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Bakteriologie: Cholera - die Rätsel beginnen sich zu lösen

Das spitze, verfallene Choleragesicht ist seit der Nachkriegszeit in Deutschland zum Glück vergessen. In den Ländern der dritten Welt jedoch ist diese verheerende Infektionskrankheit nach wie vor gefürchtet. 1999 erkrankten mehr als 250000 Menschen an der Cholera, über 9000 starben weltweit. Verschmutztes Trinkwasser und schlecht gereinigte Lebensmittel sind ideale Voraussetzungen für den Ausbruch einer Choleraepidemie. Doch was macht der Erreger eigentlich zwischen zwei Epidemien? Diese Frage ist ebenso wenig beantwortet wie die nach der Ursache der schlagartig ausbrechenden Krankheit.

Vibrio cholerae überdauert in Süß-, Brack- und Salzwasser. Der Erreger wird häufig in Fischen und chitinhaltigem Zooplankton, aber auch in Austern und Vogeleiern gefunden. Im Süßwasser scheint er in Insekteneiern zu überwintern. So legen die Zuckmücken (Chironomidae), das sind kleine, nicht stechende Mücken, ihre Eier in Paketen in Tümpel, Bäche und Seen. In organisch belasteten Gewässern treten sie massenhaft auf. Diese Eierpakete sind von einer Gallerthülle umgeben, in denen sich die Vibrionen sehr wohlfühlen, denn sie nutzen die Gallerthülle als Kohlenstoffquelle.

Merkwürdige Genetik

Bei den Zuckmückengelegen handelt es sich zwar um ein natürliches Reservoir des Erregers, doch sind bisher nur nichtinfektiöse Stämme von V. cholerae darin identifiziert worden. Ob die Unterscheidung zwischen den Stämmen sinnvoll ist, erscheint aus genetischer Sicht jedoch unwahrscheinlich.

Die Sequenzierung des V.-cholerae-Genoms brachte ein überraschendes Ergebnis. Mit 4,03 Millionen Basenpaaren ist das Genom nicht nur um gut 1 Mio. Basenpaare länger als erwartet. Es konnten auch 3885 Gene identifiziert werden, weit mehr als bisher angenommen. Bei mehr als einem Drittel ist aber die Funktion vollkommen unbekannt.

Ungewöhnlich ist auch, dass das gramnegative, begeißelte Bakterium gleich zwei Chromosomen besitzt. Mit einem großen und einem kleinen Chromosom unterscheidet es sich deutlich von den meisten anderen Bakterien. Obwohl der Mikroorganismus ausschließlich beim Menschen pathogen ist, ist er kein typischer Krankheitserreger des Menschen.

Anders als bei den meisten humanpathogenen Bakterien sind bei V. cholerae keine Gene gefunden worden, die es vor dem menschlichen Immunsystem schützen. Dagegen codieren auffällig viele Gene für Transportproteine. Diese transmembranären Proteine regulieren Aufnahme und Abgabe verschiedener Moleküle aus und in die Zelle. Sie erlauben es dem Bakterium offenbar, in sehr unterschiedlichen Milieus zu gedeihen.

Harmloser Geselle ...

Das Genom des Erregers gibt aber noch viele weitere Rätsel auf. Die am Cholera-Genomprojekt beteiligten Wissenschaftler der Tufts-Universität in Boston sprechen von einer Schatztruhe mit genetischen Überraschungen und erwarten weitere ungewöhnliche Ergebnisse. Denn die genetische Analyse hat ein fundamentales Virulenzprinzip offenbart. Vibrio cholerae ist eigentlich ein harmloser Geselle. Gewissermaßen erst, wenn er gentechnisch verändert ist, entwickelt er seine zerstörerische Wirkung.

Bis vor zehn Jahren waren 138 Serotypen - O1 bis O138 - bekannt. Fast alle sind harmlos. O1 gilt als der Verursacher der sieben großen Pandemien der Neuzeit, deren erste 1817 von Bengalen kommend bis nach Osteuropa gelangte. Die letzte brach 1961 auf Sulawesi (Celebes) in Indonesien aus und dauert im Grunde bis heute an. 1966 wurde Serotyp O1 von dem weniger infektiösen Biotyp O1 El Tor weitgehend verdrängt. Das war nichts Ungewöhnliches. Üblicherweise verschieben sich die Dominanzen einzelner Biotypen wie Ebbe und Flut.

