Fortbildung

Der Schmerzpatient

Der Schmerzpatient stand im Mittelpunkt des 28. Fortbildungsseminars der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg, das am 8. und 9. April 2000 in St. Blasien-Menzenschwand abgehalten wurde. Die Vorträge waren den dem Schmerz zugrunde liegenden neurobiologischen und pathophysiologischen Vorgängen, ausgesuchten Teilaspekten der Schmerztherapie sowie der praktischen Arbeit und kritischen Bestandsaufnahme eines Schmerztherapeuten gewidmet.

Schmerzbehandlung - mehr als symptomatische Therapie

Wie Prof. Dr. Dr. Manfred Zimmermann vom Physiologischen Institut in Heidelberg darlegte, leiden in Deutschland ungefähr fünf Millionen Kranke unter chronischen Schmerzen. Es ist anzunehmen, dass diese Zahl weitaus kleiner wäre, wenn bei diesen Patienten der ursächliche, akute Schmerz rechtzeitig und adäquat behandelt worden wäre. Hier zeigt sich bereits die Problematik der heutigen Schmerztherapie:

  • Im Medizinstudium und in der Arztausbildung nimmt die Schmerzbehandlung bislang nur eine untergeordnete Rolle ein.
  • In Deutschland besteht ein Mangel an Schmerztherapeuten.
  • Das Symptom Schmerz wird überwiegend körperlich gedeutet; die Tatsache, dass der Schmerz ein multifaktorielles Geschehen ist, wird nur langsam akzeptiert.
  • Es bestehen sowohl auf der Therapeuten- als auch auf der Patientenseite noch immer zu viele Vorurteile gegenüber potenten Analgetika, insbesondere gegenüber Opioiden.
  • Der Tatsache, dass ein akuter Schmerz in einen chronischen Zustand übergehen kann, wird noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Chronifizierung des Schmerzes - ein multifaktorieller Vorgang

Ein Schmerz erzeugt an den Nozizeptoren Nervenimpulse, die zum Rückenmark und letztendlich zum Thalamus weitergeleitet werden. Bei diesen Vorgängen sind auf zellulärer Ebene zahlreiche Rezeptorsysteme und Neurotransmitter beteiligt. Die zentralnervöse Verarbeitung von neuralen Schmerzinformationen umfasst zahlreiche Vorgänge, von denen nur ein kleiner Teil die Bewusstseins- ebene erreicht. Unbewusste und bewusste Vorgänge können das Nervensystem modulieren. Diese Veränderungen manifestieren sich molekularbiologisch und klinisch und werden als Neuroplastizität bezeichnet. So konnte auf molekularbiologischer Ebene nachgewiesen werden, dass wiederholte Schmerzreize letztendlich die Gentranskription verändern und so zu langanhaltenden Sensibilisierungen und schmerzverstärkenden Fehlfunktionen des Nervensystems führen können. Aufgrund dieser Veränderungen entwickelt sich auch das Schmerzgedächtnis; typische Beispiele hierfür sind der Phantomschmerz oder die postzosterische Neuralgie.

Die Plastizität des Nervensystems zeigt sich also in

  • einer Sensibilisierung der Neuronen,
  • Fehlfunktionen der Nervenfasern,
  • Störungen des vegetativen Nervensystems,
  • schmerzfördernder Kognition und Verhaltensweise,
  • schmerzfördernden Interaktionen.

Verhinderung der Schmerzchronifizierung

Die wichtigste Maßnahme, um eine Chronifizierung des Schmerzes zu verhindern, ist eine rechtzeitige und adäquate Schmerzbehandlung. Diese umfasst nicht nur die medikamentöse Therapie, sondern berücksichtigt auch physiotherapeutische, psychologische, psychosoziale und präventive Aspekte. So kann beispielsweise durch physiotherapeutische Maßnahmen das Nervensystem stimuliert und aktiviert werden. Des Weiteren soll verhindert werden, dass der Kranke eine Schonhaltung einnimmt, da bei Rückenschmerzen gezeigt werden konnte, dass eine ständige Schonhaltung die Chronifizierung des Schmerzes begünstigt.

Ein wichtiger Faktor ist auch das psychosoziale Umfeld des Patienten. So konnte wiederum am Beispiel von Rückenschmerzen gezeigt werden, dass die Inzidenz dieser Erkrankung mit der Unzufriedenheit am Arbeitsplatz korreliert. Ferner muss berücksichtigt werden, dass der Schmerz eine hilflos-depressive Haltung verstärkt und zu einem Kontrollverlust führen kann.

