Therapie

B. Hellwig:Das Pferd als Therapeut - Hippotherapie b

Es sieht zwar nicht sehr spektakulär aus: Ein Patient wird etwa 20 bis 30 Minuten im Schritt unter Anleitung einer Krankengymnastin von einem Pferd getragen. Dennoch passiert bei dieser langsamen Art der Fortbewegung sehr viel. Der Patient muss pro Minute etwa 100 komplexe Bewegungsreize verarbeiten und kompensieren. Die Wirkungen dieser so genannten Hippotherapie übertreffen die Wirkungen der konventionellen Krankengymnastik bei zahlreichen Erkrankungen deutlich.

Die Hippotherapie, die rein medizinische Nutzung des Pferdes, wird bei neurologischen Bewegungsstörungen eingesetzt, wie sie beispielsweise durch eine Multiple Sklerose, Schädel-Hirn-Verletzungen oder einen Schlaganfall ausgelöst werden können. Durch diese besondere Therapieform wird die übliche Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage ergänzt und erweitert.

Die Hippotherapie wird prinzipiell vom Arzt verordnet und von einer speziell dafür ausgebildeten Physiotherapeutin durchgeführt. Das Therapiepferd wird eigens für diese anspruchsvolle Aufgabe ausgewählt und ausgebildet. Es wird von einem Pferdeführer, meist am Langzügel, im Schritt und auf genaue Anweisung der Physiotherapeutin geführt. Eine zusätzliche Hilfsperson sichert den Patienten von der anderen Seite. Zum Aufsitzen auf das Pferd wird für Rollstuhlfahrer eine stabile Rampe benötigt. Die Behandlungszeit auf dem Pferd beträgt etwa 20 Minuten, abhängig von der Leistungsfähigkeit des Patienten. Die Dauer der Behandlung wird von der Physiotherapeutin festgelegt.

Die Schrittbewegungen werden auf den Patienten übertragen

Das therapeutisch wirksame Element bei der Hippotherapie sind die dreidimensionalen Schwingungen, die auf den Patienten einwirken. Das Pferd überträgt im Schritt auf den Rumpf des aufrecht sitzenden Patienten etwa 90 bis 100 Schwingungsimpulse pro Minute; das ist mit dem Bewegungsablauf beim Gehen eines durchschnittlichen Erwachsenen vergleichbar. Der Patient sitzt locker und passiv auf dem Pferd und passt sich reaktiv den Schwingungen des Pferderückens an. Hierin unterscheidet sich die Hippotherapie grundsätzlich vom aktiven sportlichen Reiten. Bei der Hippotherapie wirkt der Patient nicht aktiv auf das Pferd ein.

Schwingungen trainieren Muskeln und Gleichgewicht

Weil die Schrittfrequenz eines Warmblutpferdes der des Menschen in etwa entspricht, werden beim Sitzen auf dem Pferd gangtypische Vorwärtsbewegun- gen und Haltungsreaktionen geübt. Diese Bewegungen können viele schwer motorisch gestörte Menschen auf keine andere Weise mehr erfahren.

Da das Pferd sich und das Reitergewicht ununterbrochen mit zahlreichen feinsten Bewegungen ins Gleichgewicht bringen muss, muss auch der Patient ständig auf die veränderten Bewegungen reagieren. Vom Patienten werden so laufend kleinste Korrekturen seiner Körperhaltung gefordert. Dadurch werden die Muskeln trainiert, und der Muskeltonus reguliert sich. Dabei kann der Patient auf ein bereits gespeichertes und unbewusst ablaufendes Bewegungsmuster zurückgreifen, Muskelfunktionen und Bewegungsabläufe werden durch den Zugriff wieder erlernt, verbessert oder erhalten, Balance und Gleichgewicht werden verbessert und trainiert.

Laufen auf "geliehenen" Beinen

Der Patient lernt, seinen Rumpf aufzurichten und seinen Kopf zu kontrollieren, Becken und Hüften werden mobilisiert. Die Bewegungen werden symmetrischer, Wirbelsäulenfehlhaltungen werden korrigiert, und der Schultergürtel lockert sich. Aber nicht nur die Muskeln werden angesprochen. Durch das Eingehen auf die Bewegungen des Pferdes verbessern sich Koordination und Geschicklichkeit, die Wahrnehmungen der Patienten verstärken sich, und auch die Atmung und die Sprache können positiv beeinflusst werden.

Wie keine andere Behandlungsmethode bietet die Hippotherapie Menschen mit neurologischen Bewegungsstörungen, die kaum noch oder nicht mehr gehen können, eine harmonische Bewegung im Raum, in vertikaler und gangähnlicher Körperhaltung und in einem komplexen Bewegungsmuster, das wie der physiologische Gang abläuft. besonders wichtig ist diese Bewegungserfahrung für Rollstuhlpatienten, das Pferd "leiht" dem Patienten sozusagen seine Beine. Und natürlich ist auch der psychische Effekt wichtig: Die Motivation der oft schwer betroffenen Patienten verbessert sich durch den Umgang mit den Tieren.

Unterschiedliche neurologische Ursachen

Die Hippotherapie eignet sich für viele Patienten mit Bewegungsstörungen. Diese Störungen können die unterschiedlichsten neurologischen Ursachen haben. Sie können durch Schädel-Hirn-Traumen, zerebrale Insulte oder raumfordernde Prozesse des ZNS entstehen oder die Folge frühkindlicher, angeborener oder erworbener Hirnschädigungen sein.

