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Gesundheitsreform 2000 im Bundestag verabschiedet

BONN. Die umstrittene Gesundheitsreform 2000 kommt voraussichtlich am 26. November in den Bundesrat, auf dessen Zustimmung sie angewiesen ist. Zuvor hatte der Bundestag am 4. November mit der Mehrheit von SPD und Bündnis 90/die Grünen das Vorhaben gegen die Stimmen von Union und FDP bei Enthaltung der PDS-Abgeordneten verabschiedet. Da sich allerdings die CDU/CSU inklusive der von ihr geführten Länder geschlossen gegen die Reform von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer ausspricht, erscheint eine Einigung in der Länderkammer und im nachfolgenden Vermittlungsausschuss, damit auch ein Inkrafttreten zum 1. Januar 2000, wenig wahrscheinlich.

Mehr als drei Stunden lang hatten Regierungskoalition und Opposition am vergangenen Donnerstag heftig über das Vorhaben gestritten. Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer appellierte mit Politikern der SPD und Bündnisgrünen an Opposition und Bundesländer, zu einem Kompromiss zu kommen. Die Union forderte die Ministerin dagegen zum Rückzug ihres Gesetzes auf, auch die FDP äußerte scharfe Kritik. Die PDS lehnte die Reform nur zum Teil ab.

Eklat im Hohen Haus

Nach der Debatte war es im Bundestag vor der namentlichen Abstimmung zu einem Eklat gekommen. CDU/CSU und FDP hatten die Vertagung beantragt, da die Beschlussfassung für die abschließende Beratung am 4. November an mindestens zwei Stellen nicht mit dem übereinstimmte, was im Gesundheitsausschuss am Vortag beschlossen worden war. Daraufhin wurde das Verfahren für rund fünf Stunden unterbrochen und der Ältestenrat eingeschaltet, bis es am Abend doch zur Verabschiedung kam. Dr. Dieter Thomae, FDP, empfahl der Ministerin angesichts des chaotischen Ablaufs Urlaub zu nehmen.

Fischer gegen Polemik

In der heftigen Debatte hatte die Bundesgesundheitsministerin an die Kritiker ihrer Reform appelliert, die Menschen nicht länger zu verunsichern. An Polemik sei nichts ungesagt geblieben, sagte Andrea Fischer (Bündnis 90/die Grünen). Sie lud gleichwohl die Opposition, namentlich die CDU, sowie die Bundesländer zu einem Gespräch an diesem Donnerstag ein. Die Regierungsfraktionen seien kompromissbereit.

Fischer verteidigte ihre Reform mit dem Hinweis, es müsse zu einer Modernisierung der inneren Verhältnisse des Gesundheitssystems kommen. Ziel der Reform seien stabile Beitragssätze. Sie wies den Vorwurf einer zu kurzen Vorbereitungszeit unter Hinweis auf das fast einjährige Gesetzgebungsverfahren zurück, was die Opposition mit Lachen quittierte. Die positiven Ansätze der Reform - wie Qualitätssicherung, Stärkung der Hausärzte oder integrierte Versorgung - gegen die bekannten Missstände wie Mehrfach- und Doppeluntersuchungen und schlechte Versorgung chronisch Kranker sollten nicht in Aufgeregtheiten untergehen.

Keine Rationierung von Leistungen

Die Rationierung von Leistungen, wie von Kritikern befürchtet, werde es durch den Ausgabendeckel der Kassen (Globalbudget) nicht geben. Im übrigen gelange mehr Geld ins System, da die Ausgaben der Kassen mit den Löhnen und Gehältern stiegen. Bei einem geschätzten Anstieg der Grundlohnsumme um zwei Prozent stünden fünf Milliarden Mark im nächsten Jahr mehr zur Verfügung.

Entschieden verteidigte die Ministerin ihren Plan, eine Milliardenhilfe von Westkassen an überschuldete Ortskrankenkassen im Osten in die Reform zu packen. Angesichts der schlechten Lage der Ostkassen müsse dringend eine Lösung gefunden werden. Die Pleite von AOKen zöge anderenfalls einen großen Vertrauensverlust der Patienten nach sich. Das sei kein Versuch, die Zustimmung der neuen Bundesländer für die Reform zu "erkaufen". Empört wies sie Äußerungen der bayerischen Sozialministerin Barbara Stamm (CSU) als "Unwahrheit" zurück, es seien keine Gespräche mit den oppositionsgeführten Bundesländern gesucht worden. Gerade Bayern habe im Sommer gemeinsame Gespräche unter Hinweis auf die sich ändernden Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat bewusst verschoben.

Mögliche Alternativen?

Werde durch die Verweigerung der Opposition die Gesundheitsreform auf die lange Bank geschoben, drohten unkontrollierte Ausgabenschübe und dadurch höhere Beiträge. Auch Zwischenlösungen seien keine gute Alternative, meinte Fischer.