...mit mysteriösen Genen

1992 geschah jedoch etwas Unerwartetes. Die in Bangladesh ausbrechende Epidemie - ob sie als achte Pandemie gezählt wird oder zur siebten gerechnet wird, ist dem Autor nicht klar - wurde von einem ganz neuen und aggressiveren Serotyp (O139) verursacht. In einem halben Jahr waren 107000 Menschen in zehn Ländern Süd- und Südostasiens infiziert. Der Erreger schien eine Art Klon zu sein, da er in allen geographischen Regionen biochemisch und serologisch nahezu identisch war. Gleichwohl war er physiologisch dem weltweit verbreiteten O1 El Tor ähnlich, sehr viel ähnlicher als dem klassischen O1.

O139 besaß aber ein unbekanntes Antigen auf seiner Oberfläche. Wissenschaftler vermuteten eine genetische Rekombination durch ein Transposon, einen Phagen oder ein Plasmid. Selbst in seriösen Fachzeitschriften spekulierte man über ein von Bioterroristen gentechnisch manipuliertes neues Pathogen, da man sich den Befund nicht erklären konnte.

Zwei Faktoren machen die Infektiosität des Erregers aus:

  • Das Choleratoxin (CTX), das die Dünndarmzellen zu einer extrem hohen Absonderung von Wasser, Natrium- und Chlorionen anregt.
  • Der Toxin-koregulierte Pilus (TCP), der zur Verankerung des Bakteriums in der Darmwand dient.

Erst nach vier Jahren, 1996, wurde entdeckt, dass ein fadenförmiger Bakteriophage (Virus) sein Genom in das Bakterium injiziert. Er überträgt dabei auch die Gene für das Choleratoxin, das aus zwei Untereinheiten besteht. Die Eingangspforte für den CTXphi (phi = j = erster griechischer Buchstabe von Phage) genannten Phagen sind die Pili. In Vibrionen ohne Pili kann CTXphi nicht eindringen; die Vibrionen bleiben dann nichtinfektiös. Da die Phageninjektion im Darm viel besser funktioniert als im Reagenzglas, scheint auch der Mensch selbst eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Cholera zu spielen.

Inseln der Pathogenität

Doch wo kommen die Pili her? Die Antwort auf diese Frage hat den Blick auf infektiöse Bakterien allgemein sehr geweitet. Denn das Gen für die Pili befindet sich auf einer so genannten Pathogenitätsinsel (PAI) im Genom, auf der sich mehrere krankheitsassoziierte Gene befinden. Die Vibrio-cholerae-Pathogenitätsinsel, kurz VPI, fand sich nur in humanpathogenen Serotypen.

Als 1999 entdeckt wurde, dass diese VPI ebenfalls von einem Phagen, dem VPIphi, übertragen werden, rundete sich das Bild ab. Als erstes injiziert VPIphi sein Genom in V. cholerae. Das Bakterium bildet Pili aus, die es dem CTXphi erlauben, sein Genom mitsamt den Genen für das Choleratoxin zu injizieren. Eine Seilschaft von zwei Viren ist also nötig, um aus dem harmlosen Bakterium einen gefährlichen Krankheitserreger zu machen. Dass die Phagen nur in von Cholera infizierten Menschen stabil sind, erklärt auch, weshalb die Pathogenität von V. cholerae in Laborkulturen leicht verloren geht.

Neuartige Seilschaft

Die Pili, die als Rezeptoren für CTXphi fungieren, haben sich als Hüllprotein von VPIchi entpuppt. Diese Erkenntnis ist der erste Fall einer Virus-Virus-Interaktion, die zu einer bakteriellen Pathogenität führt. Der Mechanismus ist auch für andere Krankheiten denkbar. PAI sind bei Salmonellen, Shigellen, Yersinien, Helicobacter pylori oder pathogenen E. coli gefunden worden. Der Erreger der Moderhinke beim Schaf, Dichelobacter nodosus, gehört ebenso dazu wie der ubiquitäre phytopathogene Bazillus Pseudomonas syringae.

Die PAI können auf andere Stämme und wahrscheinlich auch auf nichtverwandte Bakterien übertragen werden. So werden die pathogenen Serotypen E. coli O157:H7 und O6:K15:H31 auf Virulenzgene zurückgeführt, die in einer PAI auf harmlose E. coli übertragen worden sind. O157:H7 trat 1982 zum ersten Mal bei 47 US-Amerikanern auf, die infizierte Hamburger gegessen hatten. Er hat bisher durch stark blutende Durchfälle zu mehreren Todesfällen geführt. O6:K15:H31 verursacht schwere Harnwegsinfektionen. 1986 wurden die Virulenzgene, die für Adhäsine und Hämolysine codieren, als PAI identifiziert.

