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Katastrophenschutz: Sind Kernkraftwerke vor Attentaten sicher?

Das Attentat auf die Zwillingstürme in New York hat die Debatte über den ausreichenden Schutz von Kernkraftwerken (KKW) gegen Flugzeugabstürze wieder aufflammen lassen. Der sehr politisch geführte Streit der vergangenen Jahre und der letzten Wochen liegt auch in der rechtlichen Situation begründet. Es gibt weder auf EU-Ebene noch national eine zentrale Regulierungsbehörde für Atomanlagen. Die Bundesländer sind für die Umsetzung des Atomgesetzes zuständig. Sie stehen unter der fachlichen Aufsicht des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), das ihnen gegenüber weisungsbefugt ist.

Gesetze mit Streitgarantie

Diese treffliche Lage für politischen Streit setzt sich nach unten fort. Denn es gesellen sich zahlreiche technische Beratungsgremien wie die Reaktorsicherheitskommission (RSK), die Strahlenschutzkommission, das Bundesamt für Strahlenschutz, die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit und weitere unabhängige Sachverständige hinzu. Die Kosten für die Regulierungstätigkeit der Länder und deren technische Gutachterorganisationen wie den TÜV tragen übrigens die Kraftwerksbetreiber.

Da es keine detaillierten gesetzlichen Sicherheitsvorschriften gibt, besteht Spielraum für die Art technischer Problemlösungen. Das übergeordnete gesetzliche Schutzziel legt fest, dass gemäß des aktuellen Standes von Wissenschaft und Technik Vorsorge gegen nukleare Störfälle zu treffen ist. Die KKW sind so ausgelegt, dass ein nuklearer Unfall nach dem Maßstab praktischer Vernunft ausgeschlossen werden kann.

Phantom als Prüfstein

Teil der technischen Entwicklung von KKW war und ist ein dynamisches Sicherheitskonzept. Kennzeichnend dafür sind

  • die hohe Sicherheit der druckführenden Komponenten,
  • die Trennung der doppelt ausgelegten Sicherheitssysteme und
  • die Auslegung der Anlagen mit dem Ziel einer guten Zugänglichkeit für Überprüfung, Wartung und Reparatur.

Erdbeben, Stürme, Hochwasser, Flächenbrände, Druckwellen oder Explosionen stellen als äußere Einwirkungen niederer Wahrscheinlichkeit spezielle Anforderungen an das Sicherheitskonzept. Dazu zählt auch der Schutz vor dem Absturz eines militärischen Düsenjets.

Anfang der Siebzigerjahre konzentrierte sich das Forschungsministerium bei seinen Analysen eines hypothetischen Flugzeugabsturzes auf die Phantom II, ein damals in Europa weit verbreitetes Kampfflugzeug. Nach der Auswertung von Unfallberichten legte es die Aufprallgeschwindigkeit auf maximal 215 m/s (774 km/h) fest und ging vom ungünstigsten Fall eines senkrechten Einschlags aus. Als wichtigstes Wrackteil wurde das Triebwerk identifiziert. Die Berechnungen in einem Stoßlast-Zeit-Diagramm gingen von einem 17 Tonnen schweren Triebwerk aus, das mit 100 m/s (360 km/h) auf eine kreisförmige Fläche von 7 m² aufschlägt. Danach wurden die Vollschutzdicken der Kraftwerkshüllen berechnet. Für Großraumflugzeuge ergaben sich aufgrund geringerer Absturzgeschwindigkeiten, größerer Auftreffflächen und einer höheren Knautschfähigkeit kleinere Werte. Die Analysen berücksichtigten auch die Menge mitgeführten Flugbenzins.

Nach dem 11. September

Unmittelbar nach den Angriffen auf New York und Washington wurde die Atomaufsicht in den Ländern auf die bedrohliche Lage hingewiesen und zu erhöhter Aufmerksamkeit angehalten. Das BMU lässt derzeit mögliche sicherheitstechnische Konsequenzen der neuen Bedrohungslage prüfen.

Die RSK wurde gebeten, bis Mitte Oktober 2001 eine erste Stellungnahme abzugeben. Falls die Innenbehörden einen terroristischen Anschlag für möglich halten, will das BMU den Betrieb kerntechnischer Anlagen einstweilen einstellen. Dazu zählen neben den Kraftwerken auch Zwischenlager, Anlagen der Kernbrennstoffversorgung und Transporte von Nuklearmaterial. Katastrophenschutzpläne liegen für jede Anlage vor. Eine neue Gefahrensituation ist aber derzeit nicht festzustellen.

