Arzneimittel-Entwicklung

B. HellwigSchneller zu besseren Wirkstoffen - High-T

Die heute auf dem Markt befindlichen Arzneimittel richten sich gegen rund 500 bekannte Angriffsziele im menschlichen Körper. Dazu gehören Rezeptoren, Ionenkanäle und Enzyme. Diese Ziele wurden in mühevoller Kleinarbeit identifiziert und die dazu passenden Arzneimittel häufig durch Zufall gefunden. Der Prozess der Wirkstoffsuche könnte sich nun durch die Entwicklung neuer hochmoderner Methoden der Arzneimittelforschung und -entwicklung drastisch beschleunigen: Erwartet werden 3000 bis 10 000 neue Zielmoleküle, an denen Arzneistoffe wirken können.

Neue Wirkstoffe werden heute in einer weltumspannenden Zusammenarbeit von Experten aus Industrie und Hochschulen unter Ausnutzung modernster Methoden entwickelt. Der Forscher in seinem Labor, der nach langem Literaturstudium und reiflichen Überlegungen einen genialen Ansatz zu einem neuen Arzneimittel findet, hat als Zukunftsmodell ausgedient. Einen zweiten Felix Hoffmann, der in mühevoller Kleinarbeit die Acetylsalicylsäure entwickelte, wird es mit den neuen Techniken nicht mehr geben. Die Suche nach neuen Arzneimitteln wird weder der Empirie noch dem Zufall überlassen, sondern verläuft sehr zielgerichtet.

Effizientes Zusammenspiel modernster Technologien

In den letzten zehn Jahren wurden in einer regelrechten Innovationsexplosion neue Spitzentechnologien entwickelt, mit denen erstmals eine Wirkstoffsuche im großen Stil möglich wird. Dazu gehören die neuen Methoden der Genomanalyse, der Pharmakogenetik, der kombinatorischen Chemie und des Hochdurchsatzscreenings. Mit diesen Methoden besteht heute die Möglichkeit, eine bis vor kurzem noch undenkbar scheinende Zahl von Verbindungen herzustellen und diese dann in sehr kurzer Zeit an geeigneten Modellen zu testen.

Die neuen Technologien steigern Effizienz und Produktivität der industriellen Forschung: Während die Firma Bayer in den Jahren 1992 bis 1996 durchschnittlich fünf Entwicklungskandidaten für neue Arzneimittel jährlich hervorbrachte, steigt die Zahl seit 1998 schnell an. Im Jahr 2000 werden bereits zehn Entwicklungskandidaten erwartet, und 2004 sollen es dann 20 sein.

Das menschliche Genom ist fast vollständig bekannt

Die Schlüsseltechnologie für diesen Fortschritt ist die Gentechnik, die sich derzeit unglaublich rasch weiterentwickelt. Das humane Genom, das aus 100 000 bis 150 000 Genen besteht, wird etwa Mitte dieses Jahres vollständig aufgeklärt sein; dann sind alle Gene des Menschen bekannt. Das Projekt wurde 1990 unter dem Namen "HUGO" (humanes Genomprojekt) begonnen. Die nächste Aufgabe der Forscher ist es, die Funktion der Gene zu entschlüsseln und damit auch mögliche Ziele für die Arzneistoffentwicklung zu identifizieren.

3000 bis 10 000 neue Targets sind denkbar

Von den heute bekannten rund 30 000 Erkrankungen des Menschen sind etwa 100 bis 150 für die Entwicklung neuer Arzneistoffe relevant. Die meisten dieser Erkrankungen sind zumindest teilweise genetisch determiniert, und in den meisten Fällen tragen etwa fünf bis zehn Gene zu der Erkrankung bei. Beispiele für solche multifaktoriellen Erkrankungen sind Bluthochdruck und Typ-II-Diabetes. Multipliziert man die Zahl der relevanten Erkrankungen (100) mit der der wichtigsten krankheitsassoziierten Gene (5 bis 10), ergeben sich 500 bis 1000 Gene, deren biochemische Produkte als pharmakologische Angriffspunkte in Frage kommen.

Nimmt man nun an, dass jedes dieser fünf bis zehn Genprodukte mit drei bis zehn anderen Proteinen in der Signalkette interagiert, die wiederum selbst als Angriffspunkt für Arzneimittel dienen können, ergeben sich 3000 bis 10 000 neue Zielmoleküle, so genannte Targets, für die Wirkung neuer Pharmaka.

Riesige Datenmengen in vernetzten Computern

Um neue Targets zu finden, werden so genannte cDNA-Bibliotheken erstellt. Sie enthalten eine molekulare Kopie der benutzten Erbinformation in der jeweiligen Zelle. Für die Sequenzierung und Entschlüsselung der Erbinformation werden moderne hochautomatisierte Sequenziermaschinen benötigt. Die Millionen bekannten Sequenzelemente werden mit Hilfe der Bioinformatik in der richtigen Reihenfolge angeordnet. Hierfür sind Rechenkapazitäten notwendig, wie sie noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren. Damit die riesigen Datenmengen bewältigt werden können, sind weltweit mehr als 350 genomische Datenbanken miteinander vernetzt.

