Berichte

Misteltherapie: Neues über Grundlagenforschung und Klinik

1995 hatte erstmals ein von der Carl und Veronika Carstens-Stiftung und der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland veranstaltetes Symposium über die Mistel stattgefunden*. In der Zwischenzeit hat es eine Reihe neuer Erkenntnisse in der Grundlagenforschung und Therapie gegeben. Diese zu bilanzieren und zu bewerten war die Aufgabe und Triebfeder für ein neues Treffen, das vom 12. bis 14. November 1999 in Nonnweiler stattfand.

Als Veranstalter traten neben den beiden genannten Organisationen noch die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft und die Gesellschaft für Arzneipflanzenforschung hinzu. Die organisatorische Leitung hatte Dr. Rainer Scheer vom Carl Gustav Carus-Institut übernommen. An der wissenschaftlichen Organisation waren darüber hinaus die Professoren Bauer, Düsseldorf, Becker, Saarbrücken, Berg, Tübingen, und Fintelmann, Hamburg, beteiligt. Wie bei Tagungen üblich, wurden die Hauptgesichtspunkte zunächst in Übersichtsreferaten abgehandelt und durch Originalarbeiten ergänzt.

Inhaltsstoffe der Viscum-Subspezies

Becker, Saarbrücken, referierte über Inhaltsstoffe und Wirkungen der Mistel. Als Hauptwirkstoffe werden heute die Mistellektine angesehen, von denen seit längerer Zeit drei Gruppen bekannt sind (ML-I, ML-II, ML-III). Vor drei Jahren wurde darüber hinaus ein Chitin-bindendes Lektin isoliert, das als VisalbCBA bezeichnet wird. Dieses Lektin bindet an Oligomere des N-Acetyl-D-glucosamin. Es weist im Vergleich zu den anderen Mistellektinen eine wesentlich geringere Toxizität auf. Wie eine Arbeitsgruppe um Pfüller, Herdecke, zeigen konnte, tritt es jedoch in Wechselwirkung mit den anderen Mistellektinen und beeinflusst damit deren Aktivität.

Die drei "klassischen" Mistellektine kommen in unterschiedlicher Menge bei den einzelnen Unterarten der Mistel vor. Während bei der Laubholzmistel (Viscum album ssp. platyspermum) das ML-I überwiegt, ist bei der Tannenmistel (V. album ssp. abietis) und bei der Kiefernmistel (V. album ssp. laxum) das ML-III vorherrschend. Auch bei den Viscotoxinen variiert die Zusammensetzung bei den genannten Mistel-Unterarten.

Rekombinantes Mistellektin

Inzwischen ist es gelungen, rekombinantes ML-I herzustellen, worüber Voelter, Tübingen, berichtete. ML-I zeigt eine hohe Homologie zu anderen Ribosomen-inaktivierenden Proteinen vom Typ II, wie z.B. zu Abrin-α und Ricin-D. Das erstellte Raummodell erlaubt es auf molekularer Basis, exaktere Vorstellungen über die Galaktose-Bindungsstellen, die RNA-Glucosidase-Aktivität und antigene Determinanten von ML-I abzuleiten.

Warum wirken Mistellektine zytotoxisch?

Für die Mistellektine wurde eine zytotoxische, Apoptose-induzierende und immunmodulierende Wirkung nachgewiesen. Die Mechanismen der Zytotoxizität wurden eingehend von Büssing, Herdecke, beleuchtet. Lektine werden heute als Ribosomen-inaktivierende Proteine definiert. Wenige Minuten nach Inkubation humaner Lymphozyten mit den Mistellektinen oder ihren Zucker-bindenden B-Ketten kommt es infolge eines Rezeptor-vermittelten Signals zum Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration; 4 h später fallen Membran-Veränderungen (Blebbing) und eine Verdichtung des Chromatins auf; innerhalb von 6 bis 24 h kommt es zu folgenden Phänomenen:

  • Bildung Sauerstoff-abgeleiteter Radikale (ROI),
  • Expression mitochondrialer Apo2.7-Moleküle,
  • Cytochrom-C-Release,
  • Aktivierung der Caspasen (Enzyme, die das Signal zur Apoptose innerhalb der Zelle weitergeben) mit anschließender Degradierung diverser Proteine (u.a. des Apoptose-hemmenden Bcl-2) und Kinasen,
  • Phosphatidylserin-Translokation von der inneren zur äußeren Schicht der Zellmembran und
  • Fragmentierung der DNA.

