Arzneimittel und Therapie

Bipolare Störungen: Häufiger als vermutet, oft fehldiagnostiziert

Patienten mit bipolaren Störungen haben im Vergleich zu anderen psychiatrisch Erkrankten ein deutlich höheres Risiko, fehldiagnostiziert und -behandelt zu werden. So wird nach einer aktuellen Studie der National Depressive and Manic Association (DMDA) bei Frauen besonders oft eine unipolare Depression vermutet, während bei Männern eher eine schizophrene Psychose diagnostiziert wird. Darüber informierte die Lilly Deutschland GmbH.

Die DMDA-Studie bestätigte die Erfahrungen, dass mehr als ein Drittel der Betroffenen erst viele Jahre nach Erkrankungsbeginn einen Arzt aufsucht. Aufgrund des Leidensdrucks geschieht dies vorzugsweise in der depressiven Phase, was die Fehldiagnose einer unipolaren rezidivierenden Depression begünstigt. Umgekehrt werden Maniker meist aufgrund ausgeprägter psychotischer Symptome wie übersteigerter Selbsteinschätzung, Wahnvorstellungen und Halluzinationen auffällig, wie sie auch bei schizophrenen oder schizoaffektiven Störungen auftreten können.

Der wichtigste Grund für die hohe Zahl an Fehldiagnosen ist laut DMDA-Studie in 60 Prozent der Fälle die Tatsache, dass die Ärzte eine bipolare Störung differenzialdiagnostisch gar nicht berücksichtigt hatten; in 39 Prozent (Mehrfachangaben waren möglich) wurden die Symptome nicht wahrgenommen. Darüber hinaus erschweren Kommunikationsprobleme (37 Prozent) und ungenügende Patientenangaben (28 Prozent) die Diagnose.

Diagnose im Zweifelsfall überprüfen

Bei wiederholten depressiven Episoden sollte trotz einer medikamentösen Rezidivprophylaxe in ausreichender Dosierung (= Akutdosis) die Diagnose überprüft werden. 50 Prozent der ursprünglich als unipolar rezidivierend diagnostizierten Depressionen erweisen sich innerhalb von 15 Jahren als bipolare Störungen (Chicago-Follow-up-Studie). Früher ging man noch von einer 80- zu 20-prozentigen Prävalenz unipolarer und bipolarer Depressionen aus; neuere Schätzungen legen jedoch ein Verhältnis von 50 zu 50 Prozent nahe.

Extreme Stimmungspole

Bipolare Störungen sind charakterisiert durch die extremen Stimmungspole der Manie und Depression. Die Manie ist gekennzeichnet durch Hyperaktivität, Distanzlosigkeit, Redefluss, Ideenflucht, Enthemmung und (gereizt) euphorische Stimmung. Ein Gefühl von Omnipotenz und Größenwahn führt oft zu irrationalen oder gefährlichen Handlungen. In depressiven Episoden herrschen Lethargie, Selbstmordgedanken und sozialer Rückzug vor.

1,5 Millionen sind manisch-depressiv

In Deutschland leiden schätzungsweise rund 1,5 Millionen Menschen an bipolaren Störungen - auch manisch-depressive Erkrankungen genannt. Das Geschlechterverhältnis bei bipolaren Störungen ist ausgeglichen, wobei Männer als erste Episode eher eine manische (Diagnose: BIPOLAR I - Manie/Depression), Frauen initial eher eine depressive Episode (Diagnose: BIPOLAR II - Depression/Hypomanie) durchleben. Bei 85 bis 95 Prozent der Patienten folgen im Laufe des Lebens auf eine erste Krankheitsphase noch acht bis zehn weitere Episoden.

Ätiologisch beeinflussen genetische, neurobiologische und psychologische Faktoren die individuelle Vulnerabilität für bipolare Störungen. Die familiäre Häufung zeigt die genetische Korrelation. Bei einem betroffenen Elternteil liegt das Erkrankungsrisiko der Kinder bei 20 Prozent; bei eineiigen Zwillingen liegt die Konkordanzrate bei 80 Prozent.

Hohes Suizidrisiko

Nach einer Schätzung des US Department of Health, Education and Welfare verliert eine 25-jährige Patientin mit einer unbehandelten bipolaren Störung im Schnitt neun Jahre ihrer Lebenserwartung, zwölf Jahre körperliche Gesundheit und vierzehn Jahre ihres aktiven Familien- und Erwerbslebens. Eine frühzeitige und effektive Behandlung ist auch angesichts der hohen Suizidalität notwendig.

Multiple Suizidversuche sind ein Warnsignal! Das Suizidrisiko korreliert mit dem Schweregrad depressiver Symptome und ist mit bis zu 80 Prozent weit höher als bei unipolaren Depressionen und schizophrenen Psychosen. Erschwerend kommt eine hohe Rate an Substanzmissbrauch - meist Alkoholabusus - hinzu. Jeder zweite Patient unternimmt im Verlauf seiner Erkrankung einen Suizidversuch, die Hälfte aller Versuche endet im Suizid.

Moderne Therapieansätze

Die Erfahrungen mit den etablierten Stimmungs-Stabilisierern (z.B. Lithium) sind zwiespältig. Sie belegen, dass ein hoher Prozentsatz der Behandelten seine prämorbide Alltagskompetenz nicht wieder erreicht. In vielen Fällen ist eine Kombinationstherapie zur langfristigen Stabilisierung notwendig.

Mit der Entwicklung der modernen Atypika (z.B. Zyprexa®) wurden die mit den so genannten typischen Neuroleptika begonnenen Therapieansätze erfolgreich wieder aufgenommen. Die älteren Typika hatten sich zwar als antimanisch wirksam erwiesen, die hohe Inzidenz von extrapyramidal-motorischen Störungen sowie die häufige Induktion depressiver Episoden limitierten aber ihren Einsatz. Studien belegen die antimanische Wirksamkeit von Atypika bei deutlich besserer Verträglichkeit.

Kastentext: Stimmung langfristig stabilisieren

Eine langfristige Stimmungsstabilisierung ist bei bipolaren Störungen das Mittel der Wahl, um die Anzahl der Episoden eventuell zu reduzieren und somit den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen. Darüber hinaus sind psychotherapeutische Interventionen empfehlenswert, denn sie erhöhen die Compliance des Patienten und verbessern so das Therapieergebnis. Dies wiederum unterstützt den Patienten mit einer bipolaren Störung darin, sein Privat- und Erwerbsleben aufrecht erhalten zu können.

Quelle: Vorträge und Poster auf dem 7. Weltkongress für Biologische Psychiatrie, Berlin, 1. bis 7. Juli 2001. Vorträge und Poster auf der Jahresversammlung der American Psychiatric Association (APA) in New Orleans, 5. bis 10. Mai 2001.

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