Auf der anderen Seite erfahren manche Patienten durch ihren Schmerz einen Krankheitsgewinn und sind deshalb einer Therapie nur schwer zugänglich. Bei dem sekundären Krankheitsgewinn durch Schmerzen kann sich der chronische Schmerz von der primären Ursache entfernen und zu einer eigenständigen Schmerzkrankheit entwickeln.

Nicht zuletzt spielt die Patientenedukation bei der Schmerzthe- rapie eine sehr wichtige Rolle. Der Patient muss über die Notwendigkeit und die Bedeutung einer Therapie aufgeklärt werden, wobei der Arzt auch auf die Ängste und Bedenken des Patienten eingehen muss.

Der Schmerz kann weiterhin physiologisch und pharmakologisch beeinflusst werden. Durch physiologische Maßnahmen wie die transkutane Nervenstimulation sollen die Schmerzkontrollsysteme im Zentralnervensystem aktiviert werden. Zur Pharmakotherapie der Schmerzen stehen zahlreiche Substanzen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen zur Verfügung.

Wird in Deutschland zu viel gelitten?

"Chronische Schmerzen sind die Seuche des 21. Jahrhunderts!" Mit dieser Äußerung eröffnete Dr. Gerhard Müller-Schwefe vom Schmerztherapeutischen Kolloquium e.V. aus Göppingen seine Darlegungen und legte anhand epidemiologischer Daten die Situation der Schmerzpatienten in Deutschland dar.

Mindestens 65% aller chronischen Schmerzpatienten sind unter- oder unversorgt. Dies betrifft nicht nur Tumorkranke, sondern auch Patienten, die aufgrund anderer Erkrankungen an chronischen Schmerzen leiden. Man schätzt, dass in Deutschland pro Jahre 4000 Menschen Selbstmord begehen, weil sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen können. Bis zu 80% aller Tumorpatienten leiden in irgendeinem Stadium ihrer Erkrankung an schweren Schmerzen. 80 bis 90% von ihnen sind schmerztherapeutisch unterversorgt. Dies geht auch sehr deutlich aus einer Studie mit 44 002 Karzinompatienten hervor, von denen nur 335 einen in der BtMVV aufgelisteten Wirkstoff erhalten hatten (davon 140 Patienten nur einmal). Die in Deutschland jährlich verordneten Morphinmengen reichen gerade aus, um 20 000 Patienten zu versorgen.

Als Ursache für diese Unterversorgung führte Dr. Müller-Schwefe mehrere Gründe auf:

  • unzureichende Ausbildung im Medizinstudium und in der Facharztausbildung,
  • zögernde Umsetzung der Grundlagenforschung in der klinischen Praxis,
  • administrative Behinderungen durch die BtMVV,
  • Opioidphobie, "Morphinmythos",
  • unzureichendes Einhalten der pharmakotherapeutischen Behandlungsregeln,
  • Unkenntnis und Vorurteile gegenüber dem Einsatz von Opioiden.

Folgen eines chronischen Schmerzes

Ein Schwerpunkt der schmerztherapeutischen Arbeit ist die Behandlung chronischer Schmerzen. Durch Chronifizierungsprozesse hat sich der Schmerz verselbstständigt und tritt auch ohne das Vorhandensein äußerer Reize auf. Durch ständig wiederkehrende Reize sowie eine synaptische Sensibilisierung ist die Zelle in einem daueraktiven Zustand, den es zu unterbrechen gilt, damit sich die transformierte Zelle wieder regenerieren kann.

Die Chronifizierung des Schmerzes prägt schließlich den ganzen Menschen und führt zu zahlreichen Konsequenzen, die Dr. Müller-Schwefe folgendermaßen beschrieb:

  • mehrjährige Anamnese,
  • der Patient durchläuft viele Therapien,
  • der chronische Schmerz führt zur Konsultation zahlreicher Ärzte und zu einem häufigen Ärztewechsel,
  • der Patient entwickelt ein algogenes Psychosyndrom,
  • der chronische Schmerz führt zu psychosozialen Konsequenzen,
  • der Patient hat zahlreiche ineffektive Therapien hinter sich,
  • es entstehen Abhängigkeitsprobleme.

