Arzneimittel und Therapie

Chronisch myeloische Leukämie: Imatinib – neues Wirkprinzip gegen Krebs

Das neue Krebsmittel Imatinib (Glivec®) ist jetzt von der United States Food and Drug Administration (FDA) zur oralen Therapie für die Behandlung von Patienten mit chronisch myeloischer Leukämie (CML) in der Blastenkrise, der akzelerierten und der chronischen Phase nach dem Versagen der Interferon-alfa-Therapie zugelassen. In Europa wird die Zulassung für spätestens Frühjahr 2002 erwartet. In den USA, Europa und in Japan hat Imatinib den Status eines "Orphan Drug" erhalten.

Wegen der sehr guten klinischen Ergebnisse ließ die FDA das neue Arzneimittel nur 32 Monate nach seiner ersten Anwendung am Menschen und nach einer Beratungszeit von nur zweieinhalb Monaten beschleunigt zu. Die FDA-Zulassung basiert auf Ergebnissen von Phase-I- und drei großen Phase-II-Studien, in denen Remissionsraten von bis zu 100% erreicht werden konnten. Derzeit werden mehr als 7500 Patienten in 30 Ländern mit Imatinib behandelt.

Eine einzige Genveränderung löst den Krebs aus

Im Gegensatz zu vielen multigenetischen Erkrankungen wird die CML durch ein einziges verändertes Gen ausgelöst. Das von diesem kodierte Protein, das Enzym Bcr-Abl, eignet sich damit gut für die Entwicklung von Arzneistoffen zur Behandlung dieser Leukämieform. Der neue Wirkstoff Imatinib beeinflusst direkt das Krebsenzym, ohne normale Zellen in ihrer Funktion zu beeinträchtigen.

Signalübertragung der Krebszellen hemmen

Imatinib ist das erste Krebsmittel, das mit den Methoden des Drug design entwickelt wurde. Die Substanz richtet sich gegen eine genetisch verankerte Dysfunktion der Zellen bei CML-Patienten. Dieser spezielle Leukämietyp ist durch eine reziproke Translokation zwischen Chromosom 9 and 22 gekennzeichnet. Das veränderte Chromosom wird als "Philadelphia-Chromosom" bezeichnet und gilt als Marker für die CML. Als Folge der Veränderung entsteht ein abnormes Protein namens Bcr-Abl, das die unkontrollierte Proliferation von weißen Blutzellen stimuliert.

Das Phenylaminopyrimidin-Derivat Imatinib hemmt die Bcr-Abl-Kinase mit hoher Aktivität. Es bindet in der Tasche der Tyrosinkinase, in der normalerweise das ATP-Molekül gebunden wird, und verhindert damit den zentralen Schritt in der von Bcr-Abl katalysierten Reaktion, nämlich die Übertragung eines Phosphatrestes auf andere Proteine. Dadurch wird die Phosphorylierung von Bcr-Abl selbst, aber auch einer ganzen Reihe anderer Substrate dieser Kinase gehemmt. Alle sind an Signaltransduktionswegen beteiligt, die für Überleben und Proliferation dieser Zellen essenziell sind. Imatinib wirkt damit als Hemmer der Signalübertragung.

Gute Ergebnisse in klinischen Studien

Im Juni 1998 wurde die erste Phase-I-Studie mit Imatinib begonnen. Zuerst wurden 54 Patienten mit CML in der chronischen Phase behandelt, bei denen eine Interferon-alfa-Therapie versagt hatte. Die Ergebnisse dieser Studie wurden 1999 veröffentlicht: Bei täglichen Dosen von mehr als 300 mg Imatinib hatten 53 (98%) Patienten eine hämatologische Remission, bei ihnen hatten sich also die weißen Blutkörperchen signifikant reduziert. 29 (54%) von ihnen sprachen auch zytogenetisch auf die Therapie an: Bei ihnen waren weniger als 35% der Metaphase-Zellen positiv für das Philadelphia-Chromosom, das die CML auslöst. Sieben von diesen Patienten wiesen sogar eine komplette zytogenetische Response auf: Bei ihnen war das Philadelphia-Chromosom nicht mehr nachweisbar.

