Arzneimittel und Therapie

Opioid-Analgetika: Studienergebnisse widerlegen Morphin-Mythos

In den letzten Jahren hat sich zwar schon einiges in puncto Schmerztherapie getan: So ist beispielsweise in Deutschland der Morphinverbrauch von 1984 bis 1996 um fast 900% gestiegen. Die Menge der insgesamt verordneten Opioide reicht allerdings noch längst nicht aus, um alle Patienten mit starken Tumorschmerzen oder nicht-tumorbedingten, chronischen Schmerzen angemessen behandeln zu können.

Viele Patienten dürften daher auch heute noch unnötig unter Schmerzen leiden, weil ihnen eine effektive Therapie mit starken wirksamen Opioid-Analgetika vorenthalten wird. Begründet wird dies meist mit dem Abhängigkeitspotenzial dieser Analgetika und der Sorge vor unkontrollierter Anwendung bzw. Missbrauch.

Studie zur missbräuchlichen Anwendung von Opioid-Analgetika

In den Vereinigten Staaten wurde daher jetzt in einer großen retrospektiven Analyse untersucht, ob durch den zunehmenden medizinischen Einsatz von starken Opioidanalgetika das Missbrauchsrisiko steigt.

Die Angaben zum medizinischen Einsatz der Opioid-Analgetika wurden dem ARCOS-System (Automation of Reports and Consolidated Orders System) entnommen. Für die Beurteilung der missbräuchlichen Verwendung wurde die DAWN-Datenbank (Drug Abuse Warning Network) ausgewertet. In diesem System werden seit 1990 fortlaufend die Angaben von etwa 500 Krankenhäusern erfasst, die für die demographische Situation in den gesamten USA repräsentativ sind. Routinemäßig werden hier nach einem standardisierten Protokoll alle Fälle von Drogen- bzw. Arzneimittelmissbrauch beschrieben, die eine notfallmäßige Behandlung erforderlich machten. Das DAWN gibt somit einen guten Überblick über die aktuellen Trends beim Drogen- und Arzneimittelmissbrauch, erlaubt aber auch Rückschlüsse auf langfristige Entwicklungen in der missbräuchlichen Verwendung von bestimmten Wirkstoffklassen und Einzelsubstanzen.

Von 1990 bis 1996 nahm die Zahl der im DAWN-System insgesamt erfassten Fälle von Drogen- bzw. Arzneimittelmissbrauch von 635460 auf 907561 zu. Dies entspricht einem Anstieg um 42,8%. In sämtlichen Studienjahren standen Komplikationen mit Amphetaminen, Antidepressiva, Antipsychotika sowie Hypnotika/Sedativa an erster Stelle der Meldungen. 1996 gingen zu dieser Kategorie insgesamt 327722 Mitteilungen (36,1% aller Meldungen) ein. Illegale Drogen waren in 33,2% der Fälle Anlass für eine notfallmäßige Behandlung.

Nur selten Komplikationen durch Opioid-Analgetika

Mit einer Inzidenz von insgesamt nur 3,8% standen Zwischenfälle mit Opioid-Analgetika 1996 an letzter Stelle der gemeldeten Missbrauchsfälle. Obwohl auch in dieser Substanzklasse die missbräuchliche Verwendung im 7-Jahres-Verlauf absolut gesehen zunahm (+ 6,6%), ging ihr Anteil am insgesamt gemeldeten Drogen- bzw. Arzneimittelmissbrauch deutlich um ca. 25% zurück (von 5,1% im Jahr 1990 auf 3,8% 1996). Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass in der Kategorie "Opioid-Analgetika" nicht nur stark wirksame Analgetika, sondern beispielsweise auch codeinhaltige Kombinationen und Methadon erfasst wurden, die erfahrungsgemäß bei einem Kollektiv mit einem höheren Abhängigkeitsrisiko verordnet werden.