Therapeutische Möglichkeiten

Es gibt verschiedene Ansätze, um den chronischen Schmerz und die daraus resultierenden Folgen zu therapieren: Ein wichtiger Punkt ist das Durchbrechen des Chronifizierungsvorgangs. Dies kann medikamentös mit Hilfe des selektiven neuronalen Kalium-Ionen-Kanalöffners Flupirtin erfolgen.

Ein weiterer Ansatz ist die Aktivierung endogener Schmerzsysteme und körpereigener Regenerationsmechanismen. Die körpereigene Schmerzhemmung kann z. B. durch Gegenirritationsverfahren, Akupunktur oder transkutane Neurostimulation (TENS) aktiviert werden. Ferner sollten die körperlichen Funktionen verbessert werden (z. B. durch Physiotherapie) und eine psychosoziale Reintegration erfolgen. Bei der medikamentösen Therapie, die neben den Analgetika auch Lokalanästhetika, COX-2-Inhibitoren, Neuroleptika, Antidepressiva und Antikonvulsiva enthält, ist zu beachten, dass bevorzugt retardierte Arzneiformen mit konstanter Wirkstofffreigabe eingesetzt werden.

Keine Angst vor Opiaten

Opioide werden noch immer zu restriktiv eingesetzt und sind in der Regel Tumorpatienten vorbehalten. Allerdings gibt es keine rationalen Gründe, starke Schmerzen anderer Genese nicht ebenfalls mit Opioiden zu behandeln. So spricht sich Dr. Müller-Schwefe auch für den Einsatz von Opiaten bei entzündlichen und degenerativen Gelenkerkrankungen oder bei Osteoporose aus.

Die Patienten sind in der Regel relativ einfach auf Opioide einzustellen, wenn gewisse Grundregeln beachtet werden: Das Opioid sollte einschleichend dosiert und anfänglich mit einem Antiemetikum wie z. B. Metoclopramid verordnet werden. Nach ein paar Tagen verliert sich die emetische Wirkung des Morphins, und das Antiemetikum kann abgesetzt werden. Initial und als Dauertherapie muss ein Laxans gegeben werden, da sich die obstipierende Wirkung von Morphin auch bei einer längerfristigen Therapie nicht verliert.

Schmerztherapie ruht auf mehreren Pfeilern

Dr. Wilhelm Freiherr von Hornstein aus der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg zeigte die Vielschichtigkeit einer adäquaten Schmerzbehandlung bei Tumorpatienten auf. Dabei ist die medikamentöse Schmerztherapie nur ein - allerdings ein sehr wichtiger - Pfeiler.

Verständnis und Geduld für den Patienten und sein soziales Umfeld sind ebenfalls unabdingbar, um den Kranken als Individuum in der Vielschichtigkeit seines Schmerzerlebens zu verstehen. Dies setzt voraus, dass nicht nur der Patient, sondern auch der Therapeut bereit sein muss, sich mit den körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Ebenen des Schmerzes auseinander zu setzen. Diese Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Schmerzaspekten und mit der Tatsache, dass dem Patient in der Regel nur noch eine kurze Lebensspanne zur Verfügung steht, führt auch beim Therapeuten zu einer Konfrontation mit den eigenen Ängsten.

Um einen Schmerzpatienten umfassend zu betreuen, sind in der Regel Therapeuten verschiedener Berufsgruppen erforderlich, die konstruktiv und engagiert zusammenarbeiten. Erst durch die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen können sinnvolle, auf den einzelnen Patienten ausgerichtete Therapiestrategien entwickelt werden.

Der WHO-Stufenplan

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat einfache, in drei Stufen gegliederte Prinzipien für die Schmerzbehandlung bei Tumorpatienten aufgestellt.

