Arzneimittel und Therapie

Glatirameracetat: Gut verträgliche Langzeittherapie bei Multipler Sklerose

Glatirameracetat, ein Immunmodulator, kann bei schubförmig verlaufender Multipler Sklerose die Schubrate verringern und die Progression der Erkrankung verlangsamen. Wie die nun vorliegenden Daten einer 6-Jahres-Studie zeigen, sind diese Effekte umso deutlicher, je früher mit der Therapie begonnen wird und je geringer der Behinderungsgrad bei Beginn ist. Etwa Mitte nächsten Jahres soll Glatirameracetat (Copaxone®) nun auch in Deutschland zur Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose zugelassen werden. In den USA ist Glatirameracetat seit 1996 auf dem Markt.

Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche Erkrankung des Nervensystems. Sie befällt vor allem junge Erwachsene und mehr Frauen als Männer. In Deutschland leiden etwa 120000 Menschen an dieser Autoimmunerkrankung. Die Ursachen der Multiplen Sklerose sind bislang noch unbekannt, eine Rolle spielen genetische Dispositionen, Umwelteinflüsse und auch Viren. Folgende Hypothese wird zurzeit favorisiert: Auf der Grundlage einer genetischen Disposition beginnt die Autoimmunität meist schon vor der Pubertät durch den Kontakt mit einem Virus. Verschiedene Faktoren wie Infektionen, hormonelle Umstellungen, körperlicher und seelischer Stress begünstigen dann, dass sich die Erkrankung manifestiert.

Verschlechterung meist schubweise

Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung. Bei den Patienten richten sich so genannte autoreaktive Zellen gegen verschiedene Moleküle, die in der Hüllschicht, dem Myelin, von Nervenfasern in Gehirn und Rückenmark lokalisiert und für die Nervenleitung notwendig sind. Eine solche Immunattacke gegen das Myelin bemerkt der Betroffene, wenn wichtige Bahnsysteme beeinträchtigt werden, die beispielsweise für das Gehen oder Sehen wichtig sind. Er erleidet dann einen so genannten akuten Schub, bei dem sich neurologische Funktionen plötzlich verschlechtern. Je nach dem Ort der Schädigung treten unterschiedliche Ausfälle oder Lähmungen auf. Wie bei jeder Verletzung findet anschließend eine Wundheilung statt, die Funktionen bessern sich, und der Schub bildet sich zurück.

Die volle Funktionsfähigkeit wird nach einem Schub allerdings meistens nicht mehr erreicht. Im Verlauf von immer wiederkehrenden Schüben akkumuliert der Patient Behinderungen in zahlreichen Systemen: Das Gehen wird beschwerlich, die Augen werden schwächer, die kognitive Leistungsfähigkeit lässt nach und Störungen der Blasen-, Mastdarm- und Sexualfunktion treten auf. Auch Gefühls- und Koordinationsstörungen sind bei lange bestehender Multipler Sklerose die Regel. Etwa die Hälfte der MS-Patienten sind nach 15 Jahren Krankheitsdauer auf den Rollstuhl angewiesen.

Bei etwa 85% der Betroffenen beginnt die Multiple Sklerose mit solchen akuten Schüben und anschließender Verbesserung (schubförmiger Verlauf). Bei einem großen Teil dieser Patienten werden die Schübe mit der Zeit jedoch seltener, und die Verschlechterung schreitet im weiteren Verlauf ohne Verbesserungen fort (sekundär chronisch-progredienter Verlauf). Nur bei etwa 15% aller MS-Patienten findet sich diese schleichende Verschlechterung der Behinderung schon von Anfang an (primär chronisch-progredienter Verlauf).

Sichere Diagnose ist notwendig

Die Diagnose der Multiplen Sklerose stützt sich auf den Verlauf, die zahlreichen neurologischen Symptome, die Immunantwort in der Rückenmarksflüssigkeit und die Entmarkungsherde, die mit Hilfe der zerebralen und spinalen Magnetresonanztomographie (MRT) dargestellt werden können. Axonale Verluste werden bereits beim ersten Schub als so genannte "black holes" mit Hilfe der MRT erkannt, auch wenn sich die Symptome wieder vollständig zurückbilden. Heute kann die Diagnose dank verbesserter Labor- und Liquordiagnostik und besserer kernspintomographischer Möglichkeiten früher und sicherer gestellt werden als noch vor einigen Jahren.

Dies könnte einen frühen Therapiebeginn ermöglichen. Die Behandlung einer schubförmigen Multiplen Sklerose wird jedoch trotz Krankheitsaktivität zu häufig noch zu spät begonnen. Patienten mit sicherer Diagnose, die in den letzten beiden Jahren zwei oder mehr Schübe hatten, sollten so früh wie möglich auf eine immunmodulatorische Dauertherapie eingestellt werden.