Gegen Flugzeuge geschützt

Eine Außenhülle aus 1,5 bis 2 m dickem Stahlbeton und ein Sicherheitsbehälter aus 6 cm Stahl schützen den Reaktordruckbehälter, der seinerseits aus dickem Stahl besteht und von einer Betonhülle (biologischer Schild) umgeben ist (Abb. 1). Ein Brand großer Mengen an Flugbenzin würde keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Dichtigkeit des Druckbehälters haben. Falls der Sicherheitsbehälter, auch Containment genannt, durchschlagen werden sollte, muss das noch keinen schweren Unfall mit Austritt großer Mengen radioaktiver Substanzen zur Folge haben. Das entscheidet sich erst dann, wenn der Reaktordruckbehälter und die zuführenden Komponenten beschädigt würden und die Kühlung, die drei bis vier Notkühlsysteme und die Nachkühlung nicht mehr funktionieren würden.

Als Manko bleibt, dass alle Vorkehrungen und Sicherheitskonzepte nur davon ausgegangen sind, dass die Flugzeuge unbeabsichtigt abstürzen. Das bewusste Rammen eines Kernkraftwerkes konnte sich niemand vorstellen. Die redundante Auslegung der Anlagen beinhaltet aber bewusst Sicherheitsreserven. Das bedeutet, dass auch unter einer solchen extremen Belastung der Austritt großer Mengen von Radioaktivität mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vermieden werden kann.

Schon früher diskutiert

Die Debatte um abstürzende Flugzeuge ist nicht neu. Als vor zwei Jahren eine Tornado der britischen Luftwaffe nur einen Kilometer entfernt vom schottischen Kernkraftwerk Torness abgestürzt war, sagte Lothar Hahn vom Darmstädter Öko-Institut, zugleich Vorsitzender der RSK, der Berliner Zeitung: "Selbstverständlich könnte sich so ein Vorfall auch in Deutschland ereignen." Alle Kernkraftwerke, die vor 1980 in Betrieb gegangen sind, böten nur unzureichenden Schutz gegen Abstürze von Jets. Bei Anlagen wie Stade und Obrigheim gebe es "praktisch gar keinen Schutz". Eine Nachrüstung sei nicht möglich, weil sie einem Reaktorneubau gleichkäme.

Hahn sagte, die Wahrscheinlichkeit "eines Jetabsturzes ist nicht sehr hoch, das bedeutet aber nicht, dass es nicht dazu kommen kann". Nur die neueren Kernkraftwerke seien durch eine zwei Meter dicke Betonkuppel gegen Abstürze von schnellfliegenden Militärmaschinen vom Typ Phantom geschützt.

Dem kann entgegengehalten werden, dass nach Ansicht von Zivilpiloten die recht kleinen Kernkraftwerke bei hoher Geschwindigkeit nicht so einfach zu treffen sind wie gigantische Hochhäuser oder großflächige Verwaltungsgebäude. Auch dürfte ein KKW ein wenig attraktives Ziel für Terroristen darstellen. Denn die Erfolgswahrscheinlichkeit der Zerstörung des Reaktordruckgefäßes wäre im günstigsten Fall verschwindend gering. Unmittelbar ließen sich mit einem solchen Anschlag nur wenige Menschen töten. Die Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität würde durch die vorliegenden Notfallpläne weitgehend verhindert oder zumindest soweit verzögert, dass Zeit für Evakuierungen bliebe. Das Zerschmettern eines vollbesetzten Fußballstadions hätte aus Sicht eines wahnsinnigen Terroristen möglicherweise einen größeren Effekt.

Nur noch die Schweiz

Die Schweiz ist neben Deutschland das einzige Land, das den Schutz von KKW gegen Flugzeugabstürze vorschreibt. Die Vorschriften sind auch sehr ähnlich. Beim Bau der neuesten Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt in den Siebzigerjahren legte man für die Berechnung der Schutzschilde eine Boeing 707-320 mit einer Masse von 90 Tonnen und einer Geschwindigkeit von 370 km/h zugrunde. Die Stahlbetonhülle für dieses Szenario hat eine Dicke von 1,2 Meter. Die vor diesem Zeitpunkt gebauten Anlagen wurden mit Notstandssystemen ausgerüstet, die ein manuelles Eingreifen während der ersten zehn Stunden nach einem hypothetischen Flugzeugeinschlag oder einem Treibstoffbrand nicht erforderlich machen. Die Notstandssysteme selbst sind von 1 Meter dickem Beton geschützt.