In eine weitere Phase-I-Studie wurden 38 Patienten in der myeloiden Blastenkrise einer CML sowie 20 weitere in der lymphoiden Blastenkrise oder bei Philadelphia-Chromosom-positiver akuter lyphoblastischer Leukämie (ALL) eingeschlossen. Sie wurden mit Dosierungen zwischen 300 und 1000 mg täglich behandelt. Das Gesamtansprechen lag bei 55% für den myeloiden und bei 70% für den lymphoiden Phänotyp. Bei 12 (32%) der 38 Patienten in der myeloiden Krise nahmen die Blasten im Knochenmark auf unter 5% der Ausgangswerte ab, 4 (11%) von ihnen hatten sogar eine komplette Remission. Bei den 20 Patienten mit lymphoidem Phänotyp lagen die entsprechenden Werte bei 11 (55%) bzw. 4 (20%).

Auch die Phase-II-Studien waren ähnlich eindrucksvoll: 532 Patienten in einer chronischen Phase der CML nach dem Versagen einer Interferon-Therapie erhielten täglich 400 mg Imatinib. Nach einer medianen Beobachtungszeit von 6 Monaten wiesen 150 (28%) ein komplettes, weitere 100 (19%) ein partielles zytogenetisches Ansprechen auf. 98% der Patienten lebten noch nach einem Jahr, während man unter herkömmlichen Therapieformen mit einer jährlichen Mortalität von etwa 15% rechnen muss.

In einer weiteren Phase-II-Studie erhielten 233 Patienten mit CML in der akzelerierten Phase 400 bis 600 mg Imatinib täglich. Fast zwei Drittel (63%) der Patienten erreichten eine komplette hämatologische Remission, davon wiederum mehr als zwei Drittel mit einer Erholung des peripheren Blutbilds. Insgesamt sprachen 91% der Patienten hämatologisch an.

In einer dritten Studie wurden 262 Patienten in einer Blastenkrise oder mit Philadelphia(Ph)-Chromosom-positiver ALL mit 400 bis 600 mg Imatinib täglich behandelt. Die Ansprechrate bei den bislang auswertbaren Patienten lag nach vier Wochen bei 48%, nach acht Wochen bei 47% bei den Patienten, die therapienaiv waren bzw. bei 38 und 33% bei vorbehandelten Patienten. Von 32 Patienten mit Ph-positiver ALL sprachen nach vier Wochen 59% an. Außerdem ist eine Reihe von weiteren Studien geplant, in denen Imatinib bei den verschiedenen Formen Ph-positiver Leukämien mit Interferon alfa, Cytarabin, Homoharringtonin und einer Reihe von zytostatischen Therapien kombiniert werden soll.

Milde bis moderate Nebenwirkungen

Die Nebenwirkungen in den klinischen Studien waren meistens mild bis moderat. Das Arzneimittel musste wegen seiner Nebenwirkungen bei 1% der Patienten in der chronischen Phase, bei 2% in der beschleunigten Phase und bei 5% in der Blastenkrise abgesetzt werden.

Als Nebenwirkungen traten auf:

  • Nausea (55 – 68%),
  • Flüssigkeitsretention (52 – 68%),
  • Muskelkrämpfe (25 – 46%),
  • Diarrhö (33 – 49%),
  • Erbrechen (28 – 54%),
  • Hämorrhagie (13 – 48%),
  • muskuloskelettale Schmerzen (27 – 39%),
  • Hautrötung (32 – 39%),
  • Kopfschmerzen (24 – 28%) und Fatigue (24 – 33%).

Ödeme traten am häufigsten periorbital oder in den Beinen auf und konnten mit Diuretika, anderen unterstützenden Maßnahmen oder durch eine Dosisreduktion behandelt werden. Schwerwiegende Ödeme traten in 1 bis 5% der Fälle auf. Gravierendere Nebenwirkungen waren erhöhte Leberenzyme (1,1 – 3,5%), schwere oberflächliche Ödeme (1 – 5%) and Hämorrhagien (0,4 – 16%). Während der Behandlung mit Imatinib kommt es häufig zu Neutropenien und/oder Thrombozytopenien. Frauen sollten während einer Behandlung mit Imatinib nicht schwanger werden.

