Arzneimittel und Therapie

Arzneimittel in der Stillzeit: Gefahr für das Kind?

Die meisten Arzneimittel, die von stillenden Müttern eingenommen werden, gehen auch in die Muttermilch über. Dennoch ist das Risiko für die Kinder im Allgemeinen gering. Ausnahmen sind Arzneistoffe, die hoch konzentriert mit der Muttermilch aufgenommen werden, sowie solche mit bekannten Nebenwirkungen auf das Kind.

Stillen ist die beste Ernährung für Säuglinge. Amerikanischen Empfehlungen zufolge sollte das ganze erste Lebensjahr lang gestillt werden, falls keine Kontraindikationen vorliegen. Viele Mütter müssen irgendwann in diesem Zeitraum Medikamente einnehmen. Die Entscheidung zum Abstillen sollte nur getroffen werden, wenn für das Kind das Risiko der Arzneistoff-Exposition gegenüber den zahlreichen Vorteilen des Stillens überwiegt.

Um das Risiko einzuschätzen, muss man zwei Fragen beantworten:

  • Wie viel Arzneistoff gelangt in die Muttermilch?
  • Wie hoch ist bei der aufgenommenen Arzneistoffmenge das Nebenwirkungsrisiko?

Arzneistoff-Ausscheidung in der Muttermilch

Die Arzneistoffmenge, die in die Muttermilch gelangt, hängt von verschiedenen Eigenschaften des Arzneistoffs ab: zum Beispiel der Plasmaproteinbindung, der Ionisierung, der Lipophilie, der relativen Molekülmasse und der Pharmakokinetik im Organismus der Mutter. Arzneistoffe können sowohl durch passive Diffusion als auch durch Carrier-vermittelten Transport in die Muttermilch übergehen.

Ein wichtiger Parameter ist das über die Zeit gemittelte Milch-Plasma-Arzneistoffkonzentrationsverhältnis, also das Verhältnis aus den Konzentrationen eines Arzneistoffs in der Muttermilch und im mütterlichen Plasma. Dieses Verhältnis kann anhand der physikalischen und chemischen Eigenschaften des Arzneistoffs geschätzt werden. Die meisten Arzneistoffe haben ein Milch-Plasma-Verhältnis von maximal 1.

Etwa 25% haben ein Milch-Plasma-Verhältnis über 1 und etwa 15% über 2. Ein Milch-Plasma-Verhältnis über 1 heißt, dass der Arzneistoff in der Muttermilch konzentrierter vorliegt als im mütterlichen Plasma. Dies allein muss jedoch noch keine Gefahr für das Kind bedeuten.

Arzneistoff-Exposition

Erst der Expositions-Index weist auf eine mögliche Gefährdung des gestillten Kindes hin. Der Expositions-Index wird berechnet als die vom Kind aufgenommene Tagesdosis des Arzneistoffs (Produkt aus der zeitgemittelten Arzneistoffkonzentration in der Muttermilch und der getrunkenen Muttermilchmenge pro Tag - etwa 150 ml/kg Körpergewicht) im Verhältnis zur therapeutischen Dosis. Er wird angegeben als Prozentsatz der therapeutischen Dosis für das Kind (bzw. eines gewichtskorrigierten Äquivalents der Erwachsenendosis).

Der Expositions-Index ist direkt proportional zum Milch-Plasma-Verhältnis und umgekehrt proportional zur Arzneistoff-Clearance des Kindes. Während Arzneistoffe mit hoher Clearance selbst bei großem Milch-Plasma-Verhältnis kaum zu einer bedeutsamen Exposition des Kindes führen, sind Arzneistoffe mit niedriger Clearance problematisch. Bei ihnen beobachtet man hohe, aber abhängig vom Milch-Plasma-Verhältnis auch stark schwankende Expositionsgrade.