Behandlung früh beginnen

Mehrere Gründe sprechen für einen frühen Behandlungsbeginn bei Multipler Sklerose. So soll das Fortschreiten der Behinderung so lange wie möglich hinausgezögert werden, da bislang keine remyelinisierenden Therapien zur Verfügung stehen. Auch ist es das Ziel, die Schubrate so stark wie möglich zu reduzieren, was bei einem frühen Therapiebeginn weit besser gelingt. Da im Verlauf der Erkrankung immer mehr verschiedenen Epitope als fremd erkannt werden, wird das Immungeschehen ohne eine Therapie mehr und mehr angeheizt.

Autoimmunprozess stoppen

Seit mehr als 30 Jahren richtet sich die Therapie der Multiplen Sklerose gegen den Autoimmunprozess. Zunächst wurden Immunsuppressiva wie Azathioprin, Cyclophosphamid und Mitoxantron eingesetzt. Ein Durchbruch in der Therapie war 1995 die Zulassung der Beta-Interferone. Diese greifen auf verschiedenen Ebenen der Entzündungskaskade regulierend in den Krankheitsprozess ein. Auch die Immunglobuline der IgG-Klasse wirken immunregulierend. Ihr Vorteil ist, dass sie nur einmal im Monat verabreicht werden müssen.

Mit der Zulassung von Glatirameracetat (Copaxone®) in den USA 1996 steht eine weitere Substanz für die Basistherapie zur Verfügung. Glatirameracetat vermag die Schubrate - genauso wie die Beta-Interferone - um etwa 30% zu reduzieren. Mittlerweile wurde Glatirameracetat in 18 weiteren Ländern zugelassen. Im August diesen Jahres wurde es in Großbritannien für die Therapie der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose zugelassen. Die englische Behörde hat darüber hinaus zugestimmt, als Referenzland im nun folgenden europäischen Verfahren der gegenseitigen Anerkennung zur Verfügung zu stehen. Der erfolgreiche Abschluss dieses Verfahrens würde dann auch in Deutschland die Markteinführung von Glatirameracetat im nächsten Jahr ermöglichen.

Der Immunmodulator Glatirameracetat

Glatirameracetat (Copolymer-1, Copaxone®) ist ein hydrophiles Polypeptid aus den vier Aminosäuren Glutamin, Lysin, Alanin und Tyrosin, die in ihrer quantitativen Zusammensetzung dem basischen Myelinprotein der Markscheiden ähneln. Glatirameracetat ist indiziert bei schubförmigem Verlauf der Multiplen Sklerose, um die Schubfrequenz zu reduzieren und das Fortschreiten des Behinderungsgrads zu verlangsamen. Die Patienten sollten vor der Behandlung einen EDSS-Wert von kleiner oder gleich 5 besitzen. EDSS steht für Expanded Disability Status Scale und ist eine Skala von 0 bis 10, die eingesetzt wird, um die Veränderungen der neurologischen Funktionen und den Anstieg des Behinderungsgrades bei MS-Patienten zu quantifizieren. Niedrige Werte entsprechen dabei einem geringen Behinderungsgrad. Ab einem EDSS-Wert von 4 ist beispielsweise die Gehfähigkeit eingeschränkt, ab einem Wert von 7 sind die Patienten auf den Rollstuhl angewiesen.

Die empfohlene Dosierung zur Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose mit Glatirameracetat sind 20 mg, die einmal täglich subkutan injiziert werden. Der Patient muss dazu den als Pulver vorliegenden Wirkstoff unmittelbar vor Gebrauch mit dem Lösungsmittel aufbereiten. Eine Langzeitbehandlung wird empfohlen. Die Wirksamkeit von Glatirameracetat bei chronisch progredienter Multipler Sklerose wurde bisher nicht untersucht.

Wenig Nebenwirkungen

Glatirameracetat ist gut verträglich. Die häufigsten beobachteten Nebenwirkungen waren lokale Hautreaktionen an der Einstichstelle mit Rötung, Entzündung, Papeln und Juckreiz. Im Gegensatz zu Interferon beta-1b kam es jedoch nicht zu Hautnekrosen. Bei einigen Patienten trat ein- oder mehrmals eine so genannte "sofortige Postinjektionsreaktion" auf, die an eine Hyperventilation erinnert. Der Patient klagt unmittelbar nach der Injektion über Atemnot, Angst, Herzjagen, Engegefühl im Brustraum und Gesichtsrötung. Nach spätestens 20 bis 30 Minuten klingen diese Reaktionen folgenlos ab. Bei einigen wenigen Patienten kam es zu Lymphknotenschwellungen.

Bislang wurden 30 Frauen unter einer Therapie mit Glatirameracetat schwanger. Eine teratogene oder abortive Wirkung der Substanz wurde dabei nicht beobachtet. Dennoch wird vor dem Beginn der Therapie eine Kontrazeption empfohlen und falls trotzdem eine Schwangerschaft eintritt, sollte die Behandlung vorsichtshalber abgebrochen werden.

