Arzneimittel und Therapie

Insulin: Weg von der Spritze – hin zum Inhalator

Inhalatives Insulin wird derzeit in Phase-III-Studien eingesetzt, um seine Verträglichkeit und Effektivität zu evaluieren. Möglicherweise ist inhalierbares Insulin vor allem für Typ-2-Diabetiker ein Therapiefortschritt, der zum einen den Einstieg in eine Insulintherapie erleichtert sowie psychologische und soziale Barrieren abbaut.

Die Herstellung eines therapeutisch einsetzbaren Insulinpräparates im Jahr 1921 gehört zu den wichtigsten Erfolgen der Medizin. In der nunmehr knapp achtzigjährigen Geschichte des Insulins wurde immer wieder versucht, das Pankreashormon nicht-invasiv zu verabreichen, und es gab Bemühungen, eine orale, nasale, rektale, vaginale oder inhalative Applikationsform zu finden. Mit der momentanen Entwicklung eines inhalierbaren Insulins (in Zusammenarbeit zwischen Aventis und Pfizer) scheint das Ziel einer nicht-invasiven Anwendung in greifbare Nähe zu rücken.

Applikation über die Luftwege

Die Lunge besitzt eine enorm große Resorptionsoberfläche von ca. 75 m2, die es erlaubt, mit Hilfe geeigneter Applikationssysteme, Arzneistoffe in den Systemkreislauf zu bringen. Diese Tatsache macht man sich bei der Entwicklung eines inhalierbaren Insulins zu Nutze. Um auf inhalativem Weg einen ausreichend hohen Insulinspiegel zu erzielen, sind allerdings relativ hohe Insulinmengen erforderlich, da nur rund 10% des inhalativ verabreichten Insulins in den systemischen Kreislauf gelangen. Langzeittoxizitätsstudien im Tierversuch und in zweijährigen klinischen Versuchen gaben aber keinen Hinweis auf morphologische oder funktionelle Veränderungen des Lungengewebes aufgrund der Inhalation relativ hoher Insulinmengen.

Höhere Dosis erforderlich

In dem in Zusammenarbeit mit Inhale Therapeutic Systems, CA, entwickelten Inhalationsgerät wird Insulin in Blistern als Pulver vernebelt. Nach der Vernebelung befindet sich Insulin im Inhalator als stehende Wolke, und der Patient hat 20 Sekunden Zeit, um diese einzuatmen, wobei das Gerät dem Patienten automatisch das richtige Atemmuster abverlangt. Die Wirkung setzt schneller ein als bei subkutan gespritztem Normalinsulin; das Wirkprofil von inhaliertem Insulin gleicht dem von Insulin lispro. Das heißt, inhalierbares Insulin kann innerhalb von 10 Minuten vor einer Mahlzeit gegeben werden. Allerdings sind aufgrund der geringen Bioverfügbarkeit hohe Insulinmengen erforderlich, und 1 mg inhaliertes Insulin entspricht 3 Einheiten s.c. appliziertem Insulin.

Klinische Studien mit inhalativem Insulin

In mehreren Phase-III-Studien wurde die Wirkung von inhalativem Insulin untersucht. In einer dreimonatigen Studie mit 70 Typ-I-Diabetikern zeigte inhaliertes Insulin eine gleich gute Effektivität wie s.c. appliziertes Humaninsulin. Dabei hatten die Patienten ein basales Insulin mit der Spritze einmal am Tag injiziert, das Mahlzeiten bezogene Insulin wurde inhaliert. Dadurch konnten mehrere Injektionen pro Tag vermieden werden. Nach Verlängerung dieser Studie auf einen Zeitraum von einem Jahr waren die Studienteilnehmer mit der inhalativen Insulintherapie deutlich zufriedener als mit der herkömmlichen Therapie, die ein mehrfaches Spritzen am Tag erforderte. Weitere klinische Studien bei Typ-II-Diabetikern über drei Monate hinweg zeigten ähnlich gute Ergebnisse: Eingeschlossen waren 56 Patienten, die bereits Insulin injizierten und 69 Patienten, die trotz oraler Antidiabetika schlecht eingestellt waren. Wie bei den Typ-1-Diabetikern hatte auch bei den Typ-2-Diabetikern, die bereits Insulin spritzten, inhalatives Insulin die gleiche Effektivität wie die Insulintherapie mit mehrfachen subkutanen Injektionen. Die Patienten, die Insulin inhalierten, waren nach drei Monaten mit ihrer Therapie wesentlich zufriedener als die Vergleichsgruppe mit den häufigen Injektionen.