Der Befund erklärt noch immer nicht, weshalb Choleraepidemien so schlagartig ausbrechen. Die Analyse der bisher identifizierten transmembranären Proteine, die die Freisetzung des Choleratoxins regulieren, könnte zur Klärung dieser Frage beitragen. ToxR ist zum Beispiel bei einem hohen pH-Wert inaktiv. Das begeißelte Bakterium wird daraufhin hyperaktiv und sucht das angenehmere Milieu des Dünndarms auf.

Ganz sicher spielen auch äußere Einflüsse eine wichtige Rolle. Cholera tritt vor allem auf, wenn sich durch warmes Wasser in den Meeren eine Planktonblüte bildet. Deshalb wird über einen Zusammenhang mit dem Auftreten des El-Nino-Phänomens spekuliert, das die Ströme warmer Wassermassen im Pazifik verändert.

Kastentext: Facies hippocratica

Eine Cholera kann schon wenige Stunden nach der Infektion zu heftigem Durchfall und Erbrechen führen. Unbehandelt werden die Entleerungen "reiswasserähnlich", d.h., wie in einer Reissuppe schwimmen graue Flocken. Es handelt sich um Darmepithel, das unter der nekrotisierenden enterotoxischen Einwirkung der Choleravibrionen in Fetzen abgestoßen wird.

Nach dem Brechdurchfall geht die Krankheit in das Stadium algidum über, das zusätzlich bedrohliche Kreislaufsymptome mit Blutdruckabfall, Untertemperatur und Versiegen der Harnabsonderung aufweist. Die mit kaltem, klebrigem Schweiß bedeckte ausgetrocknete Haut wird schlaff und runzelig. Der Leib ist bretthart eingezogen, Augen und Wangen sind tief eingefallen, Nase und Kinn spitz und livide, der Blick gebrochen. Das ist die klassische Facies hippocratica. Die Sterblichkeit unbehandelter Cholerapatienten beträgt 50 bis 60 Prozent, bei Kindern und alten Leuten bis zu 90 Prozent.

Kastentext: Die siebte Cholera-Pandemie

Die derzeitige siebte Cholera-Pandemie mit dem Erreger Vibrio cholerae Serotyp O1 El Tor begann 1961 in Indonesien und erreichte 1970 Westafrika. Nachdem Afrika zuvor für mehr als 100 Jahre frei von Cholera war, ist diese mittlerweile auf fast dem gesamten Kontinent endemisch. 1991 erreichte die Cholera Lateinamerika, wo sie ebenfalls in den letzten 100 Jahren nicht anzutreffen war. 1992 traten in Indien und Bangladesh Cholera-Epidemien des bis dahin unbekannten Serotyps V. cholerae O139 Bengal auf.

Kastentext: ...und weinte bitterlich

Nach dem großen Brand von 1842 wurde die Wasserversorgung Hamburgs ausgebaut. Doch die notwendige Sandfiltration wurde verweigert - der eigentliche Grund für die verheerende Choleraepidemie von 1892. Eine Anekdote beschreibt die Situation:

Am Gelände der für die Hamburger Wasserwerke projektierten Filtrationsanlage saß mutterseelenallein ein Mann, das Antlitz in beide Hände vergraben, und weinte bitterlich. Da trat ein Fremder hinzu, berührte seine Schulter und fragte, ob er ihm helfen könne. "Mir kann niemand helfen!" erwiderte der Mann verbittert. "Auch ich nicht?" lächelte ihn der Fremde an, "ich bin nämlich der liebe Gott!" "So", seufzte der Mann hoffnungslos, "dann weißt du wohl auch, wer ich bin: Seit 20 Jahren versuche ich auf den Senat einzuwirken, das nötige Geld für die Sandfiltration zu bewilligen!" Da setzte sich der liebe Gott neben den Mann, bedeckte sein Antlitz mit beiden Händen und weinte bitterlich mit.

Quellen: Beiträge in "Nature" und "Science". Epidemiologisches Bulletin 48/98 des Robert-Koch-Instituts. Stefan Winkle: Geißeln der Menschheit. Artemis & Winkler, Düsseldorf 1997. Dieter Wenderlein: Infektionskrankheiten in Entwicklungsländern. Dtsch. Apoth. Ztg. 141, 2033-2040 (2001). www.who.int/emc/diseases/cholera www.who.int/disease-outbreak-news/disease_indices/chol_index.html

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