Arzneimittel und Therapie

Neuraminidase-Hemmer: Eine neue Waffe gegen Grippe?

Jahr für Jahr erkranken allein in den USA 10 bis 20% der Bevölkerung an Grippe. 20000 Todesfälle gehen dort jährlich auf das Konto von Influenza-Komplikationen. Zudem besteht jederzeit die Gefahr einer weltweiten Grippeepidemie. Ein wirksames Mittel zur Prophylaxe und Therapie der Grippe, der Neuraminidase-Hemmer Zanamivir, steht voraussichtlich ab der nächsten Wintersaison zur Verfügung.


Gesundheitsexperten warnen, dass jederzeit eine weltweite Grippeepidemie ausbrechen kann. Bereits viermal in diesem Jahrhundert haben neue Influenza-Virusstämme zu großen Epidemien geführt:

  • zur spanischen Grippe im Jahr 1918, die 20 Millionen Menschen das Leben kostete,
  • zur asiatischen Grippe im Jahr 1957,
  • zur Hongkong-Grippe im Jahr 1968 und
  • zur russischen Grippe im Jahr 1977.
  • Im Jahr 1997 befiel dann in Hongkong ein neuer gefährlicher Influenza-Virusstamm 18 Personen und führte zum Tod von sechs Menschen. Die Infektionsquelle war Geflügel. Durch die rasche Reaktion der Behörden, die sämtliches Geflügel in Hongkong vernichten ließen, wurde eine Ausbreitung des neuen Virusstamms verhindert.

Die Entwicklung eines neuen Impfstoffs dauert sechs Monate


Wenn das nächste Mal ein bislang bei Menschen unbekannter Influenza-Virusstamm auftaucht, kann jedoch die Katastrophe eintreten: 30% der Erdbevölkerung könnten an der Virusgrippe oder an sekundären bakteriellen Infektionen sterben, bevor ein Impfstoff bereitgestellt worden ist. Immerhin dauert es sechs Monate, bis ein Impfstoff gegen eine neue Grippevariante produziert, getestet und geliefert werden kann.
Auf dem Gebiet der Grippeimpfstoff-Entwicklung werden derzeit große Anstrengungen unternommen. Beispielsweise versucht man rekombinante Impfstoffe in Viren herzustellen, die in Kulturzellen rasch wachsen. Damit könnte man die Produktionszeit auf zwei bis drei Monate verkürzen.

Neuraminidase-Hemmstoffe verhindern Virusausbreitung


Die größten Hoffnungen im Kampf gegen immer neue Influenza-Virusstämme setzt man jedoch auf eine neue Arzneistoffgruppe, die sowohl in der Prophylaxe als auch in der Behandlung von Grippeinfektionen Erfolg verspricht: die Neuraminidase-Hemmstoffe. Am weitesten fortgeschritten in der klinischen Prüfung sind Zanamivir (vorgesehener Handelsname: Relenza(r)) und GS 4071 (Prodrug: GS 4104). Sie greifen direkt am Influenza-Virus an. Indem sie das Virusenzym Neuraminidase blockieren, verhindern sie die Virusausbreitung im Körper.

Gut verträglich und keine Resistenzentwicklung


Gegenüber den bereits bekannten Grippemitteln Amantadin und Rimantadin (in Deutschland ist nur Amantadin zugelassen), die am Ionenkanalprotein M2 angreifen, scheinen Neuraminidase-Hemmer drei wesentliche Vorteile zu haben:

  • Sie wirken nicht nur gegen Influenza-Viren vom Typ A, sondern auch gegen Viren vom Typ B.
  • Sie zeigten bisher eine gute Verträglichkeit. Neurologische Nebenwirkungen wie unter Amantadin und Rimantadin wurden nicht beobachtet.
  • Klinisch bedeutsame Resistenzen scheinen - wenn überhaupt - nur in viel geringerem Ausmaß aufzutreten.

Influenza-Viren sind hochinfektiös


Influenza-Viren haben eine hohe Affinität zur Epithelzellauskleidung der Atemwege. Das hochinfektiöse Virus wird durch die Luft übertragen und vermehrt sich im Atemwegsepithel. Typischerweise kommt es ein bis zwei Tage nach der Infektion zu charakteristischen Symptomen, wie Schnupfen, Husten, Schüttelfrost, Fieber, Schmerzen, Müdigkeit und Appetitverlust. Im Gegensatz zur reinen Erkältung, die auf die oberen Atemwege begrenzt bleibt, sind viele dieser Symptome systemischer Natur.

