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10. Suchtmedizinischer Kongress: Abstinenzdogma fällt

BERLIN (sw). Vom 9. bis 11. November fand in Berlin der 10. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin statt. Eine Erkenntnis scheint sich mehr und mehr durchzusetzen: In den letzten zehn Jahren hat sich immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass Sucht eine chronische Krankheit in verschiedenen Gewändern mit unterschiedlichen Folgen ist, die man abmildern kann, aber nicht heilen im eigentlichen Sinne.

Das Motto des Kongresses "Was heilt Sucht?" muss strenggenommen mit "nichts" beantwortet werden, denn es gibt keine Heilung in dem Sinne, dass Suchtkranke nach einer Therapie nie mehr süchtig werden.

Schwerpunkt jeder Behandlung ist die Milderung des Verlaufs - mit günstigen Folgen für den Süchtigen und die Gesellschaft. Die Forderung nach Abstinenz hat in vielen Fällen den Verlauf der Sucht verschlimmert. Die Erschwerung oder Verweigerung der Behandlung durch die Krankenkassen haben langfristig eher höhere Kosten zur Folge (einschließlich Strafverfolgungskosten). Die Folge der Erschwerung von Behandlung war nie eine Verminderung der Zahl der Abhängigen, sondern immer eine Zunahme des Elends.

Gewaltige volkswirtschaftliche Schäden

Die vergleichsweise kleine Gruppe der 120 000 bis 150 000 Heroinabhängigen in Deutschland verbraucht beispielsweise (infolge inadäquaten gesellschaftlichen Herangehens an das Problem) immense Summen, nämlich jährlich 600 Mio. DM Sozialhilfe, 600 Mio. DM stationäre Behandlung, 600 Mio. DM Gefängniskosten, 400 Mio. DM Versicherungsschäden, 500 Mio. DM für Folgeerkrankungen wie HIV und HCV, insgesamt also 2,7 Mrd. DM. Hinzu kommen 2 bis 4 Mrd. DM durch Arbeitsausfälle. Würden von diesen bis zu 7 Mrd. DM nur 2 Mrd. DM zur Schadensminderung eingesetzt, könnten die anderen bis zu 5 Mrd. DM eingespart werden.

Ein unbehandelter Heroinkonsument kostet durch stationäre Aufnahmen, ambulante Nachbehandlung und Langzeitfolgen pro Jahr 6480 DM, ein Methadonsubstituierter 3500 DM. Die Behandlung eines HIV-Infizierten kostet pro Jahr 68 000 DM.

Schadensminderung contra Abstinenzforderung

Bis vor einigen Jahren wurde die Entwicklung zur Sucht als selbstverschuldet angesehen und es bestand die übereinstimmende Meinung, dass nur die Abstinenz Abhilfe schaffen kann. Dies führte zu Restriktion, Repressivität, Illegalisierung (Heroin, Cannabis) bzw. zum Herunterspielen der Probleme (Alkohol, Nikotin). In den letzten zehn Jahren hat sich immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass Sucht eine chronische Krankheit in verschiedenen Gewändern mit unterschiedlichen Folgen ist, die man abmildern kann. Sofortige Abstinenz ist eine Hürde, die nur wenige Süchtige überwinden können.

Aufgrund der völligen Zersplitterung der Verantwortlichkeiten ist das suchtmedizinisch Sinnvolle nur sehr schwer zu machen. Bis die Zuständigkeit zwischen Krankenkasse, Rentenversicherung und Sozialamt geklärt ist, kann der günstigste Zeitpunkt für eine Therapie schon längst verpasst sein.

Moderne Therapieformen

Die moderne Suchtmedizin muss zugeben, dass sie nicht genau weiß, wie Sucht entsteht, aber sie weiß, dass es ein Ursachenbündel gibt aus psychischen, sozialen und biologischen Faktoren. Jeder Suchtpatient hat Jahre oder gar Jahrzehnte kontrolliert konsumiert und es kommt darauf an, die abstinenten oder kontrollierten Phasen zu verlängern. (Der Rückfall des Alkoholikers durch die berühmte Cognac-Praline ist zu sehr substanzfixiert, meist spielen auch andere Faktoren mit hinein.) Es ist kaum damit zu rechnen, dass man das Suchtgedächtnis löschen können wird.

Jede Verminderung des Konsums (die auch medikamentös unterstützt werden kann) ist eine wünschenswerte Verbesserung. Die ärztliche Behandlung hat auch das Ziel, körperliche Komplikationen und soziale Verelendung zu vermindern ("harm reduction"). Hauptschäden bei Suchtkranken sind chronische Infektionskrankheiten (HIV, HCV), chronische Nieren-, Leber- und Hirnschäden, Gliedmaßenamputationen, Herzinsuffizienz nach Endokarditis sowie die psychosozialen Folgen (einschließlich der Sozialisation im Gefängnis), das bedeutet, dass die Süchtigen nicht mehr rehabilitierbar und auf dem Arbeitsmarkt nicht unterzubringen sind. Die Sucht läuft sowieso, aber sie sollte soweit gebremst werden, dass die Menschen rehabilitierbar sind.

Die Möglichkeiten der Diagnose, Therapie und interdisziplinären Kooperation für Suchtpatienten werden in der ärztlichen Praxis nicht ausgeschöpft. Die Gründe reichen von den drogenpolitischen Vorgaben und Einschränkungen über die ärztliche Abwertung von Suchtmedizin und Mängel in Ausbildung und Forschung bis zur interdisziplinären Konkurrenz statt Kooperation. Insbesondere für großstädtische Ballungsräume wird ein Zusammenschluss vom szenenahen Kontaktladen bis zur stationären beruflichen Rehabilitation zu einem Verbund als anstrebenswert angesehen.

Etabliert hat sich inzwischen die Substitutionsbehandlung bei Heroin (Methadon). 35 bis 40 % der bundesdeutschen Heroinabhängigen befinden sich in einer Substitutionsbehandlung. Sie kann die gesundheitliche, psychische und soziale Situation der Betroffenen deutlich verbessern. Langfristig kann auch Abstinenz erreicht werden (nach Jahren). Es ist auch nachgewiesen, dass Suchtverläufe allein durch die Dauer eines therapeutischen Kontaktes günstig beeinflusst werden, unabhängig von der therapeutischen Methode.

Der kontrollierte Heroin-Konsum, über den jetzt zunehmend diskutiert wird, wird in einem Modellprojekt in sieben deutschen Städten gestartet, um zu prüfen, ob mit der medizinischen Vergabe von pharmakologisch reinem Heroin in einem strukturierten und kontrollierten Behandlungsablauf für bestimmte Gruppen von Heroinabhängigen die Ziele eher erreicht werden, die sonst mit Standardbehandlungen der Suchttherapie verknüpft sind - Schadensminimierung, Integration ins Hilfesystem, Reduktion des illegalen Konsums und der entsprechenden Begleitprobleme, gesundheitliche, psychische, soziale Verbesserung und Stabilisierung, Kontrolle und Überwindung der Abhängigkeit.

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