DAZ aktuell

Patientenorganisation: Sexualstörungen – kein gesellschaftliches Tabu

BARCELONA. Ein neugegründeter Dachverband für atientenorganisationen will Sexualstörungen europaweit enttabuisieren. Das Deutsche Informationszentrum für Sexualität und Gesundheit e.V. (ISG) war maßgeblich an der ESDA-Gründung beteiligt.

Auf dem dritten Kongress der European Society of Sexual Dysfunction and Impotence Research (ESSIR) in Barcelona (Spanien) gründeten Ärzte und Wissenschaftler am 31. Januar die European Sexual Dysfunction Alliance (ESDA). Als europäischer Dachverband will die ESDA nationale Patientenorganisationen dabei unterstützen, Betroffene umfassend über sexuelle Funktionsstörungen zu informieren. Gleichzeitig soll die Arbeit dazu beitragen, dass Sexualstörungen nicht länger ein gesellschaftliches Tabu sind.

Im Zentrum unserer Arbeit steht die Aufklärung der betroffenen Patienten", sagte der britische Urologe Dr. John Pryor, Präsident der ESSIR und ESDA-Vorsitzender. Der Dachverband versteht sich als Forum, das den Experten der einzelnen Länder Unterstützung beim Aufbau von Beratungsstellen und die Möglichkeit zur Kommunikation bietet. In Deutschland, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Portugal, Spanien und in den Niederlanden wurden bereits Beratungszentren mit Info-Hotlines eingerichtet. In Belgien, Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden und der Türkei befinden sie sich in der Gründungsphase, und auch Österreich und die Schweiz wollen mit ihren Informationsstellen noch in diesem Jahr an den Start gehen.

Mehr Öffentlichkeit für das Thema Sexualstörungen

Das im April 1999 in Freiburg gegründete Informationszentrum für Sexualität und Gesundheit e.V. (ISG) war maßgeblich am Aufbau der europäischen Allianz beteiligt. ISG-Vorsitzender Prof. Dr. Ulrich Wetterauer vom Freiburger Universitätsklinikum zog nach neun Monaten Arbeit Bilanz. "Wir wollen nicht nur Patienten bei der Bewältigung ihres speziellen Problems helfen, sondern auch die Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam machen", sagte Wetterauer. "Jeder fünfte Deutsche leidet unter sexuellen Funktionsstörungen. Aber weil sexuelle Probleme auch in unserer freizügigen Gesellschaft noch immer ein Tabu sind, geraten Betroffene häufig in die Isolation."

Erste Anlaufstelle für ratsuchende Männer und Frauen ist die ISG-Infoline, die in der Woche fünf Stunden täglich besetzt ist. Statt zum Telefonhörer zu greifen können Interessierte natürlich ebenso schreiben oder ihr Anliegen per E-Mail vortragen (siehe Kasten). Von April bis Dezember 1999 beantwortete das ISG mehr als 5 200 Anfragen. 75 Prozent der Ratsuchenden klagten über Erektionsstörungen, fachsprachlich als Erektile Dysfunktion bezeichnet.

Im Ausland wendet sich ebenfalls die große Mehrheit der Patienten mit Potenzproblemen an die Beratungsstellen – auch Frauen sprechen nicht selten das sexuelle Unvermögen ihres Partners an. Wenden sich Frauen an die Hotline, dann in rund 50 Prozent der Fälle wegen Orgasmusschwierigkeiten. "Sexualstörungen brauchen Publicity", betonte ISG-Vorstandsmitglied Dr. Ralf Popken. "Je mehr Menschen wissen, dass es in der Mehrzahl der Fälle eine effektive Behandlung für ihr Problem gibt, desto eher werden sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen", sagte der Freiburger Urologe.

Hotline in allen europäischen Ländern

Wie Milagros Lemos Gömez, Sprecherin des seit Dezember 1998 in Madrid beheimateten ESDA-Büros, betonte, sei es gerade die Anonymität am Telefon, die es den Anrufern leichter mache, über ihr Problem zu reden. "Fast 66 Prozent aller Hilfesuchenden sprechen auf diesem Wege zum ersten Mal mit einem Experten. Die wenigsten haben vorher einen Arzt konsultiert." Auch wenn die Bedingungen der einzelnen Informationsstellen verschieden sein mögen, mit einem Problem sehen sich alle konfrontiert: Was die eigene Sexualität betrifft, können sich gerade Männer nur sehr schwer überwinden, medizinische Hilfe zu suchen. "Klischees wie das vom 'Mann, der immer kann', sind einfach zu tief verwurzelt", sagte Wetterauer vom deutschen ISG. "Wir wollen Betroffenen durch unsere Arbeit deshalb das nötige Selbstvertrauen vermitteln, sich an einen Arzt zu wenden", ergänzte Pryor, der neben ESSIR und ESDA auch der bereits 1995 gegründeten britischen Patientenorganisation "The British Impotence Association" vorsteht.

Sexualprobleme – weiter verbreitet als vermutet

Probleme mit der Sexualität sind weiter verbreitet als gemeinhin vermutet – das beweisen die zahlreichen Anfragen, die alle nationalen Hotlines seit ihrer Gründung entgegennehmen konnten. Für die deutsche Institution Grund genug, die Arbeit nicht nur weiterzuführen, sondern gleichzeitig über neue Strategien nachzudenken: So ist geplant, verstärkt mit anderen Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen zusammenzuarbeiten.

Bestimmte Grunderkrankungen, wie Diabetes, Bluthochdruck, Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose, können die Entstehung von Erektionsstörungen begünstigen. Hier bieten sich zum Beispiel Diabetiker-Organisationen an, denn circa 50 Prozent aller männlichen Zuckerkranken sind von Impotenz betroffen. Geplant ist auch die Zusammenarbeit mit Verbänden aus dem Herz-Kreislauf Bereich, gelten doch Potenzstörungen als ein wichtiges Frühsymptom für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Fazit für das ISG: Prävention wird immer wichtiger, "Auf lange Sicht ist unsere Zielsetzung aber noch eine andere", so Wetterauer. "Wir sollten nicht erst da ansetzen, wo jemand bereits erkrankt ist, sondern der Prävention viel mehr Aufmerksamkeit widmen. Jungen Menschen sollte eine gesunde Lebensweise vermittelt werden, zu der Sport und die richtige Ernährung ebenso gehören wie ein Verzicht aufs Rauchen. Wer dann später seine Risikofaktoren kennt und weiß, was er sich und seinem Körper Gutes tun kann, der hat die besten Chancen, bis ins Alter fit zu bleiben – auch sexuell."

Kasten: Weitere Informationen

ISG – Informationszentrum für Sexualität und Gesundheit e.V. Geschäftsstelle, Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Straße 55, 79106 Freiburg Infoline: 0180-555 84 84, Montag – Freitag 15.00 – 20.00 Uhr, E-Mail: ISG@ch11.ukl.uni-freiburg.de

Das könnte Sie auch interessieren

Beratungstipps für verunsicherte Patienten

Lusträuber Arzneistoffe

Sexuelle Funktionsstörungen können über Jahre nach Therapieende anhalten

Genitale Taubheit nach SSRI und SNRI

Therapievarianten bei erektiler Dysfunktion und Ejaculatio praecox

Von Spray bis Schockwellen

Was Hormone, Neurotransmitter und Psychopharmaka bewirken

Sex & Drugs & Neurobiology

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.