Influenza-Viren vom Typ A, B und C


Im Jahr 1933 wurde erstmals ein Influenza-Virusstamm bei einem Menschen isoliert. Heute teilt man Influenza-Viren in drei Typen ein, A, B und C, von denen nur A und B Erkrankungen auslösen. Typ A und B unterscheiden sich in bestimmten inneren Proteinen.
Von Typ-A-Influenza-Viren sind 15 Hämagglutinin- und neun Neuraminidase-Subtypen bekannt. Die Viren werden entsprechend bezeichnet, z.B. H1N1, H2N2. Hämagglutinin und Neuraminidase sind Glykoproteine, die die Virusoberfläche wie Stacheln durchdringen. Sie zählen zu den wichtigsten Oberflächenantigenen der Influenza-Viren und übernehmen zugleich im Lebenszyklus der Viren entscheidende Aufgaben (siehe unten).
Typ-B-Influenza-Viren sind einheitlicher. Sie enthalten Hämagglutinin und Neuraminidase nur in einer festgelegten Form, wobei die Aminosäuresequenzen allerdings von Stamm zu Stamm auch leicht variieren können. Typ-B-Influenza-Viren infizieren nur Menschen, während manche Typ-A-Viren Schweine, Pferde, Seehunde, Wale oder Vögel befallen. Für alle großen Grippeepidemien dieses Jahrhunderts waren Typ-A-Viren verantwortlich.

Lebenszyklus eines Grippevirus


Trotz dieser Unterschiede haben Typ-A- und -B-Influenza-Viren praktisch denselben Lebenszyklus: Damit ein Virus in eine menschliche Zelle eindringen kann, muß ein Hämagglutinin-Molekül auf der Virusoberfläche an ein Sialinsäure-Molekül auf der Zelloberfläche binden. Erst dann wird das Virus in einem gesonderten Bläschen, einem Endosom, in die menschliche Zelle aufgenommen. Rasch werden die Virusgene (RNA-Stränge) und die inneren Virusproteine freigesetzt und gelangen in den Zellkern, von wo aus sie die Produktion von Virusgenen und -proteinen steuern. Diese werden zu neuen Viruspartikeln zusammengesetzt, die aus der Wirtszelle austreten.
Die neuen Viruspartikel enthalten auf ihrer Oberfläche allerdings Sialinsäure, die sofort an das Hämagglutinin benachbarter Viren binden würde und so die Partikel an Ort und Stelle festkleben würde. Erst das Enzym Neuraminidase, das Sialinsäure spaltet, ermöglicht es den neuen Viruspartikeln, frei zu wandern, so dass sich die Infektion im menschlichen Körper ausbreiten kann.
Neben ihrer Funktion bei der Virusausbreitung katalysiert die Neuraminidase auch die Auflösung des Mucins an den Schleimhäuten.

Das ideale Grippemittel wirkt selektiv auf die Viren


Jeder Arzneistoff, der das Virus daran hindert, sich zu vermehren, könnte
eine Grippeerkrankung verhindern oder nach bereits erfolgter Infektion die Erkrankung verkürzen. Allerdings besteht bei den meisten Substanzen die Gefahr, dass sie auch gesunde menschliche Zellen zerstören. Das ideale Mittel gegen praktisch jede Grippe müßte an einer sehr konservativen, das heißt in allen Virusstämmen gleichbleibenden Stelle eines Zielmoleküls angreifen.

Neuraminidase-Hemmer verhindern Virusvermehrung


Die Entwicklung der Neuraminidase-Hemmer begann mit der Aufklärung der Neuraminidase-Struktur im Jahr 1983. Australische Forscher entdeckten, daß die Neuraminidase-"Stacheln" auf der Virusoberfläche aus vier identischen Monomeren bestehen. Jedes Monomer hat einen tiefen, zentralen Spalt in seiner Oberfläche, der in allen bekannten Virusstämmen von denselben Aminosäuren begrenzt wird. Weitere Untersuchungen zeigten, dass der Spalt die aktive Stelle ist, an der Sialinsäure gespalten wird. Daraufhin wurde nach Arzneistoffen gefahndet, die die aktive Stelle der Neuraminidase besetzen und blockieren können.
Wie die Sialinsäure selbst enthält der Arzneistoff Zanamivir eine negativ geladene Carboxylatgruppe, mit der er an die drei positiv geladenen Aminosäuren des Neuraminidase-Spaltes andocken kann. Anstelle der Hydroxygruppe der Sialinsäure besitzt er jedoch in 4-Position eine Guanidinogruppe, die aufgrund ihrer Größe und positiven Ladung gut an eine kleine Tasche im Spalt aus zwei negativ geladenen Glutamat-Molekülen zu binden scheint. Zanamivir hemmt die virale Neuraminidase, ohne auf verwandte Enzyme in Bakterien oder Säugetieren zu wirken.