Die Information über die Sequenz allein hilft aber nicht weiter: Sie lässt noch keine Aussagen über die Funktionen und das Zusammenspiel der verschiedenen Gene zu. Wenn die Sequenz bekannt ist, müssen deshalb wiederum mit Hilfe der Bioinformatik Muster identifiziert werden, die es ermöglichen, bestimmte Gene einer Klasse oder einer Funktion zuzuordnen. Damit sollen für die Wirkstoffsuche interessante Gene herausgefiltert werden.

Ein Target für die Arzneistoffsuche

Wenn auf diese Weise ein potenzielles Ziel, ein Target, für die Arzneistofffindung ausgewählt wurde, wird aufgeklärt, in welchen Zellen und Geweben das entsprechende Gen vorkommt, in welchem Ausmaß das zugehörige Protein hergestellt (exprimiert) wird und ob Unterschiede zwischen gesundem und krankem Gewebe vorhanden sind. Dazu werden unter anderem DNA-Sonden auf DNA-Chips eingesetzt, mit denen spezifische Gensequenzen identifiziert werden können. Besitzt das untersuchte Genprodukt Eigenschaften für eine erfolgreiche Substanzfindung, verfügt man über ein potenzielles Ziel, ein Target, für die Arzneistoffsuche. Das kann beispielsweise ein Rezeptor, ein Enzym oder ein Ionenkanal sein.

Hochleistungsscreening: vom Gen zum Wirkstoff

Für das molekulare Target wird dann ein Test entwickelt, in dem mit den Methoden des Hochleistungsscreenings in kurzer Zeit Tausende von Substanzen auf ihre Wirksamkeit hin getestet werden können. Die langwierige Arbeit der Pharmakologen hat sich durch die neuen Methoden um ein Vielfaches beschleunigt, denn heute wird nicht mehr von Anfang an im Tierversuch oder an Organsystemen getestet. Seit den 80er Jahren finden die Prüfungen direkt an den isolierten Zielstrukturen, den pharmakologischen Targets, oder an lebenden Zellen statt.

Konnten früher etwa 100 Substanzen pro Labor und Tag auf ihre Wirksamkeit geprüft werden, erlaubt das Hochleistungsscreening die Testung von bis zu 200 000 Substanzen täglich, und eine weitere Erhöhung dieser Zahl wird angestrebt. Diese Entwicklung ist unter anderem durch die Miniaturisierung der nasschemischen Ansätze möglich geworden.

Heute beträgt das Reaktionsvolumen in einer 1536-Loch-Mikrotiterplatte 5 ml, das ist weniger als die Größe eines Streichholzkopfes. Für diese Reaktionsplatten benötigt man passende Pipettierroboter, welche die Lösungen parallel und präzise in den Löchern absetzen können. Anschließend müssen die Tests mit der entsprechenden Software ausgewertet werden. Ein Beispiel für einen solchen Test ist die Koppelung des Targets an die Luciferase, ein Enzym des Glühwürmchens. Wenn eine Substanz im Testsystem positiv reagiert und das Target aktiviert, wird dies durch ein Leuchten sichtbar.

Kombinatorische Chemie: unzählige neue Testsubstanzen

Doch die besten Angriffsziele für neue Pharmaka nützen wenig, wenn die Chemie nicht Schritt halten kann und genügend Testsubstanzen liefert. Dazu wurden in den letzten Jahren effiziente Methoden der kombinatorischen Chemie entwickelt, mit denen eine große Anzahl von verschiedenen Molekülen in kurzer Zeit hergestellt werden kann. Dabei wurde die Zahl der zu untersuchenden Testsubstanzen im Vergleich zu früher vervielfacht. Mit den neuen Methoden lassen sich in kurzer Zeit unzählige kleine und mittelgroße Wirkstoffe synthetisch im Labor herstellen und vorhandene durch Molekülvariationen verändern. Diese Reaktionen geschehen ebenfalls im Mikromaßstab.

Weiterentwicklung und Optimierung

Wenn im Hochleistungsscreening ein Kandidat für einen neuen Wirkstoff gefunden wurde, wird die Leitstruktur in Zusammenarbeit mehrerer Forscherteams mit Hilfe der kombinatorischen Chemie weiterentwickelt, was im Durchschnitt zwei Jahre dauert. Die Aufgabe des medizinischen Chemikers besteht darin, ein Molekül zu synthetisieren, das zur biologischen Zielstruktur passt wie ein Schlüssel zu seinem Schloss. Die unzähligen abgewandelten Wirkstoffe werden wieder an zahlreichen Screeningmodellen getestet und so laufend optimiert. Dabei werden vor allem Wirkspezifität, Wirkstärke und Wirkdauer untersucht.