  • Die erste Stufe der Schmerztherapie besteht aus der Gabe von Nichtopioidanalgetika. Die Leitsubstanz ist Acetylsalicylsäure; daneben werden Paracetamol, Metamizol und die nicht steroidalen Antirheumatika eingesetzt. Bei letzteren sollten aufgrund ihrer besseren Verträglichkeit bevorzugt COX-2-Hemmer verwendet werden.
  • Medikamente der zweiten Stufe sind Codein, Dihydrocodein, Dextropropoxyphen, Tilidin (mit Naloxon) und Tramadol.
  • Die dritte Stufe beinhaltet die Gabe starker Opiate und Opioide, wobei Morphin als Leitsubstanz dient. Bei der Einstellung eines Patienten auf ein Morphinpräparat sollte immer (d. h. außer bei Durchfällen) zusätzlich ein Laxans gegeben werden, da Morphin in 95% aller Fälle zu Verstopfung führt. Weitere unerwünschte Wirkungen wie Übelkeit und Sedierung treten nur initial auf; die Fahrtüchtigkeit wird bei einem gut eingestellten Patienten nicht beeinträchtigt. In einigen Fällen ist es sinnvoll, ein anderes Opioid wie z. B. Hydromorphon (bei Unverträglichkeit von Morphin oder Kontraindikationen für Morphin), Fentanyl, Oxycodon (z. B. wenn zusätzlich starker Juckreiz vorliegt), Buprenorphin, Levomethadon und andere mehr einzusetzen.

Auf jeder Stufe können zusätzlich weitere Medikamente hinzugefügt werden wie z. B. Antidepressiva oder Antikonvulsiva bei neuropathischen Schmerzen oder Bisphosphonate bei Knochenschmerzen. Mit diesen, in den WHO-Richtlinien aufgeführten Maßnahmen kann 70 bis 80% aller Schmerzpatienten gut bis zufriedenstellend geholfen werden.

Schmerzpumpen erleichtern den Alltag

Es wird angestrebt, dem Patienten eine Versorgung in häuslicher Umgebung zu ermöglichen. Dazu muss für den Patienten und dessen Angehörige ein klarer, verständlicher Therapieplan ausgearbeitet werden. Ferner müssen im therapeutischen und im pflegerischen Bereich Ansprechpartner vorhanden sein, die bereit und in der Lage sind, sich auf die verschiedenen Ebenen der Erkrankung (d. h. auf die körperliche, psychische, soziale und spirituelle Dimension der Krankheit) einzulassen.

Bei Schmerzen, die auf eine orale Therapie nicht mehr ansprechen, gewinnt die kontinuierliche Applikation eines Analgetikums mittels einer Pumpe zunehmend an Bedeutung. Dazu können verschiedene Pumpensysteme eingesetzt werden, z. B. eine intravenöse Applikation mittels einer SIMS-Deltec-Pumpe oder die subkutane Gabe mit Hilfe einer Pegasus- oder Walkmed 300-Pumpe. Der Inhalt der Pumpe wird vom Arzt individuell zusammengestellt; häufig werden Morphin, Hydromorphon, Buprenorphin, Tramadol, Ketamin, Clonidin (zur Verstärkung der Analgesie), Metamizol, Butylscopolamin (bei sehr starker Sekretbildung, dem sog. "Todesrasseln"), Metoclopramid und Haloperidol in unterschiedlichen Kombinationen eingesetzt.

Bei Hautreizungen durch die Pumpe wird zusätzlich Dexamethason gegeben. Die Flussraten der Pumpen werden vom Arzt festgelegt; der Patient kann sich eventuell eine zusätzliche Dosis applizieren. Die Befüllung der Pumpe (in Form einer Kassette oder Ähnlichem) erfolgt in einer Apotheke; der Inhalt der Füllung reicht in der Regel für fünf bis sieben Tage. Einige Patienten können den Kassettenwechsel selbst vornehmen, andere sind auf Angehörige oder den Pflegedienst angewiesen.

Die Analgesie mit Hilfe einer Pumpe ist für viele Patienten eine große Erleichterung, da sie in einem gewissen Rahmen wieder über sich selbst bestimmen können und an Unabhängigkeit gewinnen, was nicht zuletzt stabilisiernd auf die emotionale Lage des Betroffenen wirkt.

Neuropathische Schmerzen

"Alles reine Nervensache" und "Nerven behalten" - so umriss Priv.-Doz. Dr. Thomas Tölle von der Neurologischen Klinik und Poliklinik in München die Grundlagen und das Therapieprinzip neuropathischer Schmerzen. Der neuropathische Schmerz kann durch Verletzungen, Dysfunktionen des Nervensystems, metabolische Veränderungen oder virale Infektionen verursacht werden. Dieser Schmerz kann sich in negativen und positiven sensorischen Symptomen äußern.

