Arzneimittel und Therapie

Neue Arzneimittel: Aktuelle Veränderungen in der Diabetestherapie

In der Diabetestherapie gibt es zur Zeit und in den kommenden Jah- ren viele Neuerungen. Diese reichen von modifizierten Insulinen, die besonders rasch oder lang wirksam sind, bis zu oralen Antidiabetika, die die Behandlung revolutionieren könnten. Prof. Dr. Eugen J.Verspohl, Münster, fasste die Neuheiten auf dem Diabetesgebiet in seinem Vortrag aus Anlass des 60. Geburtstages von Hans-Günter Friese, Präsident der Apothekerkammer Westfalen-Lippe, zusammen.

In Deutschland leben etwa 0,8 Millionen Typ-1- und 3,8 Millionen Typ-2-Diabetiker. Die Zahl der Diabetiker steigt weiter. Die Erkrankungshäufigkeit verdoppelt sich noch einmal, wenn man die neuen Diagnosekriterien der American Diabetes Association anwendet, in denen die Diabetes-Grenzwerte auf 110 mg/dl für den Nüchternblutzucker und auf 180 mg/dl für den postprandialen Blutzucker radikal gesenkt wurden.

Hier zu Lande sind nur 15% der Diabetiker gut eingestellt. Ein gut eingestellter Diabetiker verursacht pro Jahr rund 3000 DM Kosten, ein schlecht eingestellter etwa 15000 DM. Noch immer führt Diabetes in Deutschland jährlich zu 4000 Erblindungen und ist für zwei Drittel aller Beinamputationen und 60% aller Dialysefälle verantwortlich.

Neues in der Therapie des Typ-1-Diabetes

In den letzten Jahren sind schnell wirksame Insuline auf den Markt gekommen. Das erste war Insulin lispro (Humalog®), das die Aminosäuren Lysin und Prolin an B28 und B29 vertauscht enthält. Die B30-Aminosäure ragt dadurch aus dem Molekül heraus. Die Insulin-Moleküle können nicht mehr zum Hexamer aggregieren und wirken deshalb schneller.

Ein weiteres Insulin mit kurzem Ess-Spritz-Abstand ist Insulin aspart (NovoRapid®), in dem Prolin gegen Aspartat ausgetauscht ist. Seine Wirkung beginnt 10 bis 20 Minuten nach der Injektion und erreicht das Maximum nach ein bis drei Stunden. Allergien sind hierunter nicht häufiger als unter anderen Humaninsulinen. Die Wirkungsstärke ist vergleichbar, weil die Affinität zum Insulin-Rezeptor gleich ist.

Ein Nachteil der neuen Insuline: Hat der Diabetiker sich ein solches schnell wirksames Insulin gespritzt, muss er bald darauf essen. Sonst besteht die Gefahr einer Hypoglykämie.

Kürzlich wurde auch ein verzögert wirksames Basalinsulin entwickelt, das das Retardierungsprinzip im Molekül selbst enthält: Insulin Glargin (HOE901) unterscheidet sich von normalem Humaninsulin durch Änderung der Aminosäure an B30 und durch Zusatz von zwei Argininen an B31 und B32. Dadurch wird der isoelektrische Punkt nach rechts verschoben: Insulin Glargin ist in der Ampulle bei pH 4 löslich, fällt aber im Unterhautfettgewebe bei pH 7,4 aus und ist daher nur langsam verfügbar. Laut Industrie-Aussagen wirkt eine einmalige Injektion 24 Stunden lang und wäre damit besser als mit Protamin verzögerte Insuline. In den USA ist Insulin Glargin bereits zugelassen.

Der Typ-1-Diabetiker möchte "von der Nadel herunterkommen". Deshalb wird eifrig an anderen Applikationsformen von Insulin gearbeitet. Die Firma Inhale will in Kooperation mit Aventis und Pfizer ein inhalierbares Insulin produzieren. Seine Entwicklung beruht auf drei technischen Durchbrüchen:

Es wird kein Aerosol eingesetzt, sondern ein Pulver. Aerosole hätten einen zu niedrigen Wirkstoffgehalt für die Insulin-Anwendung. Das inhalierte Insulin-Pulver ist nicht kristallin, sondern amorph und kann daher nicht in der Lunge von Bakterien angegriffen werden. Für eine geringe Teilchengröße unter 3 mm sorgt eine Feinstaubwolke aus glasartigen Wirkstoff-Klümpchen. In der Vorratspackung liegt das Insulin-Pulver in kristalliner Form vor. Die kristallinen Klumpen werden durch einen schallschnellen Druckluft-Puls (Luftgewehr-Prinzip) auseinandergeschossen und verteilen sich in der Verpackung zu einem amorphen Nebel.