Verbesserung des HbA1c-Wertes

Bei den mit oralen Antidiabetika schlecht eingestellten Typ-2-Diabetikern konnte durch die Inhalation von Insulin vor den Mahlzeiten eine wesentlich bessere Blutzuckereinstellung (HbA1c Verbesserung von 2,3%) erreicht werden. Daten aus Verlängerungsstudien über zwei Jahre mit Typ-1- und Typ-2-Diabetikern zeigen, dass inhalatives Insulin über diesen gesamten Zeitraum effektiv war. Eine regelmäßig durchgeführte Überprüfung der Lungenfunktionsparameter zeigte keinen Einfluss der Pulverinhalation auf das Lungengewebe.

Weniger Barrieren mit inhalativem Insulin?

Diabetiker vom Typ 1 und Typ 2 haben häufig eine unterschiedliche Einstellung zu ihrer Krankheit und der damit verbundenen Therapie mit Insulin. Diabetiker vom Typ 1 weisen gegenüber dem Pankreashormon eine positive Einstellung auf, da sie Insulin als lebensnotwendigen Stoff betrachten. Dagegen stehen Diabetiker vom Typ 2 einer Insulintherapie oftmals ablehnend gegenüber. Die Gründe hierfür sind vielschichtig; entgegen einer landläufigen Meinung spielt die Angst vor der Spritze wohl nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist für viele Diabetiker Insulin ein Symbol dafür, dass ein "milder Alterszucker" nun zu einem schwerwiegenden Diabetes geworden ist, und die nunmehr notwendige Insulinapplikation markiert einen Übergang von einer "leichten" zu einer "schweren" Erkrankung; ein Zustand wird zu einer Erkrankung. Insulin erhält somit einen Bestrafungscharakter und wird als ultima ratio angesehen. Desweiteren befürchten viele Typ-2-Diabetiker eine Einschränkung im Alltag, haben eine soziale Barriere, sich in der Öffentlichkeit zu spritzen oder fühlen sich überfordert.

Pro und contra aus psychologischer Sicht

Aus der Sicht des Psychologen könnte inhalatives Insulin vor allem für Typ-2-Diabetiker einige Vorteile aufweisen:

  • die Insulintherapie verliert ihr Bedrohungspotenzial
  • Insulin hat keinen Bestrafungscharakter mehr
  • Insulin verliert die aversive Konnektion
  • Erleichterung für ängstliche Patienten
  • Schmerzfreiheit bei der Applikation
  • sozial akzeptierte Therapiemaßnahme
  • geringe Stigmatiserung
  • ev. einfacheres Handling für motorisch eingeschränkte Patienten.

Demgegenüber muss allerdings bedacht werden, dass eine einfache Handhabung zu einer unreflektierten Insulinapplikation führen kann und die Einfachheit der Therapie auch eine Barriere für ein aktives Krankheitsverhalten sein kann.

Kastentext: Inhalierbares Insulin - offene Fragen

  • Wirkung und Steuerung bei Rauchern
  • Wirkung und Steuerung bei bronchitiskranken Diabetikern
  • Chronische Effekte auf die Lunge
  • Chronische Effekte auf das Herz
  • Hypoglykämie - Wahrnehmung und Recovery
  • Effekte bei Gestationsdiabetes bzw. Schwangerschaft

Kastentext: Inhalatives Insulin

  • Entwickelt von Aventis und Pfizer, derzeit in Phase-III-Studien
  • Entspricht in seiner Aminosäuresequenz dem Normalinsulin
  • 1 mg entspricht ca. 3 I.E.
  • Geringe Bioverfügbarkeit (nur 10% von s.c. appliziertem Insulin)
  • Inhalation als Pulver mittels eines speziellen Inhalationsgerätes
  • Rascher Wirkungseintritt, vergleichbar mit Insulin lispro
  • Bislang kein Hinweis auf häufigere Hypoglykämien
  • Langzeitbeobachtungen geben bislang keine Hinweise auf veränderte Lungenfunktionsparameter
  • Gute Akzeptanz

Die Lunge besitzt eine enorm große Resorptionsoberfläche. Diese Tatsache macht man sich bei der Entwicklung eines inhalierbaren Insulins zu Nutze. Um auf inhalativem Weg einen ausreichend hohen Insulinspiegel zu erzielen, sind allerdings relativ hohe Insulinmengen erforderlich. Inhalatives Insulin wird derzeit in Phase-III-Studien eingesetzt, um seine Verträglichkeit und Effektivität zu evaluieren. 

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