"Liste nicht forschungsfeindlich"

Der SPD-Gesundheitsexperte Rudolf Dreßler verteidigte die geplante Positivliste. Es gehe nicht an, dass im begrenzten Finanzrahmen hochwertige Medikamente mit "therapeutischem Schrott" um Marktanteile rängen. So gesehen stütze die Liste erstattungsfähiger Arzneimittel sogar die Forschung und sei nicht innovationsfeindlich. Auch Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/die Grünen) begründete die Liste in erster Linie mit Qualitätsgesichtspunkten.

Käme künftig zum Beispiel ein teures Krebsmedikament auf den Markt, müsse das dann außerhalb des Budgets finanziert werden, sagte SPD-Gesundheitsexperte Dreßler. Dazu solle dann der Sachverständigenrat Vorschläge unterbreiten. Der Union warf er vor, keine Alternativen aufzuzeigen. Unter der Hand sei bei der CDU/CSU herauszuhören, die Zuzahlungen der Kranken müssten erhöht und der Leistungskatalog ausgedünnt werden. Die jetzige Regierungskoalition wolle das nicht, daher gebe es durch das Gesetz keine weiteren Selbstbehalte und keine Ausgrenzung von Leistungen. Dreßler verwahrte sich gegen den Vorwurf, durch das Globalbudget stünden Kürzungen an. "Wir begrenzen die Zuwächse", sagte er und nannte vor allem die Einkommenssteigerung der Ärzte und die Umsätze der pharmazeutischen Industrie.

"Zu viele Arzneimittel"

Wichtig sei der Abbau der Überkapazitäten bei den Krankenhäusern und bei den Arzneimitteln. Bei letzteren müsse der Markt bereinigt werden. Im übrigen gebe es interne Listen bereits in den Krankenhäusern. Das Beispiel anderer europäischer Länder habe gezeigt, dass diese durch Positivlisten mit viel weniger Präparaten als Deutschland auskämen. Dreßler hielt darüber hinaus die Haltung der Industrie für widersprüchlich. Während große Chemieunternehmen wegen der Lohnnebenkosten stabile Beiträge zur Krankenversicherung forderten, reklamierten deren Pharmatöchter steigende Arzneimittelausgaben und provozierten so steigende Kosten.

"Arzneizahl differenzieren"

Dr. Dieter Thomae von der FDP kritisierte den undifferenzierten Vergleich zwischen dem Arzneimittelangebot in Deutschland mit dem anderer Staaten in Europa. Bekanntlich werde hier jede Darreichungsform einzeln gezählt. Gemessen an Wirkstoffen liege Deutschland lediglich im europäischen Durchschnitt, meinte der Liberale. Die Positivliste als zweite Zulassungshürde sei überflüssig. Zudem bestehe die Gefahr, dass damit die Naturheilmittel ganz verdrängt würden. Er warnte vor einem Angriff auf das freiberuflich geprägte Gesundheitssystem. Budgets gingen immer zu Lasten der Kranken, aber auch der Leistungserbringer.

"Liste trifft chronisch Kranke"

Nach Worten von Wolfgang Zöller von der CSU träfe die Liste erstattungsfähiger Arzneimittel besonders die chronisch Kranken. Sie müssten die von ihnen benötigten mild wirksamen Medikamente, wenn diese nicht aufgelistet wären, zu 100 Prozent selbst bezahlen. Außerdem drohten unerwünschte Verlagerungseffekte. Verschrieben Ärzte künftig vermehrt stärker wirkende Arzneimittel, weil diese erstattungsfähig seien, seien größere Nebenwirkungen für die Patienten nicht ausgeschlossen. Alle diese Folgen der Positivliste wären nachteilig für die Patienten.

"Betrug am Patienten"

Die Politik von SPD und Grünen sei ein "Betrug am Patienten", so die scharfe Kritik des FDP-Politikers Thomae. Zwar hätten diese die Zuzahlung zu Arzneimitteln zum Teil gesenkt, aber zugleich strenge Budgetvorgaben eingeführt. Verschreibe der Arzt ein Medikament wegen ausgeschöpfter Ausgabentöpfe nicht mehr, sei dies eine 100-prozentige Zuzahlung des Patienten, der das Präparat schließlich komplett aus der eigenen Tasche bezahle. Vor allem für sozial Schwache sei das schlimm. Da sei die Regelung der alten Regierung - Schutz über Härtefall- und Überforderungsbestimmungen - sozialer gewesen.