Für die meisten Arzneistoffe kennt man die Dosis nicht, unter der keine klinische Wirkung für das gestillte Kind zu erwarten ist. Als Obergrenze für eine niedrige und damit klinisch unbedeutsame Exposition wurden willkürlich 10% der therapeutischen Dosis gewählt. Allerdings gibt es auch Ausnahmen, beispielsweise Arzneistoffe, die bereits in sehr niedriger Konzentration bei Kindern mit Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel eine Hämolyse auslösen können.

Gefahr von Nebenwirkungen beim Kind

Es gibt nur wenige epidemiologische Daten zu Nebenwirkungen von Arzneimitteln, die in der Stillzeit angewendet werden, auf die Kinder. Eine Untersuchung an 838 gestillten Kindern, deren Mütter Arzneimittel eingenommen hatten, zeigte, dass klinisch bedeutsame Nebenwirkungen selten sind. Jedoch bemerkte immerhin eine von zehn Müttern leichtere, nicht behandlungsbedürftige Nebenwirkungen beim Kind. In den meisten Fällen lassen sich Nutzen und Risiko des fortgesetzten Stillens unter Arzneimitteleinnahme daher nur schwer abwägen. Für viele Arzneistoffe gibt es jedoch Empfehlungen (z. B. Richtlinien des Arzneimittel-Komitees der American Academy of Pediatrics).

Antidepressiva

Die meisten Antidepressiva bleiben unter einem Expositions-Index von 10%. Nur Fluoxetin, Doxepin und Sertralin sowie Lithium können in der Milch akkumulieren. Bei einem Kind kam es im Zusammenhang mit Fluoxetin zu Koliken, bei einem anderen im Zusammenhang mit Doxepin zur Sedierung. Bei einem Kind, das bereits in der Schwangerschaft Lithium ausgesetzt war, entwickelten sich nach der Geburt Hypothermie, Hypotonie und Zyanose. Die American Academy of Pediatrics beurteilt Lithium als kontraindiziert in der Stillzeit.

Antiepileptika

Carbamezepin, Phenytoin und Valproinsäure gelten als akzeptabel für stillende Mütter, weil die Kinder nur 3 bis 5% der anhand der Erwachsenendosis errechneten therapeutischen Dosis aufnehmen. Als Nebenwirkungen können Leberfunktionsstörungen (Carbamazepin), Methämoglobinämie (Phenytoin) oder Thrombopenie/Anämie (Valproinsäure) auftreten. Phenobarbital, Ethosuximid und Primidon haben einen Expositions-Index über 10% und sollten daher nur unter Kontrolle der kindlichen Plasmaspiegel gegeben werden.

Herz-Kreislauf-Mittel

Die meisten Blutdruck- und Herzmedikamente, darunter auch Calciumantagonisten, Diuretika und ACE-Hemmer, sind in der Stillzeit unproblematisch. Beachtliche Expositionsgrade bei Neugeborenen erreichen dagegen Amiodaron und die Betablocker Acebutolol, Atenolol, Nadolol und Sotalol. Atenolol, Nadolol und Sotalol werden überwiegend über die Nieren, Acebutolol auch über die Leber ausgeschieden.

Wegen der unreifen Nieren akkumulieren diese Betablocker im Neugeborenen. In einigen Fällen kam es bei Neugeborenen, die über die Muttermilch Atenolol oder Acebutolol ausgesetzt waren, zu Bradykardie und Hypotonie. Daher sollte man insbesondere neugeborene Stillkinder, deren Mütter diese Betablocker einnehmen, engmaschig überwachen. Propranolol und Labetalol gelten als sicher.

Amiodaron zeigt stark schwankende Expositionsgrade. Da in Einzelfällen ein Expositions-Index von 20 bis 30% möglich ist, wird von manchen Experten unter Amiodaron Abstillen gefordert. Falls weiter gestillt wird, müssen zumindest die Amiodaron-Plasmakonzentration und die Schilddrüsenfunktion regelmäßig überprüft werden (Gefahr der Schilddrüsenunterfunktion).