Gute Wirksamkeit gegen Influenza-Viren bei Inhalation


Präklinische Studien ergaben eine gute Wirksamkeit gegen Influenza-Viren. Pharmakokinetische Studien zeigten allerdings, dass die orale Bioverfügbarkeit unter 10% liegen dürfte. Die Ladung der Guanidinogruppe dürfte für die geringe Resorption aus dem Magen-Darm-Trakt verantwortlich sein.
In klinischen Studien wurde Zanamivir per Inhalation durch Nase oder Mund direkt in die Atemwege - den Replikationsort des Virus - gebracht. Insbesondere die Pulverinhalation per Diskhaler hat den Vorteil hoher lokaler Konzentrationen bei geringem Nebenwirkungsrisiko. Nach ersten erfolgreichen Studien an Probanden mit experimentell ausgelöster Grippe bekamen Patienten mit natürlich erworbener Grippe in klinischen Studien Zanamivir. Beispielsweise wurden 417 Personen in Europa und Nordamerika innerhalb von 48 Stunden nach Symptombeginn fünf Tage lang behandelt mit:

  • zweimal täglich 10 mg Zanamivir inhalativ plus Plazebo intranasal,
  • zweimal täglich 10 mg Zanamivir inhalativ plus 6,4 mg intranasal oder
  • zweimal täglich Plazebo inhalativ plus intranasal.

Die Symptome


bessern sich schneller
Bei 262 Personen wurde eine Grippeinfektion bestätigt. Bei ihnen besserten sich mit Zanamivir die Hauptsymptome im Median einen Tag (20%) schneller als mit Plazebo. Dabei spielte es keine Rolle, ob Zanamivir nur inhalativ oder zusätzlich auch intranasal angewendet wurde. Besonders vorteilhaft scheint die frühe Anwendung von Zanamivir zu sein: Eine Analyse ergab, dass sich bei frühem Therapiebeginn mit Zanamivir alle Hauptsymptome drei Tage eher bessern als mit Plazebo. Glaxo Wellcome hat in Australien, Europa, Kanada und den USA die Zulassung für die inhalative Anwendung von Zanamivir beantragt.

GS 4104 zur oralen Anwendung?


Zur oralen Einnahme kommt möglicherweise GS 4104 in Frage. Der Ester ist ein Prodrug; er wird im Körper rasch in den Neuraminidase-Hemmer GS 4071 umgewandelt. GS 4071 enthält wie Sialinsäure eine Carboxylatgruppe, zusätzlich allerdings eine hydrophobe Seitenkette, die sich an eine neu gebildete hydrophobe Tasche im Neuraminidase-Spalt anlagert. In ersten klinischen Studien wirkte GS 4104 ähnlich gut wie Zanamivir. Neuraminidase-Hemmer scheinen nicht nur die Erkrankung zu verkürzen, sondern auch die Schwere der Symptome zu mildern. So gaben Patienten unter Einnahme von GS 4104 um 25 bis 60% leichtere Grippesymptome an als Patienten mit Plazebo. Außerdem sinkt das Risiko sekundärer bakterieller Infektionen, wie Bronchitis, um mindestens die Hälfte.

Auch zur Prophylaxe wirksam


Studien zur Prophylaxe von Grippeinfektionen mit Neuraminidase-Hemmern verliefen ebenfalls erfolgversprechend: 2% der Zanamivir-Anwender, aber 6% der Nichtanwender erkrankten an Grippe.
Ob Neuraminidase-Hemmer tatsächlich Todesfälle infolge von Grippeerkrankungen verhindern, muss noch gezeigt werden. Der beste Einsatz ist möglicherweise der frühe therapeutische. Schnelltests für Zuhause erlauben vermutlich schon bald den frühen Einsatz bei Nachweis einer Grippeinfektion bereits vor Beginn der ersten Symptome.
Derzeit wird an der Entwicklung mehrerer weiterer Neuraminidase-Hemmer gearbeitet.
Literatur
Laver, W. G., et al.: Disarming flu viruses. Scientific American, January, 56-65 (1999).
Bethell, R, P. Smith: Recent developments in sialidase inhibitors for the treatment of influenza. Drugs of the Future 23, 1099-1109 (1998).
Müller-Bohn, T.: Zanamivir: neues Virostatikum gegen Influenza. Dt. Apotheker Ztg. 138, 3739-3740 (1998).
Bei Grippe 21/2 Tage schneller fit? Dt. Apotheker Ztg. 138, 4626 - 4628 (1998).
Susanne Wasielewski, Münster

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