Missbrauch von stark wirksamen Opioid-Analgetika ging zurück

Die Auswertung der ausschließlich als Analgetika verordneten stark wirksamen Opioide Fentanyl, Morphin, Hydromorphon, Oxycodon und Pethidin zeigte, dass der Missbrauch mit diesen Substanzen auch absolut gesehen deutlich abnahm: Während 1990 noch insgesamt 7476 Missbrauchsfälle im DAWN erfasst wurden, fanden sich für 1996 nur 5494 Meldungen. Das bedeutet einen Rückgang von ca. 25,5%.

Besonders deutlich war der Rückgang bei Fentanyl: Hier nahm die Zahl der gemeldeten Missbrauchsfälle von 59 (1990) auf 24 (1996) und damit um fast 60% ab. Das stark wirksame Opioid-Analgetikum war damit 1996 für nur 0,003% aller gemeldeten Missbrauchsfälle verantwortlich.

Stark wirksame Opioid-Analgetika werden häufiger verordnet

Der Rückgang der missbräuchlichen Verwendung ist umso bemerkenswerter, als sich im Untersuchungszeitraum die Versorgung der Patienten mit starken chronischen Schmerzen bereits verbessert hat: Mit Ausnahme von Pethidin, das aufgrund der kurzen Wirkungsdauer und unerwünschter Wirkungen immer weniger verordnet wurde, hat der medizinische Verbrauch (in g/100000 Einwohner) bei den anderen stark wirksamen Opioid-Analgetika in den letzten Jahren deutlich zugenommen: Verglichen mit 1990 ergab sich bei Morphin, Hydromorphon und Oxycodon 1996 eine Zunahme um 49,4%, 11,8% bzw. 15,1%. Der therapeutische Einsatz von Fentanyl nahm im selben Zeitraum sogar um mehr als das Zehnfache zu (+ 1091,5%).

Kein vermehrter Missbrauch

Insgesamt belegen die Daten, dass die zunehmende Verordnung von Opioid-Analgetika das Risiko für eine missbräuchliche Anwendung dieser Substanzen nicht erhöht: Die Komplikationen durch Opioid-Missbrauch sind vielmehr vor allem bei den ausschließlich als Analgetika verordneten, stark wirksamen Opioiden trotz deutlich gestiegener Verordnungszahlen deutlich zurückgegangen. Fentanyl war 1996 mit nur 0,003% aller im DAWN-System erfassten Komplikationen verantwortlich, bei einem gleichzeitig enormen Zuwachs im medizinischen Einsatz von über 1000%.

Der so genannte "Morphin-Mythos" konnte damit jetzt auch für eine große, repräsentative Stichprobe widerlegt werden. Bei Schmerzpatienten verursachen retardierte Opioid-Analgetika bei regelmäßiger Anwendung normalerweise keinen "Kick" und können daher auch keine psychische Abhängigkeit auslösen. Langsam anflutende Substanzen mit langer Wirkungsdauer gelten daher unter diesem Aspekt als besonders sicher.

Die bisher bei vielen Ärzten und Apothekern, aber auch bei vielen Patienten und ihren Angehörigen noch immer bestehende Sorge vor einer Abhängigkeit durch stark wirksame Opioid-Analgetika sollte damit endgültig der Vergangenheit angehören. Nicht durch das extrem niedrige Abhängigkeitsrisiko sind diese Patienten gefährdet, sondern durch eine unzureichende Schmerztherapie: starke chronische Schmerzen beeinträchtigen nämlich die Lebensqualität der betroffenen Patienten und sind zugleich ein wichtiger physischer und psychischer Stressfaktor, der in vielen Fällen sogar Suizidgedanken und -handlungen auslöst.

In den letzten Jahren hat sich in puncto Schmerztherapie zwar schon einiges getan: So ist in Deutschland der Morphinverbrauch von 1984 bis 1996 um fast 900% gestiegen, doch die Menge der insgesamt verordneten Opioide reicht noch längst nicht aus, um alle Patienten mit starken Tumorschmerzen oder nicht-tumorbedingten, chronischen Schmerzen angemessen zu behandeln. 

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