Berichte

Das Lorscher Arzneibuch und das Erbe der Klostermedizin

Am 26. April hielt Prof. Dr. Dr. Gundolf Keil, Würzburg, in Lorsch einen Vortrag über das Lorscher Arzneibuch und seine epochale historische Bedeutung. Das Referat bildete den Höhepunkt eines zweitägigen Seminars zum Thema "Von der Klostermedizin zur modernen Phytotherapie", das die Forschergruppe Klostermedizin der Universität Würzburg mit Unterstützung der Firma Abtei (GlaxoSmithKlein) veranstaltete.

Wendepunkt der abendländischen Medizin

Das so genannte Lorscher Arzneibuch, ein zur Zeit Karls des Großen auf Pergament geschriebener Codex im Besitz der Staatsbibliothek Bamberg, gilt als ältestes auf deutschem Boden entstandenes Werk über Rezepturen und ihre medizinische Anwendung. Es markiert einen Wendepunkt der Geschichte der abendländischen Medizin, der vor dem Hintergrund der allgemeinen Geschichte zu verstehen ist.

Der Mittelmeerraum, der gegen Ende der Antike (2. bis 4. Jh.) noch ca. 50 Millionen Einwohner gezählt und damit weltweit die größte Bevölkerungskonzentration aufgewiesen hatte, war in den folgenden Jahrhunderten weitgehend entvölkert - in der einstigen Metropole Rom lebten beispielsweise nur noch etwa 5000 Personen. Für diesen dramatischen Niedergang machte Keil die Pest verantwortlich, die in immer wiederkehrenden Pandemien gerade in den dichter besiedelten Gebieten verheerend wirkte.

Während dessen gingen wichtige Funktionen der Städte, die Träger der Kultur und Zentren der Verwaltung gewesen waren, allmählich auf die Klöster über. Auch das Frankenreich, das im 8. Jahrhundert zur europäischen Großmacht aufstieg und unter Karl dem Großen eine Art Renaissance zustande brachte, stützte sich innenpolitisch auf die Klöster, die in seinem Gebiet zuerst von iroschottischen, dann von anglofränkischen Mönchen gegründet worden waren. Unter diesen Klöstern ragte das zwischen Mannheim und Darmstadt gelegene Lorsch wegen seiner Größe und seines Reichtums - es hatte Besitzungen vom Alpenrand bis zur Nordsee - hervor.

Medizin unter Rechtfertigungszwang

Die Medizin hatte im frühen Mittelalter einen schweren Stand, mit Keils Worten: "Die Medizin hatte es schwer, Medizin zu sein." Das geistige Leben wurde von Christentum beherrscht, und in der Bibel kommt der Arzt nicht vor, abgesehen von einer kurzen Passage im Buch Jesus Sirach. Die Medizin gehörte nicht zum Bildungskanon, und ihren Praktikern standen die einschlägigen Werke der Antike nicht zur Verfügung; sogar der hippokratische Eid war verloren gegangen. Medizinische Kenntnisse wurden folglich - einem Handwerk vergleichbar - vom praktizierenden Arzt direkt an seinen Gehilfen weitergegeben.

Der Bibel zufolge gibt es zwei Ursachen für Krankheiten:

  • Strafe Gottes für begangene Sünden, wobei die Strafe - nach Art der Sippenhaft - auch einen Nachkommen des Sünders treffen kann ("Gottes Mühlen mahlen langsam"),
  • Prüfung Gottes - der vom Aussatz befallene Hiob ist hierfür das bekannteste Beispiel.

Beide "Krankheitsursachen" geben der Krankheit auch einen Sinn. In beiden Fällen nahm der Mensch die Krankheit hin, um den Willen Gottes zu achten.

Wozu also benötigte er einen Arzt? Es versteht sich, dass ein Arzt im geistigen Klima des Mittelalters seine Tätigkeit mit christlichen Argumenten rechtfertigen musste. Hier bot sich das Gebot der Nächstenliebe an. Der Arzt versucht aus christlicher Liebe menschliches Leid zu lindern, ohne dadurch Gott ins Handwerk zu pfuschen.