Zu den negativen Symptomen zählen Hypalgesie, Hypästhesie (verminderte Empfindlichkeit für Berührungsreize) und Pallhypästhesie (fehlendes Vibrationsgefühl). Diese Erscheinungen sind für den Patienten unangenehm und beeinträchtigen sein Allgemeinbefinden, sie sind aber per se nicht schmerzhaft.

Die positiven Symptome sind entweder reizunabhängige Dauerbeschwerden in Form von Kribbelparästhesien oder Dysästhesien oder reizabhängige Schmerzen wie Hyperalgesie und Hyperpathie (Überempfindlichkeit gegenüber Reizen).

Therapie basiert auf teilweise schlechter Datenlage

Neuropathische Schmerzen müssen kausal und symptomatisch behandelt werden. Zur kausalen Behandlung gehört die Therapie der zugrunde liegenden Erkrankung, wie z. B. Diabetes, Lebererkrankungen aufgrund von Alkoholabusus, virale Infektionen. Die symptomatische Therapie umfasst die eigentliche Schmerzbehandlung mit Analgetika, Antidepressiva, Antikonvulsiva und NMDA-Antagonisten.

Wie Dr. Tölle hervorhob, ist die Datenlage zur Effektivität einer symptomatischen Therapie teilweise unzulänglich. So liegen z. B. für den Einsatz von Antidepressiva, Carbamazepin oder Gabapentin entweder zu alte, zu wenig oder zu kleine Studien vor. Um definitive Aussagen über die Wirksamkeit einer Therapie machen zu können, fehlen umfangreiche, kontrollierte Studien, aus denen aussagekräftige Ergebnisse wie z. B. die NNT (Number needed to treat) zu entnehmen sind. Aus den bislang vorliegenden Studien geht für Gabapentin eine NNT von 3,7, für Opiate eine NNT von 3 und für Oxycodon eine NNT von 2,5 hervor.

Frühzeitiger Therapiebeginn bei Herpes zoster

Anhand eines Fallberichts erläuterte Dr. Tölle die Therapie einer akuten Zosterinfektion (Gürtelrose). Bei einer ausgeprägten Infektion und einem erhöhten Risikoprofil muss ein Virustatikum (Aciclovir, Famciclovir, Valaciclovir oder Brivudin) gegeben werden. Die frühzeitige antivirale Therapie verkürzt die Zeit bis zum Abheilen der Hauteffloreszenzen und reduziert die Dauer des Akutschmerzes. Wahrscheinlich kann durch die rechtzeitige Gabe eines Virustatikums auch die Häufigkeit einer postzosterischen Neuralgie gesenkt werden.

Bei schweren Verläufen sollte zusätzlich zur Entzündungshemmung Prednison verabreicht werden. In jedem Fall wird eine lokale Therapie mit Dermatika (z. B. Lidocain-Gel, Kryoanalgesie, Capsaicin-Salben etc.) durchgeführt.

Die analgetische Therapie umfasst eine Sympathikusblockade mit Lokalanästhetika oder eine ganglionäre lokale Opiatanalgesie sowie die Gabe nicht steroidaler Antirheumatika oder von Tramadol, Tilidin und Opioiden. Standardmäßig sollte auch Amitriptylin gegeben werden, da es zum einen die Akutbeschwerden verbessert und zum andern die Wahrscheinlichkeit einer später auftretenden postzosterischen Neuralgie signifikant senkt.

Der Nutzen von Antikonvulsiva (Carbamazepin) ist bislang noch weniger gut belegt. In jüngster Zeit werden vermehrt NMDA-Antagonisten (Amantadin, Ketamin und Dextromethorphan) eingesetzt, da man vermutet, dass die zentrale Sensitivierung ("Schmerzgedächtnis im Rückenmark") unter anderem über NMDA-Rezeptoren vermittelt wird.

Der Medikamenten-induzierte Kopfschmerz

Wie Dipl.-Psych. Günther Fritsche von der Neurologischen Universitätsklinik in Essen definierte, liegt bei täglicher oder zweimal täglicher Medikamenteneinnahme seit mehr als drei Monaten an mehr als 15 Tagen pro Monat ein Medikamenten-induzierter Kopfschmerz vor. Seine Symptome sind von der zugrunde liegenden Kopfschmerzerkrankung abhängig:

Patienten mit Kopfschmerz vom Spannungstyp missbrauchen in der Regel Kombinationsanalgetika und entwickeln einen dumpf drückenden Dauerkopfschmerz mit geringer tagesperiodischer Variation. Migränepatienten missbrauchen eher Ergotamine und in jüngster Zeit zunehmend Triptane. Insbesondere der Triptanmissbrauch führt zu einer Häufung der Attackenfrequenz, bis sich innerhalb relativ kurzer Zeit (wenige Monate bis Jahre) fast tägliche Attacken oder ein "migraine-like"-Status einstellen.