Wie umfangreich diese Arbeit ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Anzahl der strukturellen Variationsmöglichkeiten unvorstellbar groß ist und bereits kleine Veränderungen am Molekül drastische Effekte auf die biologische Wirkung hervorrufen können. Von einem mittleren größeren Wirkstoffmolekül mit einer molekularen Masse von 750 sind bereits 3 x 1026 Abwandlungen denkbar, das ist mehr als alle Sterne im Universum (etwa 1020).

Deshalb ist es wichtig, die Synthesestrategie intelligent zu planen. Beispielsweise sollten die pharmakophoren Gruppen, die an das Zielmolekül binden, bekannt sein, und aus den Screeningdaten müssen die richtigen Analogieschlüsse gezogen werden.

Mit Pharmacogenomics gezielter therapieren

Selbst wenn die Arzneimittel-Entwicklung gut gelungen ist, können bei der Anwendung am Menschen zahlreiche unvorhergesehene Probleme auftreten. Je nach der genetischen Ausstattung reagieren unterschiedliche Menschen unterschiedlich auf dieselben Arzneimittel. Das kann zum einen an der Verstoffwechselung des Arzneimittels liegen. Außerdem kann ein und dieselbe Krankheit bei verschiedenen Menschen durchaus unterschiedliche molekulare Ursachen haben.

Patienten mit denselben Symptomen können völlig anders auf ein und dasselbe Arzneimittel reagieren. Benötigt wird ein maßgeschneidertes Arzneimittel, das für einen Menschen in seiner Situation optimal passt. Hier hilft die Pharmakogenomik weiter, die durch die Verschmelzung von Pharmakogenetik und den neuen Techniken der Genomanalyse entstanden ist. Mit Hilfe dieser Wissenschaft wird untersucht, wie die Gene eines Patienten die Reaktion auf ein Arzneimittel beeinflussen. Wenn man die interindividuellen Unterschiede auf molekularer Ebene versteht, wird es möglich, Pharmaka zu entwickeln, die speziell auf die Bedürfnisse eines bestimmten Patienten zugeschnitten sind.

Mit Hilfe von biologischen Tests können die Wirkungen vorausgesagt werden, bevor ein Patient ein Medikament zu sich nimmt. Beispielsweise ist der monoklonale Antikörper Herceptin gegen Brustkrebs nur bei den Frauen wirksam, die das Her2-Gen überexprimieren. Diese Patientinnen sollten vor der Therapie mit einem Test identifiziert werden. Mit biologischen Markern wird man außerdem Prädispositionen für bestimmte Erkrankungen erkennen können.

Pharmakogenomische Analysen sind vor allem während des präklinischen Entwicklungsprozesses sehr interessant. So können Arzneimittel für eine möglichst breite Bevölkerungsgruppe und nicht nur für einen speziellen Genotyp entwickelt werden. Stehen zum Beispiel verschiedene potenzielle Arzneimittel-Targets zur Auswahl, wird man im Hochleistungsscreening dasjenige einsetzen, das die geringste Variabilität in einer Bevölkerungsgruppe aufweist. Wenn das Target ausgewählt wurde, können die Forscher dann die Verbindungen finden, die gegen alle Target-Subtypen die beste Wirkung zeigen.

Zur Beurteilung von möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen ist auch der Abbauweg einer Substanz wichtig. Am besten untersucht ist die Enzymfamilie der Cytochrome P450, die die Mehrzahl aller Arzneimittel verstoffwechseln. Wird ein Arzneimittel von einigen Patienten zu rasch abgebaut, kann es keine Wirkung entfalten; wird es dagegen zu langsam abgebaut, kann es kumulieren und unerwünschte Wirkungen hervorrufen.

Quelle: Dr. Martin Bechem, Wuppertal; Dr. Franz-Josef Bohle, Leverkusen; Prof. Dr. Wolf-Dieter Busse, Berkeley/USA; Dr. Klaus Froebel, Wuppertal; Prof. Dr. Wolf Hartwig, Wuppertal; Dr. Werner Kroll, Wuppertal; Dr. Stefan Lohmer, Mailand/Italien; Dr. Gunnar Weikert, Leverkusen; Bayer Pharma Presseseminar: "Mit High-Tech zu neuen Medikamenten", 16. bis 18. März 2000, Mayschoß im Ahrtal, veranstaltet von Bayer AG, Leverkusen

Die heute auf dem Markt befindlichen Arzneimittel richten sich gegen rund 500 bekannte Angriffsziele im menschlichen Körper. Dazu gehören Rezeptoren, Ionenkanäle und Enzyme. Diese Ziele wurden in mühevoller Kleinarbeit identifiziert und die dazu passenden Arzneimittel häufig durch Zufall gefunden. Der Prozess der Wirkstoffsuche könnte sich nun durch neue hochmoderne Methoden der Arzneimittelforschung und -entwicklung drastisch beschleunigen: Erwartet werden 3000 bis 10000 neue Zielmoleküle, an denen Arzneistoffe wirken können.

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