Arzneimittel und Therapie

Harninkontinenz: Welche Therapie für welche Form?

Je nach Ursache werden vier verschiedene Arten der Harninkontinenz unterschieden: Stressinkontinenz, Dranginkontinenz, Reflexinkontinenz und Überlaufinkontinenz, wobei Mischformen ebenfalls bekannt sind. Stress-, Drang-, und Reflexinkontinenz sind auf Störungen der Harnrückhaltung zurückzuführen. Die Ursache der Überlaufinkontinenz liegt hingegen in einer Störung der Harnentleerung. Die drei erstgenannten Formen lassen sich durch weitgehend gemeinsame Therapieansätze behandeln, die sich jedoch grundlegend von den Behandlungsmöglichkeiten der Überlaufinkontinenz unterscheiden.

Menschen, die an Harninkontinenz erkrankt sind, können nicht verhindern, dass Harn abgeht. Oftmals versuchen sie, diese Beschwerden zu verheimlichen, da Harninkontinenz immer noch ein Tabuthema unserer Gesellschaft ist. Zudem können sich im feuchtwarmen Klima einer aufsaugenden Binde Bakterien vermehren und Gerüche verursachen. Das Leiden stellt damit sowohl ein soziales als auch ein hygienisches Problem dar.

Stress-, Drang-, Reflexinkontinenz

Doch Inkontinenz ist nicht gleich Inkontinenz: Man unterscheidet je nach Ursache Stressinkontinenz, Dranginkontinenz, Reflexinkontinenz und Überlaufinkontinenz:

  • Bei Stressinkontinenz kommt es beim Husten, Niesen oder bei körperlichen Anstrengungen zum Verlust von Harn. Durch körperliche Belastungen spannt sich die Bauchmuskulatur an und erhöht damit den Blaseninnendruck, auch intravesikaler Druck genannt. Der intravesikale Druck übersteigt dann den Widerstand der Verschlussapparatur. Dabei treten kleinere Mengen Harn aus, ohne dass die Blasenmuskulatur bewusst gesteuert wird.
  • Bei der Dranginkontinenz haben Betroffene verfrüht den Drang, die Blase zu entleeren. Die mehrschichtige Blasenwandmuskulatur ist überaktiv, eine Anspannung kann vom Patienten willentlich nicht unterdrückt werden. Die Kontraktion gibt den Abfluss frei und drückt den Harn aus der Blase heraus.
  • Menschen mit Reflexinkontinenz verlieren Harn, ohne das Bedürfnis zu verspüren, die Blase entleeren zu müssen. Verletzungen oder krankhafte Störungen des Rückenmarks führen oft zu abnormaler Reizauslösung, die wiederum eine Blasenkontraktion auslöst.
  • Bei der Überlaufinkontinenz wird der Urinabfluss aus der Blase eingeschränkt. Verursacht wird dies durch eine Verengung der Harnröhre. Diese Verengung kann auf eine vergrößerte Prostata, Harnblasensteine oder Tumore zurückzuführen sein. In der Blase sammelt sich so viel Urin an, dass der Blaseninnendruck schließlich den Druck des Verschlussapparates übersteigt. Die Blase läuft über.

Unterschiedliche Mechanismen führen zur Harninkontinenz

Stress-, Drang- und Reflexinkontinenz unterscheiden sich von der Überlaufinkontinenz. Bei den ersten drei Inkontinenzarten sind Mechanismen zur Harnrückhaltung gestört, während die Ursache der Überlaufinkontinenz in der Blasenentleerung liegt. Daher werden unterschiedliche Therapieansätze verfolgt.

Für die erstgenannten Inkontinenzarten sind folgende Ansätze möglich:

  • Die Aktivität der mehrschichtigen Blasenwandmuskulatur kann erniedrigt werden, was gleichzeitig die Kapazität der Blase erhöht.
  • Der Widerstand der Verschlussapparatur kann erhöht werden.

Um die Überlaufinkontinenz zu therapieren, kann hingegen:

  • Die Kontraktilität der Blasenwandmuskulatur verstärkt oder
  • der Widerstand der Verschlussapparatur erniedrigt werden.