Wenig Daten zur Epidemiologie und Pathopysiologie

Zur Epidemiologie des Medikamenten-induzierten Kopfschmerzes liegen keine zuverlässigen Daten vor. Man schätzt jedoch, dass 1 bis 3% der Bevölkerung täglich ein Kopfschmerzmittel einnimmt. Die Betroffenen sind überwiegend weiblichen Geschlechts. Ebenfalls wenig Daten liegen zur Pathophysiologie und Pathopsychologie vor. Es ist auffällig, dass ein Medikamenten-induzierter Kopfschmerz nur bei Migräne und Spannungskopfschmerz, in sehr seltenen Fällen bei posttraumatischem Kopfschmerz und nie bei einem Cluster-Kopfschmerz auftritt. Dies legt die Vermutung einer zentralnervösen Disposition nahe. Diese Disposition und die regelmäßige Einnahme von Analgetika führen möglicherweise zu einer erhöhten Erregbarkeit zentraler Schmerz- und Gefäßrezeptoren. Es gilt als gesichert, dass der Zusatz psychotroper Substanzen wie Coffein oder Codein die Abhängigkeit fördert und dass ein Absetzen von Coffein Kopfschmerzen auslösen kann.

Unter pathopsychologischen Aspekten spielen bei der Entwicklung eines Medikamenten-induzierten Kopfschmerzes Erwartungsängste sowie ein Modelllernen ("Vorbild" der Medikamente-einnehmenden Eltern) innerhalb der Familie eine Rolle.

Gibt es Risikofaktoren?

Da nicht alle Patienten mit Kopfschmerzen einen Schmerzmittelabusus mit darauf folgendem Kopfschmerz entwickeln, stellt sich die Frage nach möglichen Risikofaktoren. Interessanterweise stehen Schwere der Erkrankung, Dauer, Häufigkeit und Dosis des Schmerzmittels in keiner Korrelation zu der Häufigkeit eines Schmerzmittelabusus. Psychologische Untersuchungen konnten hingegen andere Risikofaktoren ermitteln, und zwar

  • die Art der Schmerzverarbeitung,
  • eine überzogene Erwartungshaltung des Patienten,
  • die Konsultation mehrerer Ärzte (doctor hopping).

Schmerzen können auf ganz unterschiedliche Art und Weise verarbeitet werden. Steht der Patient seinem Schmerz hilflos-depressiv gegenüber, d. h. ist er niedergeschlagen, sozial zurückgezogen und den Alltagsanforderungen schlecht gewachsen, hat er ein erhöhtes Risiko, einen medikamentös-induzierten Kopfschmerz zu entwickeln. Bei rechtzeitigem Erkennen dieser Situation können Veränderungen der externen und internen Reizbedingungen hilfreich sein.

Ein weiterer Risikofaktor ist der Anspruch auf eine völlige Beschwerdefreiheit und die überzogene Erwartungshaltung des Patienten. Möglicherweise wird dieser übertriebene Anspruch auch durch bestimmte Werbestrategien der Pharmaindustrie genährt. Auch hier ist eine rechtzeitige Aufklärung des Patienten erforderlich.

Nach dem Entzug werden 40% rückfällig

Die Therapie eines Medikamenten-induzierten Kopfschmerzes kann ambulant oder stationär durchgeführt werden und richtet sich nach der Dauer der Erkrankung. Wenn der Medikamenten-induzierte Kopfschmerz seit weniger als zwei Jahren besteht, eine familiäre oder soziale Unterstützung gegeben ist und keine Begleitdepression vorliegt, kann der Entzug ambulant erfolgen. Dieser beginnt mit einer ausführlichen Patientenedukation. Dann folgt das abrupte Absetzen aller Medikamente. Im Bedarfsfall kann ein Antiemetikum verabreicht werden. Nach dem akuten Entzug wird eine strukturierte Kopfschmerzprophylaxe erstellt.