Die Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose führt im Lauf der Jahre unter anderem zu zunehmenden Bewegungsstörungen mit den unterschiedlichsten Symptomen. Extrapyramidale Bewegungsstörungen treten bei Tortikollis ("Schiefhals") und Torsionsdystonien (Erkrankungen mit Störung der Regulation des Muskeltonus und der Bewegungsabläufe) sowie beim Morbus Parkinson auf.

Muskeltonus ist verändert

Bei den meisten neurologischen Bewegungsstörungen ist der Muskeltonus verändert. Dazu gehören:

  • Hypertone Symptome. Hierbei kommt es zu einer erhöhten Grundspannung der Muskeln, beispielsweise bei einer spastischen Hemi-, Di- oder Tetraparese. Eine Hemiparese tritt typischerweise nach einem Schlaganfall auf, bei der Diparese, einer Form der Querschnittslähmung, sind beide Beine betroffen, bei der Tetraparese alle vier Extremitäten. Rigidität, eine Starre und/oder Steife der Muskeln, kann nach einer Myositis und beim Morbus Parkinson auftreten. Zu fehlerhaften Spannungszuständen der Muskeln (Dystonien) kommt es zum Beispiel bei Tortikollis und bei Torsionsdystonien.
  • Hypotone Symptome entstehen durch eine verminderte Grundspannung der Muskeln. Die Ursachen können beispielsweise eine Neuritis oder eine Polioerkrankung sein.
  • Athetosen sind wurmförmige, ausfahrende Bewegungen, die oft mit einer verwaschenen Sprache einhergehen und einseitig oder beidseitig auftreten können. Die betroffenen Menschen sind meistens sehr intelligent.
  • Bei den Ataxien ist die Bewegungskoordination gestört, es kann beispielsweise zu einem breitbeinigen Schwanken kommen.
  • Hyperkinesen sind übermäßige unwillkürliche Bewegungen wie Zuckungen und Zittern. Hyperkinetische Dystonien können zum Beispiel als Folge einer Enzephalitis auftreten.
  • Hypokinesen mit einem Mangel an Willkürmotorik können beispielsweise beim Morbus Parkinson auftreten.

    Nicht bei Pferdehaarallergie

    Nicht geeignet ist die Hippotherapie bei unauflösbarer Spastik, ungenügender Kontrolle der Kopfhaltung, entzündlichen Veränderungen in Knochen und Gelenken, fixierten Wirbelsäulenfehlhaltungen (z. B. Morbus Bechterew, Skoliose > 40°), Osteoporose, Hüftluxationsgefahr, schwerer Hypertonie, Marcumar-Patienten wegen der Thrombose- und Emboliegefahr sowie bei schlecht eingestellten Anfallsleiden. Auch sind natürlich eine unüberwindliche Angst vor Pferden und eine Pferdehaarallergie ein Hindernis für die Hippotherapie.

    Kastentext: Therapeutisches Reiten

    Therapeutisches Reiten ist ein Sammelbegriff, der sich in drei Bereiche aufgliedert:

  • Beim Behindertenreitsport wird das Pferd sportlich verwendet.
  • Beim heilpädagogischen Reiten und Voltigieren wird das Pferd pädagogisch eingesetzt.
  • Bei der Hippotherapie wird das Pferd zu medizinischen Zwecken genutzt.

    Kastentext: Ursachen für Bewegungsstörungen

  • Schädel-Hirn-Traumen
  • Infantile Zerebralparesen (frühkindliche Hirnschädigungen, angeboren oder erworben)
  • Multiple Sklerose
  • Querschnittssymptomatik
  • Zerebrale Insulte
  • Raumfordernde Prozesse des ZNS
  • Extrapyramidale Bewegungsstörungen (Tortikollis, Torsionsdystonien, Morbus Parkinson)
  • Genetische Syndrome

    Kastentext: Einsatzmöglichkeiten der Hippotherapie

  • Hypertone Symptome (erhöhte Grundspannung)
  • Spastische Hemi-, Di-, Tetraparese
  • Rigidität
  • Dystonien
  • Hypotone Symptome (verminderte Grundspannung)
  • Neuritis
  • Polio
  • Athetosen (ausfahrende Bewegungen)
  • Ataxien (gestörte Koordination)
  • Hyperkinesen (übermäßige unwillkürliche Bewegungen)
  • Hypokinesen (Mangel an Willkürmotorik)
  • Mischformen

    Kastentext: Weitere Informationen

    Weitere Informationen über das Thema "Therapeutisches Reiten" erhalten Sie bei: Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e. V. Freiherr-von-Langen-Straße 13 48321 Warendorf Tel. 02581/6362-194 Internet: www.pferd-aktuell.de

    Quelle: Cornelia Plöger, Stephanie Tetzner, Sabine Sommer, Monika Keppler-Ortloff (Krankengymnastinnen); Seminar für Therapeutisches Reiten: "Eigenständige Wirkprinzipien der Hippotherapie im Vergleich zur konventionellen Krankengymnastik", Leonberg, 4. Februar 1999.

  • Es sieht zwar nicht sehr spektakulär aus: Ein Patient wird etwa 20 bis 30 Minuten im Schritt unter Anleitung einer Krankengymnastin von einem Pferd getragen. Dennoch passiert bei dieser langsamen Art der Fortbewegung sehr viel. Der Patient muss pro Minute etwa 100 komplexe Bewegungsreize verarbeiten und kompensieren. Die Wirkungen dieser so genannten Hippotherapie übertreffen die Wirkungen der konventionellen Krankengymnastik bei zahlreichen Erkrankungen deutlich.

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