Rekonstitution der Medizin

Diese Argumentation wurde sogar im Kloster akzeptiert, und so konnte in Lorsch das so genannte Lorscher Arzneibuch entstehen - mit weit reichenden Folgen. Keil charakterisierte es als deutschen Sonderweg, der für das ganze Frankenreich und darüber hinaus für Europa maßgeblich wurde. Schon fünf Jahre nach seiner Niederschrift, die Keil auf ca. 788 datiert, erließ Karl der Große das Capitulare de villis, in dem er den Krongütern vorschrieb, bestimmte Heilpflanzen anzubauen. Dass auch Klöster die Anweisungen des Königs befolgten, dafür sprechen das Gedicht " Hortulus" des Mönchs Walahfrid Strabo auf der Reichenau und der Sankt Galler Klosterplan mit dem darin verzeichneten Kräutergarten (beides: 1. Hälfte 9. Jh.).

Das Lorscher Arzneibuch enthält über 600 Rezepturen, die teilweise erstaunliche medizinische Kenntnisse verraten. Interessant ist z.B., dass man damals schon mit Penicillin therapierte, freilich nicht mit der Reinsubstanz: Man legte schimmeligen Käse auf Schafdung, um Pinselschimmel (Penicillium) wachsen zu lassen, den man dann in einer pharmazeutischen Zubereitung auf Ulcera cruris aufbrachte.

Auffällig ist das Bemühen des geistlichen Verfassers, die Rezepturen für jedermann erschwinglich zu machen. Jedenfalls substituierte er nach Möglichkeit kostbare exotische Drogen durch einheimische Rohstoffe, um den Preis der Arzneien zu senken. Keil resümierte, dass vor 1200 Jahren in Lorsch der überaus erfolgreiche, in seiner Nachwirkung kaum zu überschätzende Versuch unternommen wurde, eine neue ärztliche Ethik zu begründen.

Von der Klostermedizin lernen

Für die Forschergruppe Klostermedizin, die am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg angesiedelt ist, erläuterte Dr. Ralf Windhaber deren Zielsetzung und Methodik. Unter dem Motto "übersetzen, aktualisieren, weitergeben" erschließt sie altes medizinisches Wissen, sichtet es mit modernen naturwissenschaftlichen Methoden und sucht nach nützlichen Informationen, die heute für die Medizin wieder von Bedeutung sein könnten. Kurz: Sie überprüft tradiertes Wissen auf seine aktuelle Relevanz. Aus Sicht der Industrie bestätigte Heribert Voß, Fa. Glaxo- SmithKline, dass die Forschergruppe Klostermedizin den Arzneimittelherstellern bereits wertvolle Impulse gegeben habe.

Das weite Spektrum der Arbeiten von der philologischen Bearbeitung mittelalterlicher Texte bis zum Wirkungsnachweis von Drogenextrakten und Rezepturen entsprechend der gültigen Arzneimittelgesetzgebung deckten elf Referate ab. Mehrere Referenten betonten, dass traditionell verwendete Arzneipflanzen nach wie vor die Möglichkeit bieten, bislang unbekannte, therapeutisch relevante Wirkstoffe zu isolieren. Zudem gibt die früher zum Teil andersartige Anwendung und Indikation bestimmter Arzneidrogen Anregungen, ihrem Wirkungsmechanismus auf die Spur zu kommen.

Nicht zuletzt ist es ein Anliegen der Forschungsgruppe, Phytopharmaka, die nur den arzneimittelrechtlichen Status "traditionell angewandter" Mittel haben, auf eine breitere wissenschaftliche Basis zu stellen. cae

Kastentext: Literaturtipp

Das Lorscher Arzneibuch. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Gundolf Keil, übersetzt von Ulrich Stoll. Band I: Faksimile. Band II: Übersetzung. Jeweils 152 Seiten. Beide Bände Leinen mit Goldprägung, in Leinenschuber. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1989. 420,- DM. Zu beziehen über die Buchhandlung des Deutschen Apotheker Verlags, Postfach 101061, 70009 Stuttgart E-Mail: Service@DAV-Buchhandlung.de

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