Immunsuppressiva

Aus Angst vor immunsuppressiven Wirkungen beim Kind wurde lange vom Stillen unter Ciclosporin-Gabe abgeraten. Jedoch erreicht der Expositionsgrad auch bei hohen Ciclosporin-Gaben kaum 10%. Zumindest sollte bei fortgesetztem Stillen der Plasmaspiegel des Kindes überwacht werden.

Drogen

Jeder Drogenmissbrauch verbietet eigentlich das Stillen. Das gestillte Kind einer Mutter, die Cocain schnupfte, fiel durch Reizbarkeit, Erbrechen und Durchfälle auf. Von Marihuana ist bekannt, dass es die motorische Entwicklung des Kleinkindes verzögern kann. Die Ersatzdroge Methadon ist in einer Tagesdosis bis 20 mg in der Stillzeit unproblematisch. Höhere Tagesdosen (bis zu 80 mg) sollten nur unter Kontrolle des kindlichen Plasmaspiegels gegeben werden. Buprenorphin scheint in der Stillzeit noch sicherer zu sein als Methadon.

Genussmittel

Mäßiger Coffein-Konsum in der Stillzeit scheint unproblematisch zu sein. Ein starker Coffein-Konsum der stillenden Mutter kann jedoch zu Reizbarkeit beim Kind führen. Alkohol kann die neurologische Entwicklung des Kindes beeinträchtigen. Im ersten Lebensjahr beträgt die Aktivität der Alkohol-Dehydrogenase in der Leber weniger als die Hälfte von der eines Erwachsenen. In der Stillzeit sollten Frauen nicht regelmäßig Alkohol trinken. Da ein alkoholisches Getränk etwa zwei Stunden benötigt, um aus dem Körper des Erwachsenen ausgeschieden zu werden, sollten Stillende nie mehr als einen Drink zwischen zwei Stillsitzungen konsumieren.

Obwohl nur wenig Nicotin in die Milch übergeht, verbietet sich für stillende Mütter das Rauchen aus mehreren Gründen:

  • Berichte über toxische Wirkungen des Nicotins bei Stillkindern
  • Verringertes Milchvolumen im Zusammenhang mit Rauchen
  • Gefahren des Passivrauchens, wie erhöhtes Risiko für Bronchialasthma und plötzlichen Kindstod

Iod-haltige Kontrastmittel und Antiseptika

Röntgen-Kontrastmittel scheinen nur zu einem sehr geringen Prozentsatz in die Muttermilch überzugehen. Hinweise auf toxische oder allergische Reaktionen bei gestillten Kindern gibt es nicht. Dagegen droht bei Anwendung von Iod-haltigen Antiseptika, wie topischem Povidon-Iod (Polyvinylpyrrolidon-Iod), eine Schilddrüsenunterfunktion beim Kind, weil aus dem Komplex in großem Umfang Iod freigesetzt werden kann. Iod-haltige Antiseptika sollten daher in der Stillzeit nicht angewendet werden.

Arzneimittel der Wahl

Als unproblematisch in der Stillzeit gelten Arzneistoffe mit niedrigem Expositions-Index und fehlenden kurzfristigen Nebenwirkungen auf das gestillte Kind. Über die Langzeitwirkungen auf das Kind ist noch wenig bekannt.

Quelle: Ito, S.: Drug-therapy for breast-feeding women. N. Engl. J. Med. 343, 118-126 (2000).

Die meisten Arzneimittel, die von stillenden Müttern eingenommen werden, gehen auch in die Muttermilch über. Dennoch ist das Risiko für die Kinder im Allgemeinen gering. Ausnahmen sind Arzneistoffe, die hoch konzentriert mit der Muttermilch aufgenommen werden, sowie solche mit bekannten Nebenwirkungen auf das Kind. 

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