Gleichwohl ist nach Ansicht der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) als Betreibergesellschaft der fünf Schweizer Kernkraftwerke auch hier kein hundertprozentiger Schutz gegen den Aufprall eines Triebwerks gegeben.

Die Nervosität steigt

Dass ein Freund von Mohammed Atta, einem der Flugzeugattentäter von New York, das KKW Stade besucht habe, trägt nicht zur Beruhigung der Situation bei. Politiker aller Parteien fordern jetzt mehr Sicherheitsmaßnahmen. Von den in einem bundesweiten Rahmenplan vereinbarten Sicherheitsstufen greift zunächst die unterste.

Verschärfte Objektsicherung, mehr Patrouillengänge und ein eingeschränkter Besucherverkehr helfen aber ebenso wenig gegen ein Flugzeugattentat wie eine Stilllegung. Denn auch vom Netz genommene KKW unterliegen bis zum vollständigen Rückbau demselben Objektschutz. Auch der Kraftwerksbetreiber RWE AG geht nicht von einem hundertprozentigen Schutz gegen terroristische Angriffe aus. Der Wert einer solchen Aussage geht allerdings gegen Null. Denn hundertprozentig ist nichts auf der Welt außer dem Tod alles Irdischen.

Wie eine Bombe explodieren?

Ein defekter Reaktor würde aber auch in diesem extrem unwahrscheinlichen Fall nicht explodieren. Atombombe und Kernkraftwerk unterliegen zwar demselben Prinzip. Die Energie aus der Kernspaltung entsteht, indem die Starke Kraft, die die Kernteilchen zusammenhält, als Energie freigesetzt wird. In Atombomben läuft diese Kernspaltung unkontrolliert und plötzlich ab. Die moderierte Kettenreaktion in einem Reaktor wird dagegen von dem stark verdünnten Brennmaterial bestimmt, darüber hinaus von der Geometrie der Brennelemente und vom so genannten Moderator, der die die Kerne spaltenden Neutronen abbremst. Das ist in der Regel Wasser oder Graphit. Ein Kernreaktor kann nicht explodieren.

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Ja. Denn es gibt noch ein Dutzend ähnlich unzulänglich gebaute Reaktoren auf der Welt. Sie wurden ohne Sicherheitsbehälter (Containment) gebaut, um leicht Plutonium für Nuklearwaffen zu gewinnen. Viele weitere konstruktive Mängel und eine krasse Fehlbedienung führten zu einer sehr schnellen Kernschmelze und damit nahezu zu einer Explosion des Reaktors.

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Im KKW in Harrisburg kam es 1979 zu einer partiellen Kernschmelze. Die Sicherheitshülle konnte die Spaltprodukte fast vollständig zurückhalten. Außerhalb des Kraftwerkes entstanden keine Schäden.

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1. Brennstoff-Kristallgitter Die spaltbaren Isotope sind in ein Kristall- oder Molekülgitter eingebunden, um keine dichte kritische Masse wie bei einer Atombombe entstehen zu lassen. 2. Brennstabumhüllung aus Zirkaloy Die Zirkaloyhülle, eine Speziallegierung aus Zirkon und Aluminium, schließt den Brennstoff gasdicht ab. Die Freisetzung flüchtiger radioaktiver Stoffe wird verhindert. 3. Reaktordruckbehälter aus massivem Stahl Der erste Schutzmantel zwischen Brennstoff und Biosphäre besteht aus Stahl. 4. Betonhülle Der biologische Schild aus Beton schützt die Werksmannschaft vor der Gammastrahlung aus dem Reaktorkern. 5. Sicherheitsbehälter aus 60 mm dickem Stahl Die Stahlkugel schließt den Reaktor, die Dampferzeuger, das Abklingbecken und die Hilfsaggregate und das Notkühlsystem ein. Die Schleusen und Zuleitungen sind so konstruiert, dass die hohe Dichtigkeit gewährleistet bleibt. 6. Außenhülle aus bis zu 2 m dickem Stahlbeton Die Stahlbetonhülle soll den Reaktor vor äußeren Einwirkungen wie abstürzenden Flugzeugen schützen.

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