Berichte

Neurotrophine – eine potenziell neue Arzneistoffklasse

Auf einer Veranstaltung der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, Untergruppe Südwürttemberg-Hohenzollern, am 18. Januar 2000 in der Universität Tübingen hielt Prof. Dr. Uwe Otten vom Physiologischen Institut der Universität Basel einen Vortrag mit dem Thema "Interaktionen zwischen Zytokinen und Neurotrophinen Ų Bedeutung für Überleben, Differenzierung und Degeneration."

Der erste so genannte Nervenwachstumsfaktor NGF (Nerve Growth Factor) wurde vor gut 20 Jahren entdeckt. Inzwischen wurde eine ganze Reihe weiterer Faktoren gefunden, die heute in der Familie der Neurotrophine zusammengefasst werden. Vorwiegend in Säugetieren kommen außer NGF der Brain Derived Neurotrophic Factor (BDNF) und das Neurotrophin-3 (NT-3) vor, in Fröschen und Schlangen dominiert NT-4/5, und in verschiedenen Fischarten kommen NT-6 und NT-7 vor.

Hinsichtlich ihrer Aminosäurenzusammensetzung zeigen sie eine hohe Homologie. Neurotrophine sind im peripheren und zentralen Nervensystem an einer Reihe der unterschiedlichsten physiologischen und pathophysiologischen Vorgänge beteiligt, z. B. bei der Erhaltung, Differenzierung oder Degeneration von Nervenzellen sowie als Neurotransmitter. Darüber hinaus beeinflussen sie auch andere Zellarten in der unterschiedlichsten Art und Weise.

Biosynthese

Die Neurotrophine werden als Prohormone synthetisiert und gespeichert. Sie werden aber keineswegs nur in den Zellen des Nervensystems synthetisiert. In Entzündungsmodellen zeigte sich, dass sie auch von hämatopoetischen Zellen gebildet werden können. So synthetisieren aktivierte T- und BLymphozyten sowie Makrophagen, zumindest in vitro, BDNF.

Freisetzung

Neurotrophine können ihre Wirkungen sowohl nach extra- wie auch nach intrazellulärer Freisetzung entfalten. Als retrograder tropher Messenger wird das Neurotrophin von der Zielzelle sezerniert und steigert nach Induktion der Synthese spezifischer Transkriptionsfaktoren die Überlebensfunktion der Nervenzelle. Als anterograder tropher Messenger stabilisiert das Neurotrophin die betroffene Nervenzelle gegen Schädigungen der unterschiedlichsten Art. Des Weiteren bestehen nach Sekretion des Neurotrophins noch die Möglichkeiten para-, auto- und endokriner Wirkungen. Dabei scheint die parakrine Stimulation der präsynaptischen Membran bei der Entwicklung des Langzeitgedächtnisses eine wichtige Rolle zu spielen.

Rezeptoren

Die Neurotrophine interagieren mit unterschiedlicher Affinität mit zwei verschiedenen Rezeptortypen: den Rezeptoren der Tyrosinkinase- Familie (TrkA, TrkB und TrkC) und dem p75-Rezeptor. Dabei besitzt NGF eine hohe Affinität für die TrkA. BDNF und NT-4/5 zeigen eine hohe Affinität für die TrkB, und NT-3 ist hochaffin für die TrkC. Dagegen binden alle Neurotophine mit gleich niedriger Affinität an den p-75-Rezeptor. Bei Aktivierung der Tyrosinkinasen werden trophische und stimulierende Effekte ausgelöst. Bei Aktivierung des p75-Rezeptors wird die Apoptose und damit der Tod der Nervenzelle eingeleitet.