Langzeitstudie über 6 Jahre

Mittlerweile stehen Langzeitdaten zur Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Glatirameracetat bei Patienten mit schubförmiger Multipler Sklerose über einen Zeitraum von sechs Jahren zur Verfügung. Diese offene Langzeitstudie ist eine Fortführung der randomisierten, plazebokontrollierten Doppelblindstudie, in der 251 Patienten bis zu 35 Monate täglich entweder 20 mg Glatirameracetat als subkutane Injektion (n=125) oder Plazebo (n=126) erhalten hatten. Aufnahmekriterien für die Doppelblindstudie waren mindestens zwei Schübe in den zwei Jahren vor Studienbeginn und eine EDSS von 0 bis 5 Punkten.

208 der ursprünglich 251 Patienten nahmen an der Verlängerung der Studie bis zu weiteren 36Monaten teil. Während dieser Zeit erhielten alle Patienten eine subkutane Injektion von 20 mg Glatirameracetat pro Tag. 101 davon hatten zuvor schon Glatirameracetat erhalten (Gruppe A), 107 stammten aus der Plazebogruppe (Gruppe B). Alle sechs Monate und bei akutem Schubverdacht wurden bei den Teilnehmern neurologische Untersuchungen - einschließlich Ermittlung der EDSS - durchgeführt und die Verträglichkeit und Sicherheit erfasst. Die Patienten wurden beobachtet in Hinsicht auf die Zahl ihrer Schübe und der Progression ihrer Behinderung nach EDSS.

Schubfrequenz wurde gesenkt

Nach sechs Jahren kontinuierlicher Behandlung mit Glatirameracetat (Gruppe A) zeigten die meisten Patienten eine niedrige Schubrate und positive Auswirkungen auf die Progression der Behinderung. So reduzierte sich die jährliche Schubrate in Gruppe A von 1,49 vor Beginn der Studie auf 0,42 während der gesamten sechs Jahre. Dies bedeutet, dass die mittlere Schubrate um 72% gesenkt werden konnte. 75 der 101 Patienten in Gruppe A hatten während des gesamten Studienzeitraums von sechs Jahren nur drei oder weniger Schübe, 26 waren sogar schubfrei.

Behinderung blieb bei 70% stabil

In Hinblick auf die Behinderung zeigten 69% der Patienten aus Gruppe A keine Zunahme auf der EDSS um mehr als einen Punkt. Bei den meisten der 26 schubfreien Patienten in Gruppe A war der Zustand stabil. Nur drei dieser Patienten erfuhren eine Zunahme der Behinderung um mehr als eine EDSS-Stufe. Von den 75 Patienten in Gruppe A, die im Verlauf der sechs Jahre Schübe durchmachten, war der Zustand bei 47 Patienten ebenfalls stabil. Insgesamt wurde die tägliche subkutane Injektion von 20 mg Glatirameracetat gut vertragen. Die häufigsten Nebenwirkungen waren lokale Reaktionen an der Einstichstelle.

Die positiven Effekte von Glatirameracetat wurden umso deutlicher, je geringer die Behinderung zu Beginn der Therapie war und je länger die Therapie andauerte. Die Patienten der Plazebogruppe (Gruppe B), die erst zwei Jahre später mit Glatirameracetat begonnen hatten als die Verumgruppe (Gruppe A), konnten diesen Rückstand nicht mehr aufholen. Eine Fortsetzung der Studie über einen Zeitraum von zehn Jahren ist geplant. Zusätzlich befindet sich Glatirameracetat in einer Studie zur Wirksamkeit einer oralen Applikationsform und zum Einsatz bei chronisch progredient verlaufender Multiplen Sklerose.

Kastentext: Zusammenfassung der 6-Jahres-Daten zu Glatirameracetat

  • Der Behandlungseffekt nahm über 6 Jahre kontinuierlich zu.
  • Die Schubrate reduzierte sich von 1 Schub pro Jahr auf 1 Schub pro 4 Jahre. 25% der behandelten Patienten waren über 6 Jahre schubfrei. Bei 70% der Behandelten nahm die Behinderung nicht zu.
  • Die positiven Behandlungseffekte wurden umso deutlicher, je länger mit Glatirameracetat behandelt wurde.
  • Die Langzeitbehandlung wurde gut vertragen.

Quelle: Prim. Dr. Ulf Baumhackl, St.Pölten/Österreich, Prof. Dr. med. Judith Haas, Berlin: Fachpressegespräch "Copaxone", veranstaltet von der Firma Aventis Pharma, Bad Soden, und TEVA Pharma GmbH, Kirchzarten, am 1. Dezember 2000 in Berlin

Glatirameracetat, ein Immunmodulator, kann bei schubförmig verlaufender Multipler Sklerose die Schubrate verringern und die Progression der Erkrankung verlangsamen. Wie die nun vorliegenden Daten einer 6-Jahres-Studie zeigen, sind diese Effekte umso deutlicher, je früher mit der Therapie begonnen wird und je geringer der Behinderungsgrad bei Beginn ist. Etwa Mitte nächsten Jahres soll Glatirameracetat (Copaxone) nun auch in Deutschland zur Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose zugelassen werden. In den USA ist Glatirameracetat seit 1996 auf dem Markt. 

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