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Arzneistoffe: Gute Natur – böse Chemie?

Vom 1. bis 4. Juni fand in Berlin die 88. Tagung des Bundesverbandes der Pharmaziestudierenden in Deutschland (BPhD) statt. Sie begann, wie üblich, mit einem wissenschaftlichen Vortrag: Prof. Dr. Dr. Walter Schunack sprach über das Thema "Liefert uns die Natur wirklich optimierte Arzneistoffe?"

Verklärung der Natur

In der Bevölkerung ist die Ansicht weit verbreitet, alle aus der Natur gewonnen Arzneimittel, insbesondere solche pflanzlicher Herkunft, seien mild wirksam, hätten keine unerwünschten Nebenwirkungen und seien ungefährlich, während auf die Synthetika, die "chemischen" Arzneimittel, jeweils genau das Gegenteil zutreffe. Diese die Natur verklärende Ansicht hat, Schunack zufolge, ihre Wurzeln in der Romantik, als der Mensch in der Natur nicht mehr in erster Linie seinen Feind, sondern die erhabene Schöpfung erblickte. Hinzu kam damals eine Wiederbelebung der Klostermedizin, deren Rezepturen ihre bis heute andauernde Beliebtheit aber zu einem großen Teil ihrem hochprozentigen Gehalt an Alkohol verdankten.

Nicht der Stoff, sondern die Dosis ist entscheidend

Nüchtern besehen, so Schunack, gilt nach wie vor der Lehrsatz des Paracelsus, dass alle Dinge giftig sind und nur die jeweilige Dosis entscheidet, ob sie als Gift wirken. Die, gemessen an der tödlich wirkenden Konzentration, giftigsten Stoffe seien natürlichen Ursprungs: Botulinustoxin, die giftigste bekannte Substanz, wirke 30000-mal so stark wie das "Seveso-Gift" 2,3,7,8-Tetrachlorbenzodioxin, das giftigste Synthetikum. Das früher häufig für Suizide missbrauchte Phenobarbital wirke wiederum fünf Zehnerpotenzen schwächer als das genannte Dioxin und damit auch erheblich schwächer als zahlreiche Pflanzengifte.

Erfolgreiche Phytopharmaka

In seinem weiteren Vortrag ging Schunack auf Phytopharmaka ein, die als rationale Arzneimittel gelten und im Sinne einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin eingesetzt werden. Damit schloss er Präparate besonderer (alternativer) Heilweisen, wie der Homöopathie oder der anthroposophischen Medizin, aus seiner Betrachtung aus.

Phytopharmaka nehmen auf dem deutschen Arzneimittelmarkt im internationalen Vergleich eine Sonderstellung ein. Laut Schunack entfallen 44% des Welarktes der Phytopharmaka auf Deutschland, wo jährlich Präparate im Wert von 1,5 Mrd. DM abgegeben werden. Die Spitzenreiter unter den Stammpflanzen, deren Drogen für Phytopharmaka Verwendung finden, sind derzeit

  • Ginkgo,
  • Rosskastanie,
  • Weißdorn,
  • Johanniskraut.

Die Phytopharmaka enthalten in der Regel Pflanzenextrakte, die auf einen Inhaltsstoff standardisiert sind, ohne dass dieser als der alleinige Wirkstoff anzusehen ist. Die Prüfung der Wirksamkeit erfolgt mit dem Extrakt, der auch arzneimittelrechtlich als der Wirkstoff des Präparates gilt.

Naturstoffe chemisch optimieren

An einigen Beispielen zeigte Schunack, wie es der Chemie gelungen ist, Wirkstoffe aus der Natur zu optimieren. Das natürliche, aus dem Pinselschimmel Penicillium isolierte Penicillin ist das Benzylpenicillin; es muss intravenös appliziert werden und wirkt nur gegen grampositive Bakterien. Indem die Chemiker an dieses Molekül eine Hydroxyl- und eine Aminogruppe anfügten, erhielten sie das Amoxicillin, das gegenüber dem Naturstoff zwei gewichtige Vorteile aufweist: Es ist oral applizierbar und wirkt als Breitband-Antibiotikum.

Eine andere Antibiotika-Gruppe sind die Tetracycline, die aus Streptomyceten isoliert wurden. Durch Verlagerung einer OH-Gruppe am Tetracyclin (Achromycin) wurde aus dem Naturstoff das Synthetikum Doxycyclin, eine aus therapeutischer Sicht optimierte Substanz, weil sie ihre Wirkung bei einer zehnfach geringeren Tagesdosis entfaltet.

Das Opiumalkaloid Morphin ist ein komplexes Molekül mit fünf Chiralitätszentren. Indem die Chemiker überflüssigen Ballast aus dem Molekül entfernten und die für die Wirkung entscheidenden Strukturen bewahrten sowie kleine funktionelle Gruppen anfügten, erhielten sie synthetische Opiate wie das Pethidin oder das Methadon.

Synthetische Naturstoffe

In einigen wenigen Fällen bedarf der therapeutisch verwendete Naturstoff keiner Optimierung, so im Falle des Vitamin C, doch vermag der Mensch die Natur in der Synthese zu übertreffen. Das traditionelle Verfahren der Umwandlung von D-Glucose über mehrere Reaktionsschritte in L-Ascorbinsäure ist heute mit Hilfe der Gentechnologie wesentlich vereinfacht worden, sodass Vitamin C in biotechnologischen Anlagen preiswert produziert werden kann. Obwohl Kunden in der Apotheke manchmal "natürliches" Vitamin C verlangen, ist es unsinnig, hier zwischen dem Naturstoff und der industriell hergestellten Substanz zu unterscheiden, weil sie chemisch völlig identisch sind, wie Schunack betonte.

Viele Arzneistoffgruppen fehlen in der Natur

Die pharmazeutische Chemie beschränkt sich keineswegs darauf, Naturstoffe zu modifizieren und zu synthetisieren, sie hat auch ganze Arzneistoffgruppen geschaffen, die es in der Natur gar nicht gibt. Dazu zählen z.B. Antihistaminika, Betablocker, Calciumkanalblocker, ACE-Hemmer, Protonenpumpenhemmer, bestimmte Gichittel (Allopurinol) und Diuretika (Hydrochlorothiazid).

Schunack erkannte ausdrücklich an, dass die Natur dem Chemiker wichtige Anhaltspunkte (Leitstrukturen) für die Synthese von Arzneimitteln gibt; damit decke sie aber keineswegs alle Indikationsgebiete ab. Er resümierte: Die Natur liefert uns viele Stoffe, aber (mit wenigen Ausnahmen) keine optimalen Arzneistoffe.

Nicht immer ist der Chemiker in der Lage, einen wirksamen Naturstoff zu optimieren, z.B. dann, wenn dieser Stoff noch nicht einwandfrei identifiziert ist. So ist im Fall der Baldrianwurzel bis heute nicht geklärt, was der für die Wirkung hauptverantwortliche Inhaltsstoff ist. Auf Nachfrage erklärte Schunack, dass er auch in solchen Fällen den Einsatz eines Phytopharmakons nicht für sinnvoll halte. cae

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