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Arzneimittelgeschichte: Ein Comeback für Thalidomid?

Auch 40 Jahre nach der Contergan-Katastrophe kommt Thalidomid nicht aus den Schlagzeilen der Fach- und Laienpresse. Über 5000 Publikationen belegen aber auch den Wandel vom Horror zur Hoffnung, der mit dieser Substanz verbunden ist. Auf der Vortragsveranstaltung, die am 18. Juli in München von der DPhG gemeinsam mit der Bayerischen Landesapothekerkammer veranstaltet wurde, spannte Prof. Dr. Kurt Eger, Pharmazeutischer Chemiker am Institut für Pharmazie der Universität Leipzig, den Bogen weit von den Anfängen bis zur Gegenwart, von den Hypothesen und Theorien der Teratogenität, bis zu den gesicherten Wirkmechanismen und den neuen Anwendungsgebieten der Substanz.

Contergan-Katastrophe

Etwa 10000 Menschen mit schwerwiegenden Organdeformationen wurden während der Contergan-Katastrophe in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren weltweit geboren. Und noch lange danach, bis heute, wurden ähnliche Fälle in Südafrika und Brasilien registriert, da dort Thalidomidpräparate nie offiziell - wie ab 1961 in Europa und in den USA - vom Markt genommen wurden. Immer wieder ruft die "Conterganstory" ungläubige Verwunderung hervor - in einer kürzlich erschienenen Greifswalder Dissertation wurde sie deutsch-sachlich, in einem US-Pendant eher amerikanisch-anrührend abgehandelt.

Per Zufall, im Rahmen der Grünenthalschen Penicillinforschung mit Glutaminsäurederivaten, hatte man in den frühen 50er-Jahren die hypnotische Wirkung dieser nach Routine-Tierversuchen als absolut untoxisch eingestuften Verbindung entdeckt. Damals, 1956, war es noch möglich, dies in einem sofortigen (!) klinischen Versuch an 300 Patienten bestätigt zu finden. Noch im selben Jahr war Contergan als Präparat angemeldet. Die Entscheidung, ob rezeptpflichtig oder nicht, war in dieser Zeit noch Sache der Firmen, berichtete Professor Eger den heute darüber staunenden Zuhörern. 1957 ging das Präparat in 46Ländern auf den Markt und entwickelte sich als Barbiturat-Alternative (jeder siebte Amerikaner soll damals regelmäßig Barbiturate eingenommen haben) bald zur Modedroge, war es doch "so gut verträglich" und frei von all den unangenehmen Nebenwirkungen der Barbiturate, wie etwa "hang-over" oder Abhängigkeitsentwicklung.

Trotz warnender Beobachtungen und Berichte über den Zusammenhang der plötzlich so vermehrt auftretenden Geburtsschäden nach Conterganeinnahme, blieben entsprechende Maßnahmen aus, besonders aber von Seiten des Herstellers Grünenthal. Zögernd wurde in Deutschland Mitte 1961 in einigen (!) Bundesländern die Rezeptpflicht für Contergan eingeführt, bis es nach einem Aufsehen erregendend Lancet-Artikel Ende desselben Jahres in Deutschland, nicht jedoch noch in vielen anderen Ländern, vom Markt genommen wurde. (Ein Zuhörer der älteren Generation berichtete allerdings, wie sich sein Chef noch vorsorglich mit einem großen Vorrat für etwaige Nachfragen eingedeckt hatte).

Vom harten und schwierigen "Contergan-Prozess" und dem abschließenden Vergleich, dass die angeklagte Firma 100Mio. DM in einen Entschädigungsfond zahlte, wurde dann zwar weltweit berichtet. Aber auch in der deutschen pharmazeutischen Fachpresse war in all den Jahren zuvor nie der warnende Zeigefinger aufgetaucht, merkte Eger an. Und ernsthafte arzneimittelrechtliche Konsequenzen erfolgten in Deutschland erst 1976 mit der Gründung des BGA.

Arznei gegen Lepra ...

1961 war Thalidomid dann "klinisch tot", bis - wieder per Zufall - in Jerusalem 1966 seine positive Wirkung in der Behandlung der sehr schmerzhaften Leprasekundärinfektionen und -geschwulstbildungen entdeckt wurde. 1998 schließlich wurde der ehemals so umstrittene Arzneistoff in den USA wieder als Arzneimittel (Thalomid®) zugelassen, jetzt zur Behandlung von Lepra. Mit tiefgreifenden Auflagen allerdings: Nur zertifizierte Ärzte und Pharmazeuten dürfen das Präparat verschreiben bzw. in Mengen für höchstens vier Behandlungswochen abgeben; die Patienten verpflichten sich mit Unterschrift zur Enthaltsamkeit und Verhütung, Frauen müssen sich einem monatlichen Schwangerschaftstest unterziehen.

