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Man reibt sich die Augen - und liest es zweimal: höchst Erstaunliches zur Gesellschafts-, Sozial- und Gesundheitspolitik von führenden Repräsentanten der Regierung. Bundeskanzler Schröder hat, deutlicher und konkreter als im so genannten Schröder-Blair-Papier vom Juni 99, in einem Beitrag für "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" (4/2000) der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung erneut zum Aufbruch aus den ideologischen Schützengräben der SPD geblasen.

Die Vorstellung, "mehr Staat" sei das beste Mittel, um mehr Gerechtigkeit zu erreichen, bezeichnet Schröder dort als "eine der großen Illusionen der sozialdemokratischen Gesellschaftspolitik". Soziale Gerechtigkeit könnten auch die Sozialdemokraten nicht mehr auf Verteilungsgerechtigkeit beschränken. Entscheidend sei die Chancengleichheit. Im Gesundheitswesen stehe die Gesellschaft vor der Frage, "welche Medizin sie zu welchen Kosten vorhalten" könne, und wie der Beitrag der Versicherten aussehen könne. Viele Menschen seien heute bereit, "Therapiemaßnahmen auch durch außergewöhnliche Anstrengungen aktiv zu unterstützen". Die Möglichkeiten und Kosten der modernen Medizin seien so komplex geworden, dass ein Gesundheitswesen ohne " ... Selbstbeteiligung nicht mehr vorstellbar" sei. Der Staat solle sich mehr zurückhalten, er solle mit den Akteuren nur den Rahmen besprechen, innerhalb dessen die Gesellschaft selbst das Gesundheitswesen entsprechend den Anforderungen und Fähigkeiten der Beteiligten gestalten solle.

Schröder: "Subsidiarität, die Rückgabe von Verantwortung an die Menschen, die diese Verantwortung tragen können und wollen, ist kein 'Geschenk' des Staates, sondern gesellschaftspolitische Notwendigkeit". Die Zivilgesellschaft, die Schröder gegenüber dem Staat gestärkt sehen will, folge dem Prinzip der Rückkehr zu kleinen Einheiten: "Sozialdemokratische Wirtschaftpolitik müsse dafür sorgen, dass diese Einheiten lebbar und lebensfähig werden".

Da würden wir Sie gern beim Wort nehmen, Herr Bundeskanzler! Klassisch sozialdemokratisch klingt das freilich nicht. Und die Steuerreform soll nach wie vor die Großunternehmen in grotesker Weise bevorzugen. Manches spricht dennoch dafür, dass Schröders Vorstoß mehr sein könnte als Wortgeklingel. Ähnlich ungewohnt haben sich Scharping und Clement in der letzten Woche zur Eröffnung der Beratungen über ein neues SPD-Grundsatzprogramm geäußert. "In der SPD stürmt der liberale Flügel", schrieb die FAZ. Lockerungsübungen für eine wirkliche Öffnung zur "neuen(?) Mitte"?

Die gleiche Frage könnte man auch Andrea Fischer stellen. In einem ZEIT-Interview (14/2000) hat die Gesundheitsministerin Erstaunliches zur gesetzlichen Krankenversicherung zu Protokoll gegeben. Sie stellte mutig die bisherige beitragsfreie Mitversicherung für Ehegatten ohne eigenes Einkommen in Frage, jedenfalls dann, wenn diese weder Kinder erziehen noch alte Menschen pflegen. Und: Auf die Dauer könne bei steigender Bedeutung der Kapitaleinkünfte nicht gutgehen, dass sich die Beitragsverpflichtungen nur an den Erwerbseinkommen orientieren. Unabhängig davon, wie sich die Ausgaben entwickeln, würden wir so ein Einnahmeproblem bekommen.

Bekommen? Wir haben es schon - und Frau Fischer hat es wahrscheinlich auch schon gemerkt. Durch die scharfe Budgetierung lässt sich immer häufiger die schon länger praktizierte verschleierte Rationierung nicht mehr verheimlichen - sogar auf wichtigen Therapiefeldern (Parkinson, Depression, KHK, Diabetes, Infektionen). Patientenverbände und Krankenkassen, unlängst die GEK, weisen darauf hin, dass die Ärzte - in die Enge getrieben - inzwischen auch notwendige Leistungen verweigern. Im Gegenzug nur darauf zu verweisen, dass es hier und da auch noch Verschwendung gebe, exkulpiert die politisch Verantwortlichen nicht. Aber auch mit dem Antrag der FDP, die Budgets auszusetzen, ist es allein nicht getan. Das wissen auch die Liberalen.

Klaus G. Brauer

Lockerungsübungen

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