Arzneimittel und Therapie

Warum das Grippevirus so gefährlich ist

Alle Jahre wieder, nicht immer ganz pünktlich zur Weihnachtszeit, macht das Grippevirus Schlagzeilen. In diesem Winter ist bisher eine große Epidemie oder gar die gefürchtete weltweite Pandemie ausgeblieben, obwohl in manchen Massenmedien dramatische Szenarien beschrieben wurden. Doch auch ohne große Epidemie ist die Virusgrippe eine schwerwiegende, mitunter sogar tödliche Erkrankung, die leider viel zu oft verharmlost wird. Dabei beruht die besondere Gefährlichkeit des Grippevirus auf drei Eigenschaften: der Variabilität, dem Virusreservoir in Tieren und der Pathogenität.


Zu den wichtigsten Strukturelementen des Grippevirus gehören seine beiden Oberflächenantigene Hämagglutinin und Neuraminidase. Durch das Hämagglutinin kann das Virus die Zellen im Respirationstrakt erkennen. Innerhalb der Wirtszelle wird das Virus vermehrt, wobei es an die zelleigene Neuraminsäure gebunden wird. Die Neuraminidase trennt Neuraminsäurereste ab und setzt somit neue Viren frei.

Antigen-Shift durch Neukombination der Oberflächenantigene


Bei den Typ-A-Influenzaviren existieren 14 verschiedene Subtypen des Hämagglutinins und 9 Subtypen der Neuraminidase, so dass sich eine enorme Vielfalt an möglichen Kombinationen dieser beiden Oberflächenantigene ergibt. Beim Influenzatyp B existieren keine Subtypen. Neue Kombinationen entstehen beim Typ A insbesondere, wenn in einer Tierart Influenzaviren aus verschiedenen Tierarten zusammentreffen, sich in derselben Zelle vermehren und dabei ihre Oberflächenantigene austauschen. Dies wird als Antigen-Shift bezeichnet.
Die neuen Viren können dann wieder andere Tiere oder Menschen infizieren, doch sind nicht alle entstehenden Neukombinationen so pathogen, dass sie sich durchsetzen und weiter vermehren. Entstehen neue stark humanpathogene Viren, kommt es zu einer weltweiten Pandemie, da kein Mensch über eine Immunität gegen diese neuen Antigene verfügen kann. Die folgenschwerste Pandemie der bekannten Geschichte war die sogenannte "spanische Grippe", bei der 1918 weltweit etwa 50 Millionen Menschen starben und die innerhalb weniger Wochen ganze Familien auslöschte. Durch den internationalen Luftverkehr könnte ein solches neues Virus sich heute innerhalb eines Tages über große Teile der Welt ausbreiten.

Antigen-Drift durch Punktmutationen


Weniger dramatisch ist die Situation bei kleineren Punktmutationen des Virus, bei denen die Antigentypen des Hämagglutinins und der Neuraminidase erhalten bleiben. Gegen solche Veränderungen, die als Antigen-Drift bezeichnet werden, verfügen viele Menschen noch über eine Teilimmunität. So sind lokale Epidemien möglich, aber die Erkrankung verläuft bei Patienten ohne Vorschädigung meist milder. Gefährdet sind dagegen Kinder, Senioren und alle anderen Personen mit eingeschränkter Funktion des Immunsystems, für die auch eine solche Grippe lebensbedrohlich sein kann. Bei einer weltweiten Pandemie nach einem Antigen-Shift sind dagegen auch Personen ohne Grunderkrankungen ernsthaft bedroht.