Falsche Atemtechnik spielt bei dieser Inhalation keine Rolle (kein Koordinationsproblem). Der Patient inhaliert mehrmals aus der durchsichtigen Rückhaltekammer, bis sie nicht mehr milchig aussieht. Das inhalierte Insulin erreicht sein Wirkungsmaximum nach 43 Minuten (etwas schneller als subkutan injiziertes Insulin nach 64 Minuten).

Die Bioverfügbarkeit ist mit durchschnittlich weniger als 15% schlecht. Im Vergleich zur subkutanen Injektion müssen zehnmal höhere Insulin-Dosen inhaliert werden. Die Insulin-Inhalation kommt nur als Bedarfsmedikation zu den Mahlzeiten in Frage; sie kann die einmal tägliche Injektion eines Basalinsulins nicht ersetzen.

Es gibt heute bereits nadelfreie subkutane Anwendungen von Insulin: Injex® enthält einen Sprungfeder-Mechanismus. Ein Insulin-Strahl mit 0,25 mm Durchmesser wird durch die Haut geschossen. Ein anderes System, Biojector®, arbeitet mit komprimiertem Kohlendioxid. Insulin als Nasenspraist nur in den USA und nicht in Deutschland zugelassen. Insulin hat bei nasaler Anwendung eine schlechte Bioverfügbarkeit (10 bis 12%).

Auch auf der Haut kann Insulin appliziert werden – in Form von Transfersomen, Liposomen-ähnlichen Gebilden. Die Bioverfügbarkeit soll bei 50% oder sogar höher liegen. Die Substanz L-783281, die im afrikanischen Pilz Pseudomassaria entdeckt wurde, könnte die Therapie des Typ-1-Diabetes revolutionieren. Die Verbindung wird bei oraler Einnahme gut resorbiert. Sie aktiviert die Insulin-Rezeptor-Tyrosinkinase. Möglicherweise wird diese Substanz in Zukunft die gesamte Insulin-Therapie überflüssig machen.

Neue Typ-II-Antidiabetika

Repaglinid (NovoNorm®) ist ein neues orales Antidiabetikum mit sehr kurzer Halbwertszeit (ca. eine Stunde). Es handelt sich nicht um ein Sulfonylharnstoff-, sondern um ein Benzoesäure-Derivat. Repaglinid wirkt streng glucoseabhängig, sodass keine Hypoglykämien zu erwarten sind. Es wird zu den Mahlzeiten eingesetzt und stimuliert dann die Insulin-Freisetzung. Seine günstige Pharmakokinetik dürfte auf seiner extrazellulären Bindungsstelle (im Gegensatz zur intrazellulären der Sulfonylharnstoffe) beruhen.

Die Thiazolidindione sind eine neue Klasse oraler Antidiabetika. Sie greifen am Peroxisomen-Proliferator-aktivierten Rezeptor (PPARgamma-Rezeptor) an. Dieser führt zusammen mit dem Retinoid-X-Rezeptor zu einer veränderten DNA-Ablesung. Thiazolidindione bremsen unter anderem die Ablesung und Expression von TNF-alpha und Leptin in Fettzellen. Beide hemmen die Insulin-Signalkaskade.

Das Thiazolidindion Troglitazon wurde wegen tödlichen Leberversagens vom Markt zurückgezogen bzw. in Europa gar nicht auf den Markt gebracht. Diese lebertoxische Wirkung scheint auf Troglitazon beschränkt zu sein. Allerdings bergen auch die anderen Vertreter dieser Antidiabetika-Klasse, Rosiglitazon (Avandia®) und Pioglitazon (Actos®), ein Gefahrenpotenzial: Sie hemmen bzw. stimulieren verschiedenste Gene.

Eine weitere Substanz, die in diesem oder im nächsten Jahr auf den Markt kommen wird, ist GLP-1, Glucagon-like peptid 1. GLP-1 verstärkt glucoseabhängig (nicht bei Hypoglykämie) die Insulinausschüttung. Da die Substanz ein Peptid mit kurzer Halbwertszeit ist, muss sie subkutan injiziert werden. Hierauf werden sich Typ-2-Diabetiker vermutlich ungern einlassen.

Quelle

Prof. Dr. Eugen J. Verspohl, Münster, Festkolloquium aus Anlass des 60. Geburtstages von Hans-Günter Friese (Präsident der Apothekerkammer Westfalen-Lippe), Münster, 17. Mai 2000, veranstaltet von der Apothekerkammer Westfalen-Lippe.

In der Diabetestherapie gibt es zur Zeit und in den kommenden Jahren viele Neuerungen. Diese reichen von modifizierten Insulinen, die besonders rasch oder lang wirksam sind, bis zu oralen Antidiabetika, die die Behandlung revolutionieren könnten. Prof. Dr. Eugen J. Verspohl, Münster, fasste die Neuheiten auf dem Diabetesgebiet in seinem Vortrag aus Anlass des 60. Geburtstages von Hans-Günter Friese zusammen.

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