Interaktion mit Immunzellen

Es gibt zahlreiche Hinweise aus In-vivo- und In-vitro-Untersuchungen für Interaktionen von Neurotrophinen mit den Zellen des Immunsystems: Bei Allergikern und Asthmapatienten wurden erhöhte NGF-Spiegel gefunden. Neurotrophine hemmen die Expression des Hauptkompatibilitätskomplexes MHC-II auf Mikrogliazellen (immunsuppressive Wirkung). Aktivierte T- und B-Lymphozyten und Monozyten synthetisieren BDNF. Neurotrophine sind weiterhin bei folgenden immunologisch wichtigen Vorgängen beteiligt: Regulation der Gefäßwandpermeabilität, Chemotaxis bei Makrophagen, Mastzelldegranulation, T-Zellabhängige Antikörpersynthese, Oxidative Burst, Leukotrien-CSynthese in basophilen Granulozyten.

Interaktion mit Zytokinen

Die Neurotrophine interagieren mit den Zytokinen auf die unterschiedlichste Weise. So induziert das Komplementsystem C3a die Bildung von NGF-mRNA. Umgekehrt sind aber auch Nervenzellen selbst in der Lage, Komplementfaktoren zu synthetisieren. Ebenso stimulieren die Entzündungsmediatoren IL-1β und TNF-α in Mikrogliazellen die Synthese von NGF-mRNA. Neben der Synthese der Neurotrophine NGF, BDNF, NT-3, NT-4 sind Mikrogliazellen aber auch fähig, das multifunktionelle Interleukin 6 (IL-6) zu bilden. IL-6 ist u. a. beteiligt an folgenden Vorgängen: Zelldifferenzierung, Neuroprotektion, anti- oder proinflammatorische Wirkungen, Induktion von Fieber, Modulation von Schmerz, Neurodegeneration, tumoröse und inflammatorische Prozesse im ZNS. Im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses steht derzeit der lösliche Interleukin-6-Rezeptor (sIL-6RZ). Dieser kann zusammen mit dem Liganden IL-6 in anderen Zellen, die selbst keinen IL-Rezeptor besitzen, Effekte auslösen. Der Vorgang wird Transsignaling genannt.

Beteiligung bei neurodegenerativen Erkrankungen

Bei Alzheimer-Patienten wurden in der Cerebrospinalflüssigkeit erhöhte Konzentrationen von NGF gefunden. In neueren Untersuchungen, die 2 bis 3 Stunden post mortem durchgeführt wurden, konnten in bestimmten Hirnregionen (Hippocampus, Frontalcortex) signifikant erhöhte Level von NGF und gleichzeitig erniedrigte Spiegel von BDNF nachgewiesen werden. Auffälligkeiten zeigten sich dabei auch bei der Rezeptorausstattung, denn mit fortschreitender Demenz werden offensichtlich die TrkA-Rezeptoren herunterreguliert. Infolge des gestörten TrkA-Signaling überwiegt dann das apoptotische p75-System. Ferner wurde in den und in der Umgebung der beta-Amyloid-Ablagerungen vermehrt der Entzündungsmarker IL-6 gefunden. Insgesamt betrachtet spricht viel für eine Beteiligung der Neurotrophine an der Alzheimer-Krankheit. Dennoch muss hier noch erhebliche Forschungsarbeit geleistet werden.

Therapeutischer Einsatz

Aufgrund der ausgeprägten Multifunktionalität der Neurotrophine sind sowohl die erwünschten Wirkungen als auch die kurz- und langfristigen Nebenwirkungen eines therapeutischen Einsatzes nicht vorhersehbar. Erste experimentelle Therapieversuche mit i.v. appliziertem NGF bei fortgeschrittener diabetischer Neuropathie riefen bei den behandelten Patienten unerträgliche Muskelschmerzen hervor, sodass die Studie abgebrochen wurde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint daher ein zukünftiger therapeutischer Einsatz von Neurotrophinen als wenig wahrscheinlich. Die Bemühungen in der Forschung zielen daher verstärkt darauf ab, die Signaltransduktion in den Zielzellen selektiv zu beeinflussen.

Fazit

Neurotrophine scheinen aufgrund ihrer Multifunktionalität wahre Tausendsassas zu sein. Wie bei vielen anderen multifunktionellen Substanzen auch, scheint die Zielzelle selbst zu bestimmen, was mit dem Neurotrophinsignal passiert. Dabei spielt sicher noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren und Bedingungen eine wichtige Rolle. Es gibt also noch viel zu erforschen.

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