Bei länger bestehendem Medikamenten-induziertem Kopfschmerz oder zusätzlichen Risikofaktoren erfolgt der Entzug stationär. Nach der Patientenedukation werden ebenfalls alle Medikamente abrupt abgesetzt, im Bedarfsfall erhält der Patient ein Antiemetikum und Acetylsalicylsäure i.v. Die folgenden motivationsfördernden Gespräche, psychosozial unterstützenden Maßnahmen sowie eine medikamentöse Migräneprophylaxe sollen zum Therapieerfolg beitragen. Allerdings werden nach heutigen Schätzungen 40% aller entzogenen Patienten wieder rückfällig.

Psychosoziale Betreuung

Anhand eines Fallbeispiels erläuterte Fritsche die Notwendigkeit psychosozialer Interventionen nach dem akuten Entzug. Es handelte sich um eine "klassische" Patientin im Alter von 42 Jahren, die seit 25 Jahren an Migräne litt, mit durchschnittlich ein bis zwei Attacken pro Woche. CT, EEG und Doppler waren unauffällig. Zuerst nahm die Patientin täglich ein coffeinhaltiges Mischanalgetikum (Acetylsalicylsäure, Paracetamol, Coffein) ein, anschließend Ergotamin und vor dem Entzug gehäuft Sumatriptan. Es folgte ein stationärer Entzug. Ab dem zweiten Tag hatte die Patientin keinen Medikamenten-induzierten Kopfschmerz mehr. Am dritten Tag trat eine Migräneattacke mit voller Intensität auf, am sechsten Tag ein Rebound-Kopfschmerz mit milder Symptomatik. Am neunten Tag konnte die Patientin entlassen werden; sie erhielt Valproinsäure, Vitamin B und gegen akute Schmerzen Acetylsalicylsäure oder Paracetamol.

Nach einer Anamnese der beruflichen und familiären Situation wurden die notwendigen psychosozialen Interventionen ausgearbeitet, die folgende Punkte umfassten:

  • Aufbau einer Compliance für eine Ersatzmedikation,
  • Veränderung der äußeren Reizbedingungen (z. B. Aufgeben der Heimlichkeiten; Mitführen von nur einer Medikamentendosis),
  • Klärung der Lerngeschichte im Elternhaus (z. B. Identifikation des Leistungsdrucks),
  • Klärung der Lerngeschichte in der eigenen Familie,
  • Veränderung der inneren Reizbedingungen (z. B. Bewältigung von Risikofaktoren, Erstellung eines Problemindex, Nutzbarmachung sozialer Unterstützung, wöchentliche Vorausplanung von Risikosituationen).

Chronifizierung des Schmerzes - ein biologischer Lernprozess

Prof. Dr. Walter Zieglgänsberger vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München erläuterte die auf molekularbiologischer Ebene ablaufenden Vorgänge der Chronifizierung des Schmerzes. Durch häufig wiederkehrende schmerzhafte Reize wird die Entstehung, Weiterleitung und Verarbeitung neuronaler Signale verändert. Diese Veränderungen betreffen die Ionenkanäle in peripheren Endigungen der Nozizeptoren, präsynaptische Freisetzungsmechanismen für Überträgerstoffe, postsynaptische membrangebundene Rezeptor- und second-messenger-Systeme sowie die Genexpression in Nervenzellen. Diese Vorgänge lassen sich - stark vereinfacht - folgendermaßen darstellen:

Ein Schmerzreiz an der Peripherie wird über spezielle Sensoren, die Nozizeptoren, aktiviert. Die so erzeugten Nervenimpulse werden über C-Fasern oder Ad-Fasern übermittelt. Präsynaptisch kommt es zu einer Freisetzung von Glutamat und Substanz P. Der Ionenkanal öffnet sich, und es kommt zu einer Veränderung des Spannungspotenzials. Darüber hinaus werden verschiedene Rezeptorsysteme beeinflusst. Die Aktionspotenziale werden zum Rückenmark weitergeleitet.

Nicht nur ein mechanischer oder thermischer Schmerzreiz, sondern auch lokale Entzündungen können zu einer massiven Freisetzung von Substanz P und Glutamat führen. Ein weiterer Mechanismus bei der Entstehung von Schmerzen ist das so genannte "Sprouting" oder Aussprossen von Nervenfasern. Durch z. B. eine mechanische Verletzung beginnen Ab-Fasern auszusprossen und einen Kontakt zu anderen Fasern herzustellen. Dieses Aussprossen der Nervenzellen und die Berührung mit anderen Nervenzellen kann eine massive Schmerzempfindlichkeit verursachen, die dazu führt, dass bereits leichte Berührungen als Schmerz empfunden werden.