Wirkung auf andere Krebsarten wird untersucht

Imatinib hemmt nicht nur die Bcr-Abl-Tyrosinkinase, sondern auch eine ganze Reihe anderer Tyrosinkinasen, die teilweise mit Wachstumsfaktoren assoziiert sind, darunter:

  • den c-Kit-Rezeptor, ein Transmembran-Protein, das bei verschiedenen Krebsarten aktiv ist (z. B. beim gastrointestinalen Stromatumor und dem kleinzelligen Bronchialkarzinom) und
  • den PDG-F-Rezeptor, der bei Gliomen, Prostatakarzinom und Weichteilsarkomen aktiv ist.

Derzeit laufen Studien beim gastrointestinalen Stromatumor und beim Glioblastom. Allerdings ist die Therapie hier bedeutend komplizierter, denn anders als bei der CML werden alle diese Tumoren durch mehrere Veränderungen im Genom ausgelöst, und die Mechanismen sind noch längst nicht vollständig bekannt.

Kastentext: Chronisch myeloische Leukämie

An der chronisch myeloischen Leukämie (CML), die vorwiegend im Erwachsenenalter auftritt, erkranken ein bis zwei Menschen von 100 000 jährlich. Die Erkrankung verläuft in drei Phasen: der chronischen Phase, die etwa drei bis vier Jahre andauert, der beschleunigten oder akzelerierten Phase (drei bis neun Monate) und der Blastenkrise (drei bis sechs Monate) mit einer massiven Proliferation von Leukozyten.

Durch Behandlung mit Zytostatika und Interferon alfa kann die Krankheitsprogression lediglich um einige wenige Jahre aufgehalten werden. Die mittlere Krankheitsdauer beträgt zwei bis drei Jahre. Die Patienten sterben meistens im terminalen Myeloblastenschub. Nur die Knochenmarktransplantation konnte die CML bisher in einigen Fällen heilen. Allerdings ist aus verschiedenen Gründen eine solche Transplantation nur bei etwa 20% der Patienten möglich, und die Methode ist sehr risikoreich.

Quellen: Prof. Dr. Rüdiger Hehlmann, Mannheim; Dr. Junia Melo, London; Dr. Thomas Fischer, Mainz; Dr. Andreas Hochhaus, Mannheim; Dr. Steven O'Brien, Newcastle Upon Tyme: "New paradigm: targeted drug therapy", Frankfurt/M., 21. Juni 2001, veranstaltet von Novartis Pharma AG, Basel. Druker, B., et al.: Efficacy and safety of a specific inhibitor of the BCR-ABL tyrosine kinase in chronic myeloid leukemia. N. Engl. J. Med. Assoc. 344, 1031 – 1037 (2001). Druker, B., et al.: Activity of a specific inhibitor of the BCR-ABL tyrosine kinase in the blast crisis of chronic myeloid leukemia and acute lymphoblastic leukemia with the philadelphia chromosome. N. Engl. J. Med. Assoc. 344, 1038 – 1042 (2001). Koensuu, H., et al.: Brief report: Effect of the tyrosine kinase inhinitor STI571 in a patient with a metastatic gastrointestinal stromal tumor. N. Engl. J. Med. Assoc. 344, 1052 – 1056 (2001).

Das neue Krebsmittel Imatinib (Glivec®) ist jetzt von der United States Food and Drug Administration (FDA) zur oralen Therapie von Patienten mit chronisch myeloischer Leukämie (CML) in der Blastenkrise, der akzelerierten und der chronischen Phase nach dem Versagen der Interferon-alfa-Therapie zugelassen. In Europa wird die Zulassung für spätestens Frühjahr 2002 erwartet. In den USA, Europa und in Japan hat Imatinib den Status eines "Orphan Drug" erhalten.

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