Ausrottung der Grippe


nicht möglich
Da sich die bisher bekannten Impfungen nur gegen bereits existierende Viren richten können, bieten sie bei der plötzlichen Ausbreitung eines neuen Subtyps keinen Schutz. Denn die Ausbreitung könnte schneller erfolgen, als die Entwicklung und Produktion des Impfstoffes dauert. Von der Isolierung eines Erregers bis zur Serienreife des Impfstoffes sind mindestens etwa drei Monate zu kalkulieren. Doch auch die alternative Strategie der Ausrottung des Virus bietet keine Erfolgsaussicht, da sich das Erregerreservoir auf viele Nutz- und Wildtierarten verteilt.
Ein weiterer Aspekt der Gefährlichkeit des Grippevirus liegt in seiner Pathogenität, die allerdings nicht bei allen Subtypen gleich stark ausgeprägt ist. Als direkte Wirkungen der Viren sind insbesondere Pneumonie und Myokarditis gefürchtet. Außerdem können die Viren zur Entgleisung bestehender chronischer Grundkrankheiten wie Diabetes führen oder den Weg für eine bakterielle Superinfektion bereiten. Die Viren können die Schleimschicht und die Epithelzellen der Schleimhäute zerstören und das Immunsystem beeinträchtigen. Diskutiert wird auch, dass proteolytische Enzyme aus Bakterien ihrerseits die Virusinfektion begünstigen.

Derzeit kein Grund zur Panik


Der derzeit in Europa verbreitete Influenzavirustyp ist A/Sydney/5/97, d. h. er wurde 1997 in Sydney erstmals isoliert. Er hat den Antigentyp H3 N2. Diese Kombination entspricht dem Typ der "Hongkong-Grippe" von 1968, der seit dieser Zeit in immer wieder neuen Varianten anzutreffen ist. Der Typ A/Sydney/5/97 kommt bereits seit 1997 in Europa vor und ist im Impfstoff dieser Saison enthalten. Diese Impfung ist daher als wirksame Prophylaxe weiterhin zu empfehlen. Das Auftreten von Grippefällen dieses Typs ist keine unerwartete "Sensation", sondern war vorhersehbar. Nach Darstellung des wissenschaftlichen Leiters der Arbeitsgemeinschaft Influenza, Dr. Helmut Uphoff, Marburg, kann bis Mitte Januar 1999 keine besonders schwere Epidemie in Europa festgestellt werden, sondern eine weitgehend normale Situation wie in anderen Jahren auch. Die statistische Auswertung von Daten aus repräsentativen Arztpraxen zeigt jedoch, dass um die Jahreswende 1998/99 die Zahl der akuten respiratorischen Erkrankungen insgesamt gegenüber früheren Jahren erhöht war. Neben der Influenza scheinen hierfür überwiegend sogenannte RS(Respiratory syncytial)-Viren und Mykoplasmen-Infektionen verantwortlich zu sein.

Jedes Jahr ist ein Influenza-Jahr


Doch auch ohne eine besonders starke Grippewelle verursacht die Influenza alljährlich schwere Folgen. In jedem Jahr kommt es zu Todesfällen, die durch die ungefährliche und problemlose Impfung zu vermeiden wären. Bereits bei einer "normalen" Influenzawelle erkranken in Deutschland etwa 3 bis 5 Millionen Personen. Zehntausende Patienten werden als direkte oder indirekte Folge der Influenza ins Krankenhaus eingewiesen, und mehrere tausend versterben an den Folgen. Bei starken Influenzawellen, wie 1995/96, werden diese Zahlen um ein Vielfaches übertroffen. Bei einer Pandemie sind Konsequenzen in ganz anderen Größenordnungen zu erwarten.
Mit Hilfe verschiedener statistischer Untersuchungen wird immer wieder versucht, die Entwicklung von Grippeepidemien vorherzusagen. Doch dürfte dies gerade bei dem so besonders gefährlichen Antigen-Shift kaum gelingen. Die Erfahrungen der Vergangenheit lassen alle 15 bis 20 Jahre eine solche Pandemie erwarten. Nach den Pandemien von 1968 und 1977 gilt der nächste Antigen-Shift als überfällig.
Quelle
Prof. Dr. Werner Lange, Berlin, Dr. Helmut Uphoff, Marburg, Vorträge im Rahmen der 10. Hamburger Forschungsgespräche "Wie gefährlich ist die Grippe?", Hamburg, 13. Januar 1999, veranstaltet von Glaxo Wellcome, Hamburg.
Thomas Müller-Bohn, Süsel

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