wie Fotoalben oder Musikstücke (Dr. Haupt, Universität Düsseldorf).

Von besonderer Bedeutung ist die Gruppenarbeit mit pflegenden Angehörigen, da geschulte Pflegende besser und länger pflegen können. Hoffnung setzen Neurologen u. a. auf Möglichkeiten der gezielten Frühintervention gegen die Entwicklung der Plaques, möglicherweise mittels Impfung.

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