Neue Untersuchungen mit hoch aufgereinigten A- und B-Ketten der Mistellektine konnten zeigen, dass die isolierten Ketten für sich allein, im Gegensatz zum Holo-Protein, nicht in der Lage sind, Mitochondrien-aktivierende Todessignale zu vermitteln. Konventionelle "Todessignal-Rezeptoren", die bei der Auslösung der Apoptose und bei der Caspase-Aktivierung von vornehmlicher Bedeutung sind, werden von den Mistellektinen anscheinend nicht direkt stimuliert.

Selektivität der Mistellektine

Die einzelnen Mistellektine zeigten bei der von ihnen induzierten Apoptose der Zellen eine unerwartete Selektivität, die durch das Vorhandensein bestimmter Rezeptoren auf den Zellen bedingt ist:

  • ML-III lässt vornehmlich CD8+-T-Lymphozyten mit "Memory"-Phänotyp (CD62L) absterben, während CD8+ CD62Lhi "naive" Zellen, CD4+-T-Helferzellen/Induktor-Lymphozyten und CD19+-B-Lymphozyten deutlich weniger sensitiv gegenüber ML-III sind.
  • ML-I eliminiert vornehmlich CD16+/CD56+ CD8- NK-Zellen.

Es konnte nachgewiesen werden, dass ML-III im Gegensatz zu ML-I kaum von den B-Lymphozyten gebunden wird, was die geringe Sensitivität der B-Lymphozyten gegenüber dem ML-III-induzierten Killing erklärt.

Viscotoxine

Die in der Mistel enthaltenen Viscotoxine verursachen rasche Membranpermeabilisierung, Schwellung der Mitochondrien mit Verlust ihrer Cristae und Bildung von reaktiven Sauerstoff-Radikalen innerhalb weniger Minuten bzw. Stunden, was auf einen nekrotischen Zelltod (im Gegensatz zur Apoptose) hinweist.

Immunmodulation zur Krebsabwehr

Die Mistel-induzierte Immunmodulation im Hinblick auf die Tumorabwehr wurde in einem Übersichtsreferat von Berg, Tübingen, und Stein, Herdecke, beleuchtet. Die subkutan applizierten Mistelextrakte haben einen Einfluss auf die Generierung und Ausschüttung der Zellen des Antigen-unabhängigen unspezifischen Immunsystems - definiert z.B. durch die Aktivierung von NK-Zellen, Makrophagen oder Eosinophilen. Denn in der Mistelbehandlung wird eine Reihe von Zytokinen freigesetzt, u. a. Interleukine (IL-1, IL-4, IL-5, IL-6), TNF und IFN.

Die Beobachtungen berechtigen nach Einschätzung der Autoren - trotz vieler Vorbehalte aus der Schulmedizin - dazu, die in den Mistelextrakten vorhandenen Komponenten im Hinblick auf ihren spezifischen Einfluss auf das Immunsystem weiterhin zu erforschen.

Vakzine gegen Krebs?

Über einen tumorspezifischen Ansatz - ohne Mistel - in der immunologischen Tumortherapie berichtete Pfreundschuh von der Universität des Saarlandes. Mit Hilfe der SEREX-Methode (serological analysis of antigens by recombinant expression cloning) gelingt es auf den meisten, wenn nicht sogar allen menschlichen Tumoren, multiple Antigene nachzuweisen. Für die SEREX-Antigene konnten sowohl CD8- als auch CD4-Antworten nachgewiesen werden.

Inzwischen läuft ein Pilotstudie, in die 30 Patienten aufgenommen werden sollen. Es wird dabei geprüft, ob eine Vakzine, die aus einem Tumorantigen hergestellt wird, in Patienten die spezifische Immunantwort gegen ihren Tumor verstärken kann.

Positive und negative Wirkungen von Interleukin 6

Wie bereits erwähnt, werden bei der Misteltherapie verschiedene Zytokine, u.a. auch Interleukin 6, freigesetzt. Rose-John, Mainz, berichtete über den molekularen Wirkungsmechanismus von Interleukin 6 und sein mögliches therapeutisches Potenzial. U.a. wurde festgestellt, dass ohne Interleukin 6 keine Leberregeneration stattfindet und dass Herzmuskelzellen unter Stressbedingungen eine Apoptose erleiden. Ex vivo kommt es zu einer Expansion von hämatopoetischen Progenitorzellen. Andererseits wurde festgestellt, dass beim Plasmozytom (Neoplasma der B-Lymphozyten, malignes Lymphom) 30 bis 50% der Zellen IL-6-abhängig sind.

