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Noch genug Luft im System? (Bericht vom Ersatzkassenforum Hamburg)

HAMBURG (tmb). Der Arzneimittelmarkt bietet nach Einschätzung von Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen, noch immer genügend Einsparmöglichkeiten, um damit die Unterversorgung mit teuren hochinnovativen Arzneimitteln auszugleichen. Er präsentierte seine Analyse im Rahmen des Ersatzkassenforums "Teurer - aber auch besser?" am 10. Oktober in Hamburg, wo auch weitere Vorschläge zur Reform des Arzneimittelmarktes diskutiert wurden: Vom "Chaos" durch Aut-idem bis zu angeblichen Vorteilen für alle Akteure des Gesundheitswesens durch eine Positivliste reichte das Meinungsspektrum.

Der erhebliche Anstieg der Arzneimittelausgaben in diesem Jahr treffe die verschiedenen Krankenkassenarten sehr unterschiedlich. So seien diese Ausgaben bei den Ersatzkassen insgesamt um 14,48% in den ersten sieben Monaten gestiegen, bei der Barmer um 18,66%, bei manchen anderen Kassen dagegen um deutlich weniger als 5%. Dies sei durch Mortalitätsunterschiede zu erklären. Gründe für den Kostenanstieg sieht Glaeske sowohl im Angebot der Arzneimittel als auch in ihrer Anwendung. Er verwies auf die noch immer nicht abgeschlossene Nachzulassung und kritisierte die teilweise nicht rationale Verordnungsweise der Ärzte.

Über-, Unter- und Fehlversorgung

Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen habe gleichzeitig Über-, Unter- und Fehlversorgung festgestellt. So würden beispielsweise zu viele Psychopharmaka in Alten- und Pflegeheimen und zu viele Arzneimittel gegen Neuropathien bei Diabetes eingesetzt. Dagegen würden insbesondere Frauen zu wenig mit Antidiabetika und Thrombozytenaggregationshemmern versorgt. Erhebliche Fehlverordnungen gäbe es bei abhängigkeitsinduzierenden Arzneimitteln und bei der Auswahl der Präparate für die postmenopausale Hormonsubstitution. Gemäß epidemiologischen Berechnungen würden jährlich 7000 Gebärmutter- und Brustkrebserkrankungen durch die fehlerhafte Auswahl von reinen Östrogenpräparaten für Frauen mit Gebärmutter bzw. Östrogen-Gestagen-Kombination für hysterek- tomierte Patientinnen verursacht.

Rationalisierungspotenzial reicht angeblich aus

Die quantitative Auswertung der Verordnungen werde erheblich durch den Mangel an aussagekräftigen Daten behindert. So gebe es viel zu wenig Daten über regionale Morbiditätsunterschiede, um die unterschiedlichen Verordnungszahlen zu erklären. Dennoch geht Glaeske davon aus, dass das Einsparpotenzial bei übermäßigen oder unzweckmäßigen Verordnungen mehr als ausreicht, um die Unterversorgung auszugleichen. Es könnten 15% der Arzneimittelkosten eingespart werden, 7% bei Arzneimitteln mit zweifelhaftem Nutzen, 7% durch noch stärkeren Generikaeinsatz und 1 bis 1,5% durch Verzicht auf neue teure Arzneimittel, die keine Vorteile gegenüber etablierten Arzneimitteln aufweisen. Demgegenüber würden nur etwa 10 bis 12% mehr benötigt, um die bestehende Unterversorgung mit "echten" Innovationen gegen Multiple Sklerose, Hepatitis C, Brustkrebs, Alzheimer, Schizophrenie und Psychosen auszugleichen. Allerdings könne dieses Verhältnis langfristig durch weitere Innovationen verschoben werden. Ziel sollte letztlich eine Steigerung der Effizienz, nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch bezüglich der Versorgungsqualität, sein.

Chaos durch Aut-idem?