Therapien bei Störungen der Harnrückhaltungsmechanismen

Eine Reihe von Arzneistoffgruppen basieren auf den oben genannten Ansätzen:

  • Antagonisten an Muscarinrezeptoren. Propanthelin, Oxybutynin und Propiverin gehören zu den meistverordneten Arzneimitteln für die Behandlung der Harninkontinenz. Diese Muscarinrezeptorantagonisten sind in der Lage, die Blasenwandmuskulatur zu entspannen. Eine hochdosierte intravenöse Atropininjektion kann sogar eine vollkommene Blasenlähmung verursachen. Richtig dosiert können Antagonisten an muscarinischen Rezeptoren die Überaktivität der Blasenwandmuskulatur verhindern und so die Blasenaktivität normalisieren. Der Nachteil liegt in den atropinartigen Nebenwirkungen, den alle Substanzen dieser Gruppe in unterschiedlichem Ausmaß verursachen. Dazu gehören Mundtrockenheit, Sehstörungen, Tachykardie, Obstipation, Sedation, Gesichtsrötung und Verwirrungszustände. Auch sind sie in einigen Fällen kontraindiziert, so zum Beispiel bei Patienten mit Engwinkelglaukom.
  • Muskelrelaxanzien. Durch Muskelrelaxanzien wird die Aktivität der Blasenwandmuskulatur erniedrigt. Wahrscheinlich beruht dieser Effekt darauf, dass eine cAMP-Phosphodiesterase gehemmt wird. Beispielsweise wird zur Behandlung von Dranginkontinenz Flavoxat eingesetzt. Vermutlich wirken sowohl Flavoxat als auch sein Hauptmetabolit auf die glatte Muskulatur der ableitenden Harnwege relaxierend.
  • Alpha-Rezeptoragonisten. Alpha-Rezeptoren findet man am Blasenhals und an der Prostata. Agonisten an diesen Rezeptoren erhöhen die Muskelspannung an den genannten Geweben. Hierdurch erhöht sich der Widerstand der Harnröhre, und das Auslaufen des Harns aus der Blase wird verhindert. Therapeutisch eingesetzt werden Ephedrin, Phenylpropanolamin und Midodrin. Besonders wirksam sind diese Substanzen bei leichter bis mittelstarker Stressinkontinenz. Die Nebenwirkungen von Ephedrin, wie gastrointestinale Beschwerden, Nervosität, Schlaflosigkeit und kardiale Effekte, schränken die Therapiemöglichkeiten allerdings ein.

Therapien bei Störungen der Harnentleerung

  • Agonisten an Muscarinrezeptor. Die Entleerung der Blase wird wahrscheinlich hauptsächlich durch Stimulierung von muscarinischen Rezeptoren verursacht. Acetylcholin kann wegen seines schnellen Abbaus selbst nicht therapeutisch eingesetzt werden. Das Acetylcholinderivat Bethanechol, welches eine längere Halbwertzeit besitzt, vermindert die Menge an Restharn nach der Blasenentleerung, dennoch ist die Anwendung von erheblichen Nebenwirkungen begleitet. Eine weitere Substanz, Distigminbromid, hemmt die Cholinesterase und bewirkt dabei über Stunden eine Verstärkung und Verlängerung des Effekts von Acetylcholin an den Nervenendigungen. Seine Wirksamkeit ist aber nur in wenigen Fällen belegt worden.
  • Alpha-Rezeptorantagonisten. Man findet am Blasenhals und an der glatten Muskulatur der Prostata Alpha-Rezeptoren, hauptsächlich vom Subtyp alpha1. Antagonisten an diesen Rezeptoren werden erfolgreich eingesetzt, wenn Miktionsstörungen aufgrund einer Vergrößerung der Prostata entstehen. Phenoxybenzamin, ein Alpha1- und Alpha2-Rezeptorantagonist, verbessert eine solche Harninkontinenz. Um Nebenwirkungen wie zum Beispiel orthostatische Hypotonie zu beseitigen, setzt man verstärkt auf alpha1-selektive Antagonisten. Beispiele hierfür sind Prazosin, Alfuzosin, Terazosin und Doxazosin. Die Therapie mit diesen Substanzen zeigt zwar häufig Nebenwirkungen, doch sind diese in der Regel sehr schwach. Tamsulosin ist bislang der erste Antagonist, der wiederum auf eine Unterart der Alpha1-Rezeptoren spezifisch wirken soll. Eine Therapie mit Tamsulosin zeigt gute Wirksamkeit und hohe Sicherheit bei Patienten mit gutartigen Prostatavergrößerungen.

Arzneistoffgruppen zur Behandlung von Harninkontinenz

Therapien bei Störungen der Harnrückhaltungsmechanismen

  • Erniedrigung der Überaktivität der Blasenmuskulatur: Antagonisten an Muscarinrezeptoren, Muskelrelaxanzien, Calciumkanalblocker, Beta-Rezeptoragonisten, Prostaglandin-Inhibitoren, trizyklische Antidepressiva
  • Erhöhung des Widerstands der Verschlussapparatur: Alpha-Rezeptoragonisten, Beta-Rezeptorantagonisten, Östrogene

    Therapien bei Störungen der Harnentleerung

  • Erhöhung der Blasenkontraktilität: Agonisten an Muscarinrezeptoren, Prostaglandine, Antagonisten an Opioidrezeptoren
  • Erniedrigung des Widerstands der Verschlussapparatur: Alpha-Rezeptorantagonisten, Beta-Rezeptoragonisten, Muskelrelaxanzien
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