Arzneimittel und Therapie

Neues über die Grippe-Pandemie von 1918

o}Epidemien todbringender Krankheitserreger gleichen in mancher Hinsicht einem Vulkanausbruch: Man weiß nicht, wann und wo die nächste Katastrophe losbricht, und hat eine Epidemie erst einmal ihren Lauf genommen, kommen auch Schutzmaßnahmen häufig zu spät.

Eine medizinische Katastrophe der besonderen Art war die Influenzavirus-Pandemie von 1918, gemeinhin unter dem Namen Spanische Grippe bekannt. So starben beispielsweise in der Stadt Philadelphia im Bundesstaat Pennsylvania innerhalb von drei Wochen 10000 Menschen an Influenza. In den gesamten USA waren es im Verlauf weniger Monate mehr als eine halbe Million. Weltweit wird die Zahl der Opfer mit 20 Millionen angegeben, es können aber genau so gut auch 40 Millionen gewesen sein – sichere Methoden, den Erreger zu identifizieren, gab es nicht, und die Sterbestatistiken jener Zeit sind alles andere als zuverlässig.

Spuren der tödlichen Krankheit

Alte und junge Leute wurden gleichermaßen dahingerafft, und manchmal trat der Tod innerhalb von 48 Stunden nach dem Auftreten der ersten Krankheitszeichen ein. Weltweit forderten die Influenza-Viren ihre Opfer, und kein Kontinent blieb ausgespart – deshalb auch die Bezeichnung Pandemie.

Bislang sind alle Versuche, die Epidemie im Nachhinein zu erklären, fehlgeschlagen. Weder ging der "Morbus Ibericus" von Spanien aus, noch war China der Übeltäter, von wo sonst häufig neue aggressive Virusvarianten ihren Ursprung nehmen. Auch eine mit modernsten molekularbiologischen Methoden durchgeführte Spurensuche – die Aufarbeitung von Gewebe während der Epidemie verstorbener Menschen – verlief im Sande: Die virale RNA – also der molekulare Fingerabdruck der Influenzaviren von 1918 – unterschied sich nicht wesentlich von der Erbinformation heute um die Welt vagabundierender Virusstämme.

Zumindest fanden Jeffrey Taubenberger und seine Kollegen vom Armed Forces Institute of Pathology, die auf dem Gebiet der forensischen Virologie führende Gruppe von Wissenschaftlern, bei ihrer akribischen Analyse keinen Hinweis, dass die Spanische Grippe durch ein besonders aggressives Virus verursacht worden wäre.

Andere Erklärungen für die Epidemie

Die enge Zeitspanne – September bis November 1918 – und die weite geographische Verteilung der Fälle – von Spitzbergen über Alaska bis Colorado im Südwesten der USA – der neun Grippe-Opfer, deren sterbliche Überreste den amerikanischen Forschern zur Indiziensuche diente (sechs im Permafrost konservierte Körper von Arbeitern einer Kohlegrube auf Spitzbergen bzw. einer alaskaischen Eskimofrau sowie paraffinfixierte Gewebeschnitte zweier amerikanischer Soldaten) haben eine Gruppe englischer Virologen und eine amerikanische Wissenschaftsjournalistin bewogen, nach anderen Erklärungen für die größte Epidemie der Seuchengeschichte zu suchen.

Kleinere Epidemien gingen voraus

Die Rechercheure sind beim Durchstöbern alter Medizinalstatistiken und zeitgenössischer Dokumente fündig geworden. Offensichtlich hat sich die Pandemie von 1918 durch zahlreiche kleine Epidemien angekündigt – wie einem gewaltigen Vulkanausbruch häufig auch zahlreiche kleinere Eruptionen vorausgehen. So kam es 1916 in einer französischen Garnison in Etaples, in der 100000 Soldaten stationiert waren, zu einer Epidemie von Atemwegserkrankungen, an der nahezu die Hälfte der erkrankten jungen Männer verstarb. Allerdings wurde die Infektion von den Militärärzten – aus welchen Gründen auch immer – als "akute eitrige Bronchitis" verharmlost. Im darauffolgenden Frühling kam es zu ähnlicher Erkrankungswelle in einer englischen Kaserne in Aldershot. Hier tat man die Influenza als "katarrhalischen Fieber" ab. Aufgrund der Symptome, des Krankheitsverlaufes und der hohen Todesfallrate, dies ist aus den Dokumenten mit Sicherheit zu schließen, kann es sich jedoch nur um Influenza gehandelt haben. Weitere kleine Epidemien sind wahrscheinlich in den Wirren der Kriegsjahren unbeachtet geblieben oder die Unterlagen sind verloren gegangen.

Auch die Sterbestatistiken des "London Hospital", eines großen Londoner Krankenhauses, zeigen, dass ein aggressives Influenzavirus bereits seit 1914 in der Bevölkerung zirkulierte. Als Todesursache wurde in den Krankenhausstatistiken zwar "Bronchopneumonie" (bakteriell bedingte Lungenentzündung) angegeben, aber einiges spricht dafür, dass es sich in Wirklichkeit um eine Lungenentzündung durch das Influenzavirus gehandelt hat.

Zahlreiche Epizentren

Diese Beobachtungen machen es unwahrscheinlich, dass die weltumspannende Epidemie von 1918 von einem Ort, ähnlich dem Epizentrum eines Erdbebens, ihren Ursprung nahm. Verkehrsmittel, in denen Influenzakranke samt Virus innerhalb kurzer Zeit so entfernt liegende Orte wie Longyearbyen auf Spitzbergen oder Fort Collins in Colorado hätten erreichen können, gab es damals noch nicht. Vermutlich hatte die Epidemie zahlreiche "Epizentren", von denen sie mehr oder minder gleichzeitig in alle Richtungen ausbreitete.

Geschwächte Abwehr

Zur globalen Katastrophe kam es, weil ein aggressives Influenzavirus bereits seit längerem in diversen Bevölkerungen und an unterschiedlichen Orten zirkulierte, und weil bis dato lokal begrenzte Epidemien mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammenfielen: Die Ernährung war schlecht, die Abwehrkräfte der Menschen häufig schlecht, Brennstoffe und beheizte Wohnungen Mangelware – Faktoren, die die Ausbreitung von Atemwegserkrankungen fördern.

Außerdem kehrten Hunderttausende infizierter Soldaten und Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurück und brachten das Influenzavirus ohne es zu wissen als "blinden Passagier" mit. De facto war das Ende des Ersten Weltkriegs also eine ideale Drehscheibe, um Krankheitserreger aller Art, darunter eben auch die Influenza-Viren, bis in die entferntesten Winkel der Erde zu schleudern.

Literatur

Nature Medicine 5, 1351–1352 (1999). Gina Kolata: The Storof the Great Influenza Pandemie of 1918 and the Search of the Virus That Caused it. Straus & Giroux, Farrar 1999. Prof. Dr. Hermann Feldmeier, Buchholz

Epidemien todbringender Krankheitserreger gleichen in mancher Hinsicht einem Vulkanausbruch: Man weiß nicht, wann und wo die nächste Katastrophe losbricht, und hat eine Epidemie erst einmal ihren Lauf genommen, kommen auch Schutzmaßnahmen häufig zu spät. Eine medizinische Katastrophe der besonderen Art war die Influenza-Pandemie von 1918, gemeinhin unter dem Namen "Spanische Grippe" bekannt.

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