Im Rahmen der anschließenden Podiumsdiskussion wurden Positionen zu verschiedenen Sparvorschlägen ausgetauscht. Dr. Wolfgang Wesiack, stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, betrachtet die Aut-idem-Regel "auf den ersten Blick" als große Erleichterung, doch komme diese "als Bumerang zurück". Dies führe zu "Chaos in der Versorgung", weil viele Patienten "vier oder fünf Hausapotheker" hätten und dort unterschiedliche Generika bekämen. Dies belaste die Ärzte mit Rückfragen und werfe ganz neue Haftungsfragen auf, weil die Generika aufgrund ihrer Galenik unterschiedlich gut vertragen werden könnten. Außerdem wäre nach dem Aufbrauchen jeder Packung immer wieder ein anderes Generikum besonders preisgünstig. Manfred Wocker, Vorstandsmitglied im Hamburger Apothekerverein, wies auf die Möglichkeit hin, im Einzelfall die Substitution auszuschließen. Dagegen komme es bisher immer dann zu Problemen, wenn Ärzte willkürlich ein bestimmtes Generikum auswählen, wo eigentlich nur etwas Preisgünstiges gewünscht sei. Mit der Auswahl in der Apotheke werde sich die Nachfrage schnell auf eine überschaubare Herstelleranzahl konzentrieren. Nach Ansicht von Glaeske solle die Aut-idem-Regel Ärzte und Apotheker enger zusammenbringen. Sie könnten auch gemeinsam Versorgungsangebote im Sinne des Disease Management schaffen.

Positivliste - für alle nur gut?

Glaeske befürwortet auch eine Positivliste, die aber die falsche Anwendung prinzipiell wertvoller Arzneimittel nicht ausschließe. Zudem würden fast alle Beteiligten im Gesundheitswesen von einer Positivliste profitieren. Die Ärzte bekämen ein verbindliches Instrument, die meisten Hersteller sollten über das Ausscheiden obsoleter Produkte der Wettbewerber erfreut sein, ebenso wie die Apotheker über die Lagerbereinigung. Die Patienten erhielten eine verbesserte Therapie, nur die Politik dürfte vor den Wahlen die problematischen Folgen der entgegen gerichteten Lobbyarbeit scheuen. Auch Wesiack geht davon aus, mit einer Positivliste Verantwortung auf die Politik abwälzen zu können. Daher gebe es immer weniger Widerstand bei den Ärzten. Dr. Klaus Gollert, Leiter der VdAK/AEV-Landesvertretung Hamburg, bezeichnete dies als erstaunlichen Wandel.

Folgen für die Apotheken

Wie sich der jüngste Gesetzentwurf über den Arzneimittelmarkt auf die Apotheken auswirken würde, kann nach Einschätzung von Wocker nicht verallgemeinert werden. Jede Apotheke wäre anders betroffen. Bei einer Erhöhung des Krankenkassenrabattes würden einige Apotheken schließen müssen. Die Importquote sei von Apotheken mit hohem Generikaanteil kaum zu erfüllen. Apotheken in der Nähe von HIV-Schwerpunktpraxen hätten dagegen Importquoten von über 80%, da die dort relevanten Substanzen nicht generisch verfügbar sind. Könnten hier nun mehr Originale abgegeben werden, weil die Quote übererfüllt ist?! Nach Auffassung von Glaeske sollte das Aufschlagssystem der Arzneimittelpreisverordnung durch ein Pauschalhonorar ersetzt werden, außerdem gebe es zu viele Apotheken. Eine geringere Apothekenzahl bringe den Krankenkassen nach Ansicht von Gollert keine Entlastung, doch werde es künftig Internethandel geben. Die BKK Stadt Hamburg habe erst in jüngster Zeit wieder zum Arzneimittelbezug im Ausland aufgerufen. Im Rahmen der Veranstaltung war allerdings nicht zu klären, ob dies bereits nach der entgegen gerichten Aufforderung des Bundesversicherungsamtes erfolgte.

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