Sowohl rationale Phytotherapie als auch Anthroposophische Medizin

Fintelmann, Hamburg, und Kaiser, Nürnberg, setzten sich mit allgemeinen Gesichtsspunkten der Misteltherapie auseinander. Nach Kaiser haben zwar die letzten vier Jahre Forschung über die Misteltherapie eine Fülle neuer Erkenntnisse gebracht, aber für die klinische Onkologie eher noch mehr Fragen aufgeworfen als definitive Antworten auf die vorhandenen Fragen gegeben.

Nach Fintelmann haben sowohl die rationale Phytotherapie mit auf Inhaltsstoffe standardisierten Mistelpräparaten als auch die anthroposophisch orientierte Medizin, die die naturwissenschaftliche Vorgehensweise in sich einschließt und ihre Intention auf den individuellen Kranken einstellt, ihre Berechtigung.

Analogie von Tumor und Mistel

Die anthroposophische Heilpflanzenerkenntnis am Beispiel der Mistel wurde von Scheffler, Niefern-Öschelbronn, eingehend dargestellt. Der Tumor entzieht sich - ebenso wie die Mistel - den Einflüssen seiner Umgebung. Schrittweise wird das Gewebe seiner räumlichen und zeitlichen Eingliederung in den Organismus entfremdet, bis schließlich der gesamte Organismus im kachektisch gewordenen Tumorpatienten von der Tumorphysiologie beherrscht wird.

Neue Applikationswege

Matthes, Berlin, sieht ein neues klinisches Feld der Misteltherapie bei onkologischen Patienten in der intravenösen, intratumoralen und intraarteriellen Applikation:

  • Hochdosierte i.v. Mistelapplikation zeigt teilweise - auch bei chemotherapeutisch ausbehandelten Patienten - noch gute Remissionserfolge.
  • Mit der intratumoralen hochdosierten Applikation lassen sich insbesondere beim hepatozellulären Karzinom (HCC vom nicht fibrolamellären Typ) gute Langzeitergebnisse bezüglich Remission und Überlebenszeiten erreichen.
  • Bei der intraarteriellen Hochdosis-Applikation hepatischer Metastasen von kolorektalen Tumoren über sog. Ports, welche in der Arteria hepatica implantiert wurden, lassen sich hingegen nur bescheidene Erfolge verzeichnen.

Erfolge in klinischen Studien

Beuth, Köln, fasste einige klinische Studien zusammen. Er berichtete über Erfolge der Misteltherapie, die teils mit auf Mistellektin normierten Extrakten teils mit prozessbiologisch standardisierten Extrakten durchgeführt wurden. Eine mögliche Erweiterung des therapeutischen Spektrums sieht er in der Anwendung von rekombinantem Mistellektin-I (rML-I).

An die Übersichtsreferate schlossen sich 30 Kurzreferate aus den Gebieten Pharmazeutische Qualität, Immunologie und Zytotoxizität sowie Klinische Anwendung und Prüfung an. Der Tagungsort in ländlicher Umgebung erlaubte eine intensive Diskussion zwischen den einzelnen Disziplinen und Therapierichtungen. Wie bereits vor vier Jahren, dürften diese Diskussionen zu neuen Kooperationen und damit Fortschritten in der Wissenschaft und praktischen Anwendung führen. Alle Übersichts- und Kurzreferate sollen wieder in Buchform veröffentlicht werden.

Fußnote *Die damaligen Vorträge wurden in Buchform veröffentlicht: R. Scheer, H. Becker und P. A. Berg: Grundlagen der Misteltherapie - Aktueller Stand der Forschung und klinische Anwendung. Hippokrates Verlag, Stuttgart 1996.

Ausstellung: Mistel in der Kunst

Im Anschluss an die Tagung hatten die Teilnehmer Gelegenheit, sich in St. Ingbert die Ausstellung "Mistel - Kunstmotiv im Jugendstil, Mythos, Arzneipflanze" anzuschauen. Dort sind mehr als 500 Exponate - vorwiegend aus dem Jugendstil - zu sehen. Die Ausstellung ist umfangreicher und schöner als ihre Vorgängerausstellungen. Sie ist im Albert Weisgerber Museum der Stadt St. Ingbert bis zum 23. Januar 2000 zu besichtigen.

Ort: Albert Weisgerber Museum, Am Markt 7, 66386 Sankt Ingbert, Tel. (06894) 13358, Fax 13530. Öffnungszeiten: täglich außer montags, 24., 25., 31.12. und 1.1.: 10.00 bis 18.00 Uhr.

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