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Unter-, Über-, Fehlversorgung im Gesundheitswesen: Versorgt uns die Medizin be

BERLIN (sw). Experten aus dem Gesundheitswesen weisen daraufhin, dass häufig Leistungen unnötigerweise mehrfach erbracht werden, in anderen Fällen dagegen eine zu geringe Leistung erbracht wird. Trotz der vergleichsweise hohen Ausgaben für das Gesundheitswesen wird die Gesundheitsversorgung in Deutschland nur als mittelklassig eingestuft. Der Gesprächskreis Arbeit und Soziales der Friedrich-Ebert-Stiftung hat am 21. Juni in Berlin eine Diskussionsveranstaltung zu diesem Thema veranstaltet.

Grundlage der Diskussion bildete ein Vortrag von Prof. Dr. Dr. K. W. Lauterbach, Mitglied des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, der berichtete, dass bis zu 40% des Zugewinns an Lebenserwartung durch medizinische Versorgung erreichbar seien. In Deutschland bestünden hier jedoch Defizite, verglichen mit anderen europäischen Ländern, ebenso bei der Absenkung der Sterblichkeit bei den wichtigen Volkskrankheiten (Dickdarmkrebs, Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall) sowie auf der Ebene der Prozess- und Ergebnisqualität.

Beispielsweise haben Patienten mit koronarer Herzkrankheit, die evidenzbasiert behandelt werden, eine geringere Mortalität. Ein sehr großer Teil der Patienten, beispielsweise beim akuten Myokardinfarkt, werde aber nur suboptimal behandelt. Sehr gute Ergebnisse werden hingegen bei der Dialyse sowie bei der Behandlung von Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphomen erreicht.

Verkrustete Strukturen mit starren Grenzen

Einige wichtige Ursachen der Versorgungsdefizite werden in den verkrusteten Strukturen mit ihren starren Grenzen zwischen ambulanter Versorgung, stationärer Versorgung und Rehabilitation gesehen, die mit einer fragmentierten Versorgung und einer Behinderung des Informations- und Wissensflusses zwischen diesen Sektoren einhergehe. Dadurch komme es beispielsweise vor, dass der nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus behandelte Bluthochdruck nach der Entlassung nicht weiterbehandelt werde oder die Medikamente bis zu viermal umgestellt würden (Krankenhaus, Reha, Kardiologe, Hausarzt).

Als besonders wichtig werden evidenzbasierte Therapiestandards zur Versorgung chronisch Kranker angesehen. Im Gegensatz zu den meisten Ländern gibt es in Deutschland praktisch keine evidenzbasierten Leitlinien. Hier sind die Fachgesellschaften gefordert. Die medizinische Versorgung beinhalte auch die Aufklärung der Patienten, die es ihnen z. B. ermögliche, den geeigneten Behandler oder das geeignete Krankenhaus auszuwählen. Darüber hinaus erhöht Informiertheit auch die Compliance. Eine wichtige Voraussetzung für die Verbesserung von Qualität und Transparenz der Versorgung sei auch der gezielte Einsatz moderner Informationstechnologie.

Gezielte Prävention wird als die sicherste Investition angesehen, denn die Senkung des hohen Anteils der chronisch Kranken in der Altersgruppe der 50- bis 70-Jährigen stellt den sichersten Weg zur Stabilisierung der Kosten und der Gewährleistung der sozialen Gerechtigkeit dar.

Viel Geld, wenig Qualität

Dr. H. J. Ahrens, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes beklagte ebenfalls, dass Deutschland sehr viel Geld für das Gesundheitswesen ausgebe und die Bürger nicht die erforderliche Qualität dafür bekämen. Neben den erwähnten Mängeln bei der Behandlung der Volkskrankheiten sei teilweise eine Überversorgung zu konstatieren. Jede zweite Röntgenaufnahme sei medizinisch nicht indiziert, 25% der Eierstock- und Eileiteroperationen seien unnötig, ebenso sehr viele Arthroskopie- und Blinddarmoperationen. All das bewirke Schaden für die Patienten und unnötige Ausgaben. Gleiches gelte für die den Krankenkassen aufgezwungene Bezahlung der zu hoch dosierten Chemotherapie bei Brustkrebs, die sich als schädlich erwiesen habe.

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, freute sich, dass nicht mehr nur über Kostendämpfung geredet werde, sondern auch über die Versorgungserfordernisse. Er befürwortete ebenfalls die Orientierung an Leitlinien, die die Ärzte auch zur Fortbildung zwängen. Gleichfalls wies er aber daraufhin, dass der Mensch sich nicht in Leitlinien pressen lasse und dass es viele biologische Unterschiede gebe.

Sterblichkeit bei Mammakarzinom steigt an

Prof. Dr. R. Kreienberg, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, berichtete über die im internationalen Vergleich dramatisch schlechtere Situation im Bereich der Früherkennung beim Mammakarzinom. Während in den USA pro Jahr eine zweiprozentige Reduktion der Sterblichkeit an dieser Erkrankung erfolge, steige sie in Deutschland weiter an. Zu der schlechten Früherkennungsquote kämen viele falsche Behandlungen (zu viele radikale Operationen, zu viele ungezielte Strahlentherapie, unter- oder überdosierte Hormon- und Chemotherapie, zuviel Diagnostik in der Nachsorge). Dringend notwendig seien neben evidenzbasierten Leitlinien für Diagnose, Therapie, Nachsorge und Palliation auch der Nachweis ihrer Umsetzung, eine Messung der Ergebnisqualität, die Zertifizierung von Einrichtungen sowie ein Tumorregister.

Soziale Ungleichheiten

Klaus Kirschner, Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages, befürwortete ebenfalls die Aufhebung der Trennung zwischen ambulant und stationär sowie eine höhere Datentransparenz. Er wies darauf hin, dass heute schon eine soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod bestehe (Lebenserwartungsunterschiede zwischen unteren und oberen Einkommensschichten von über zwei Jahren). Außerdem bezweifelte er, dass das im Gesundheitswesen vorhandene Geld immer dort ankommt, wo es benötigt wird. Auch er gab Beispiele für Überversorgung an (Krankenhausbetten, Linksherzkathetermessplätze).

In der Diskussion wurde nochmals klar, dass eigentlich fast alle das gleiche wollen - evidenzbasierte Qualitätsleitlinien, Überwindung der sektoralen Abschottung, Förderung der Prävention, mehr Daten, insbesondere epidemiologische. Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob das System wirklich reformfähig sei, und konstatiert, dass viele Gremien - teilweise schon viele Jahre - immer wieder um die gleichen Probleme kreisen, ohne sie anzupacken und zu lösen. Immer wieder werden neue Reformen gefordert, gleichzeitig aber die bestehenden Gesetze blockiert.

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