... und zur Immunmodulation

Auch in der "Post-Contergan-Ära" war die Forschung über Thalidomid, insbesondere zu dessen Teratogenität, nie ganz abgebrochen. Neuen Aufschwung erlebte sie dann Ende des letzten Jahrhunderts, als man dabei auch neue Wirkungen und Anwendungsgebiete erkannte. Thalidomid wirkt regulierend - insbesondere down-regulierend - auf den Tumornekrosefaktor-alpha und andere Zytokine und ist daher immunmodulatorisch, nicht einseitig immunsuppressiv wie etwa die Corticoide.

Zu den heute bekannten Wirkbereichen von Thalidomid zählen demnach Krankheiten mit einer Überexpression von TNF-alfa wie Kachexie vor allem im Endstadium von Krebs und AIDS, Neoplastisches Fieber, Tuberkulose und Mundaphthen bei AIDS, Pyoderma gangraenosum, fortgeschrittene solide Tumoren und Blutkrebsarten, der rheumatische Formenkreis mit seinen schweren Krankheitsbildern wie Lupus erythematodes und Abstoßungsreaktionen bei Transplantationen. Phase-I- und -II-Studien sind vor allem bei solchen Krankheitsbildern im Gange, für die es bis heute noch keine Alternativtherapien gibt. Und so schüren immer wieder vielversprechende Schlagzeilen von einem wieder entdeckten "Wundermittel" besonders in der Laienpresse die Hoffnungen von Patienten, aber auch von Aktionären.

Aktuelle Molekülvariationen

Problematisch aus biopharmazeutischer Sicht ist bis heute die fast vollkommene Unlöslichkeit des Thalidomids, betonte Eger. Bei einem der wichtigsten zukünftigen Einsatzgebiete, bei Transplantationsproblemen wie beispielsweise der Abstoßungsreaktion GVHD (graft versus host disease) bei Knochenmarksübertragungen, treten starke Haut- und Schleimhautveränderungen im Gastrointestinaltrakt auf, was die orale Applikation maßgeblich erschwert. Mit Variationen im Molekül versucht man, dieses Problem zu lösen. In Egers Forschungskreis werden u.a. vielversprechende Prodrugs untersucht, bei denen durch Einführung von Phthalimid-, Succinimid- und Glutarimid-Gruppen das Lösungsverhalten von Thalidomid verbessert und die teratogene Potenz wesentlich verringert wird. Allerdings sei ihr sehr unterschiedliches Verhalten in In-vivo- und In-vitro-Untersuchungen extrem schwer interpretierbar.

Warum ist Thalidomid teratogen?

Noch sei keine der vielen Theorien zum teratogenen Mechanismus von Thalidomid endgültig gesichert. Eine Hypothese spricht von Prostaglandinsynthese-katalysierten teratogenen Metaboliten, eine andere von Thalidomid als Initiator von Sauerstoffradikalen, die die embryonale DNA schädigen können. Eine weitere Hypothese nimmt an, dass Thalidomid hemmend auf die Integrine wirkt. Das sind Stoffe, die über die Angiogenese die Ausbildung der Gliedmaßen im Embryo steuern.

Lange war man auch überzeugt, dass die Enantiomeren des als Racemat vorliegenden Wirkstoffs unterschiedlich im Körper reagieren: das Distomer teratogen, das Eutomer hypnotisch. Später erst wurde klar, dass die Teratogenität des Thalidomids speziesabhängig ist. In Ratten- und Mäuseembryonen zeigen sich keine teratogenen Reaktionen. Erst an Kaninchen und bestimmten Kleinaffen findet man mit Menschen vergleichbare Bedingungen. Ganz große Hoffnung wird derzeit in die Angiogenesehemmung von Thalidomid gesetzt. Die Neubildung von Blutgefäßen (Angiogenese) ist in Tumoren beschleunigt. Mit ihrer Inhibierung wird auch das Tumorwachstum unterbunden. Das könnte weitere Einsatzmöglichkeiten von Thalidomid bei der Behandlung von bisher nicht therapierbaren Tumorerkrankungen eröffnen.

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