Spontan aktiv Neuronen

Viele wiederkehrende Reize können zu anhaltend spontanen Entladungen des Neurons und zu einer Potenzierung der Erregungsübertragung führen ("Wind up"). Das heißt, für die Entladungstätigkeit ist der primäre Reiz, also der Schmerzimpuls von außen nicht mehr nötig. Auf intrazellulärer Ebene führt die ständige Reizung zu einer Kaskade verschiedener Vorgänge (u. a. zu einer Transmitterfreisetzung), die letztendlich Veränderungen im Genom und eine Genexpression induzieren. Langanhaltende, ständig wiederkehrende Reizungen führen also zu strukturellen Veränderungen ("Information wird zu Struktur umgesetzt").

Neue Therapieansätze

Die Erkenntnisse zur Chronifizierung des Schmerzes erschließen neue pharmakotherapeutische Ansätze. So lässt sich z. B. mit Hilfe von Lokalanästhetika oder Natrium-Kanal-Blockern die afferente Aktivierung von Nozizeptoren blockieren oder reduzieren. Ein weiterer Therapieansatz ist die Stabilisierung des Membranpotenzials durch die selektive Öffnung neuronaler Kalium-Kanäle oder die Gabe von Antidepressiva, Antiepileptika oder retardierten Opioiden.

Folgende Arzneistoffe besitzen interessante pharmakologische Wirkungen:

  • Flupirtin öffnet den Kalium-Kanal, dadurch wird das Spannungspotenzial verändert, und die Genexpression sinkt langfristig ab.
  • Carbamazepin wirkt an den Calcium-Kanälen und NMDA-Rezeptoren und führt zu einer Hypopolarisation in der Zelle. Glutaminerge Prozesse werden abgeschwächt. Um einen Therapieerfolg zu erzielen, ist eine längere Einnahme erforderlich. Sinnvoll erscheint eine Kombinationstherapie mit Flupirtin.
  • Gabapentin verändert ebenfalls die Permeabilität für Calcium, sodass weniger Calcium in die Zelle gelangen kann. In der Folge wird dadurch die Genexpression abgeschwächt.
  • Antidepressiva der älteren Generation, vor allem Amitriptylin, sind Natrium-Kanal-Blocker und können die afferente Aktivierung von Nozizeptoren blockieren.
  • Glutamatblocker wie Ketanest oder Memantin greifen an verschiedenen NMDA-Rezeptoren an und führen zu einer verminderten Freisetzung von Glutamat.
  • Opiate sind - entgegen weitläufiger Meinung - auch bei neuropathischem Schmerz wirksam. Sie beeinflussen die Genexpression, drosseln die Glutamatfreisetzung und dämpfen die neuronale Aktivität.
  • Magnesium kann einige NMDA-Rezeptoren blockieren und möglicherweise die Glutamatfreisetzung abschwächen. Über den Einsatz von Magnesium bei chronischem Schmerz besteht zur Zeit noch kein Konsens; eine Therapie mit einer adjuvanten Magnesiumgabe kann ausprobiert werden.

Therapie erfordert Geduld

Chronische Schmerzen führen zu molekularbiologischen Veränderungen, die nur langsam rückgängig gemacht werden können. Unter Umständen ist eine langfristige Therapie erforderlich, die dem Patienten anfänglich nur wenig Linderung verschafft, zumal das Medikament unter Umständen in einer Dosierung verabreicht wird, die zwar schmerzlindernd, aber nicht schmerzstillend ist.

Um den Therapieerfolg nicht zu gefährden, muss der Patient ausführlich über die Natur seiner Erkrankung und die Notwendigkeit einer längerfristigen Medikamenteneinnahme aufgeklärt werden - eine Aufgabe, bei der der Apotheker eine wichtige Rolle spielen kann.

Der Schmerzpatient stand im Mittelpunkt des Fortbildungsseminars der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg, das am 8. und 9. April in St. Blasien-Menzenschwand stattfand. Wir berichten über die dem Schmerz zugrunde liegenden neurobiologischen und pathophysiologischen Vorgänge und ausgewählte Aspekte der Schmerztherapie.

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