Thomae verwies gemeinsam mit Detlef Parr auf Lösungsvorschläge der FDP. Der bisherige umfangreiche Leistungskatalog solle so bleiben, künftige zusätzliche Leistungen sollten jedoch die Arbeitnehmer zahlen, denen mit einer vernünftigen Steuerpolitik mehr Geld im Portemonnaie gelassen werde. Der Beitrag der Arbeitgeber solle eingefroren werden. Mehr Wettbewerb sei nötig, auch Anreize für die Patienten durch Beitragsrückgewähr oder Selbstbehalte.

SPD gegen weitere Zuzahlungen

Die weitere Belastung von Kranken mittels höherer Zuzahlungen lehnte die SPD-Gesundheitsexpertin Gudrun Schaich-Walch umgehend ab. Bei Fixierung des Arbeitgeberanteils müssten die Arbeitnehmer steigende Kosten ganz allein tragen. Nötig ist nach Meinung der gesundheitspolitischen Sprecherin der SPD-Fraktion vielmehr der zielgenaue Einsatz der vorhandenen Mittel. Bestehende Unter- oder Fehlversorgung - wozu sie unnötige Operationen, zu häufiges Röntgen aber auch Arzneimittel mit nicht nachgewiesener Wirkung zählte - müssten mit Qualitätsstandards angegangen werden.

"Reform gegen Kranke"

Für Wolfgang Lohmann von der CDU/CSU war dagegen das gesamte Verfahren zur Reform 2000 "unseriös". So seien 345 Seiten an Änderungsanträgen zum Entwurf vorgelegt worden, davon 60 Seiten am letzten Tag der Behandlung im Gesundheitsausschuss einen Tag vor der Abstimmung im Bundestag. Nach Worten von Lohmann richtet sich die Reform "gegen Kranke, gegen die Versicherten, gegen Arbeitnehmer, gegen die Gesundheitsberufe und gegen die Länder". Das vorliegende Gesetz bereite den Weg hin zum Kassenstaat und sei durch ein Übermaß an Bürokratie gekennzeichnet. Es zeuge von einem tiefen Misstrauen der Regierung gegen Leistungserbringer wie Ärzte sowie die Versicherten. Das Globalbudget sei nach Angaben von Krankenkassen schlicht nicht umsetzbar.

Der Vorsitzende der Union Wolfgang Schäuble lehnte Kompromisse auf Basis dieser Vorlage kategorisch ab. Andrea Fischer solle ihr Gesetz zurückziehen, dann erst könne es eine Verständigung mit der Union geben.

"Ost-Länder nicht käuflich"

Die bayerische Sozialministerin Barbara Stamm (CSU) wies in der Debatte den Vorwurf der Verweigerung zurück. Die unionsgeführten Bundesländer hätten Fischer vergeblich um einen Dialog vor dem fertigen Arbeitsentwurf gebeten. Geradezu "unappetitlich" sei der Versuch gewesen, die neuen Bundesländer durch die versprochene Milliardenhilfe für überschuldete Ost-Krankenkassen zur Zustimmung im Bundesrat zu bewegen. Der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium Erwin Jordan sei speziell dazu auf Einkaufstour im Osten gewesen. Auf diese Weise sei jedoch mit den Ländern nicht zu reden, stellte Stamm klar. Es werde nicht gelingen, die Union in der Länderkammer auseinander zu dividieren.

Wie Lohmann stellte Stamm heraus, dass die alte Regierung geordnete Verhältnisse in der Krankenversicherung hinterlassen habe. SPD und Grüne hätten jedoch durch das 98er Solidaritätsstärkungsgesetz den Kassen Einnahmen entzogen, etwa durch die wieder abgesenkten Zuzahlungen zu Arzneimitteln, und zugleich Leistungen ohne Gegenfinanzierung ausgeweitet.

PDS: Einnahmeproblem ungelöst

Nach Ansicht der PDS-Politikerin Ruth Fuchs löst die Bundesregierung nicht das Einnahmeproblem der gesetzlichen Krankenkassen. Der Lohn-Bezug stoße an seine Grenzen. Zur Konsolidierung der Finanzen sollten beispielsweise Besserverdienende in die solidarische GKV hineingeholt werden durch Heraufsetzen der Versichertenpflichtgrenze auf das höhere Niveau der Rentenversicherung. Mittelfristig sollten mehr Steuermittel für Gesundheitsleistungen fließen, forderte Fuchs.

Die umstrittene Gesundheitsreform 2000 kommt voraussichtlich am 26. November in den Bundesrat, auf dessen Zustimmung sie angewiesen ist. Der Bundestag hatte sie am 4. November mit der Mehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und gegen die Stimmen von Union und FDP bei Enthaltung der PDS-Abgeordneten verabschiedet. Ein Inkrafttreten zum 1. Januar 2000 erscheint wenig wahrscheinlich, da im Bundesrat die von der CDU/CSU geführten Länder geschlossen gegen die Reform von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer stimmen werden.

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