Arzneistoffporträt

R. Kaul, N. LagoniWeidenrinde - Renaissance eines Ph

Weidenrinde enthält verschiedene glucosidische Derivate des Salicylalkohols (Saligenins), die seine therapeutische Wirksamkeit bestimmen. Der Extrakt gilt als Prodrug, weil er erst nach verschiedenen enzymatischen Reaktionen physiologisch wirksam wird. Die Glucoside passieren Mund und Magen unverändert und werden erst im Darm gespalten, worauf ihre Bestandteile resorbiert werden. Anschließend wird das Saligenin in der Leber zu Salicylsäure oxidiert, die durch die Hemmung der Cyclooxygenase indirekt analgetisch wirkt. Anders als Acetylsalicylsäure oder Natriumsalicylat, die nach ihrer Umwandlung in Salicylsäure die gleiche Wirkung entfalten, hemmt Weidenrindenextrakt nicht die Cyclooxygenase in der Magenwand; deren intakte Funktion ist sehr wichtig, weil sie den Magen vor peptischen Läsionen schützt. Aufgrund dieses fehlenden Nebenwirkungspotentials bietet Weidenrindenextrakt einen therapeutischen Vorteil gegenüber synthetischen Salicylaten.

Geschichte der arzneilichen Anwendung

Seit der Antike ist die Verwendung von Weidenrinde - Salicis cortex - als pflanzliches Heilmittel belegt. In allen Hochkulturen war die Weidenrinde Bestandteil des Arzneimittelschatzes. So findet man sie als Mittel gegen Fieber und Schmerzzustände bereits im Corpus Hippocraticum, der von alexandrinischen Gelehrten um 300 v. Chr. erstellten Sammlung medizinischer Schriften. Auch Celsus, bekannt durch seine Einteilung der Entzündungszeichen in die klassischen Symptome Rubor, Calor, Dolor und Tumor, verwendete Zubereitungen aus Weidenblättern zur Schmerzlinderung.

In der Volksheilkunde des Mittelalters blieb das erfahrungsmedizinische Wissen zur Weidenrinde erhalten. Im 18. Jahrhundert erlebte sie als "Febrifugum" eine Renaissance. Edward Stone aus dem englischen Oxfordshire, der mehrjährig die antipyretische Wirkung der Droge bei Patienten mit Wechselfieber dokumentiert hatte, lieferte den Nachweis ihrer Wirkung als Ersatz für die damals vorherrschende Anwendung der Chinarinde (von Cinchona officinalis).

Konkurrenz durch ASS

Nach der Identifizierung des Salicins, des Hauptglucosids der Weidenrinde, durch Buchner, 1828, gelang es Kolbe erst 1859, Salicylsäure zu synthetisieren. Zur gleichen Zeit wurde Acetylsalicylsäure (kurz ASS), wenn auch nicht in ganz reinem Zustand, beschrieben, aber in ihrer Wirksamkeit zunächst verkannt. Ersten Publikationen zur antipyretischen Wirksamkeit der Substanz folgend, wurde Salicylsäure seit 1874 industriell hergestellt und fand schnell Einzug u.a. in die Therapie der chronischen Polyarthritis. Im Jahre 1897 synthetisierte Hoffmann mit einem neuen Verfahren ASS, die dann als antipyretisches Analgetikum in die Therapie eingeführt wurde [1]. Dadurch verlor die Weidenrinde therapeutisch an Bedeutung.

Renaissance der Naturdroge

Als Folge einer sich generell verstärkenden Nachfrage nach pflanzlichen Arzneimitteln, nach gut verträglicher, nebenwirkungsarmer Phytotherapie, ist in den letzten Jahren das wissenschaftliche Interesse an salicinhaltigen Analgetika/Antiphlogistika gestiegen [2]. Seit 1991 ist die Weidenrinde in das Deutsche Arzneibuch (DAB 10) und den Kommentar zum DAB aufgenommen [4, 5]. Nach DAB besteht Weidenrinde aus der im Frühjahr gesammelten, ganzen oder geschnittenen oder gepulverten, getrockneten Rinde junger Zweige von Salix purpurea L., Salix daphnoides Villars oder anderen Salix-Arten (Abb. 1). Die Droge enthält mindestens 1,0 Prozent Gesamtsalicin, berechnet als Salicin (C13H8O7; Mr 286,3).

1984 bewertete die Kommission E des Bundesgesundheitsamtes das medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnismaterial zu Salicis cortex positiv. Diese Monographie wurde 1997 durch die europäische Monographie zu Salicis cortex (Willow bark) der European Scientific Cooperative on Phytotherapy (ESCOP) bestätigt und aktualisiert. Nach dieser Monographie ist die Anwendung bei Fieber, leichten rheumatischen Beschwerden und Schmerzen sowie Kopfschmerz indiziert [6]. Monographie-konform beträgt die Tagesdosis bei Erwachsenen 3 bis 6 g pulverisierte Droge oder 240 mg Salicin eines Extraktes. Bei Kindern muss die Dosis an das Körpergewicht angepasst werden, wobei maximal 120 mg Salicin pro Tag verabreicht werden soll; 3 bis 6 g pulverisierte Droge entsprechen der Empfehlung für Erwachsene.

Inhaltsstoffe

Weidenrinde enthält als hauptsächliche Inhaltsstoffgruppen glucosidische Salicylate und Flavonoide.

Glykoside

  • Salicin (0,5-2,7%), sein 6'-O-Acetylderivat (Fragilin), sein 6'-O-Benzoylderivat (Populin) und dessen 2'-O-Acetylderivat.
  • Salicortin (3-9%), seine 2'-O-, 3'-O- und 4'-O-Acetylderivate, sein 2'-O-Benzoylderivat (Tremulacin, <1%) und sein 2'-O-Cinnamoylderivat (0,5-8,5%).
  • Weitere Glykoside sind Triandrin (0,1-6%), Vimalin (0,1-1%), Picein (0,008-1,4%), Salireposid (0,1-1,2%) und kleine Mengen von Syringin und Purpurein (<0,4%) [7-20] (Abb. 2).

Flavonoide In Weidenrinde wurden Quercetin, Luteolin, Eriodictyol-7-glucosid (0,1-0,4%), Naringenin-Glykoside (0,3-1,5%), z.B. Naringenin-7-O- und -5-O-glucosid, das Flavanol Ampelopsin und das Chalcon Isosalipurposid (0,15-2,2%) sowie (+)-Catechin (0,5%) und Polyphenole (5%) nachgewiesen [7-20].

Sonstige Inhaltsstoffe Aromatische Alkohole, Aldehyde und Säuren sowie Salicylalkohol (= Saligenin), Syringaaldehyd, Salicylsäure, 4-Hydroxybenzoesäure, Kaffee-, Ferula- und 4-Cumarsäure kommen in der Weidenrinde je nach Salix-Art in unterschiedlichen Konzentrationen vor. Auch einige Polysaccharide wurden nachgewiesen [7-20].

Metabolismus und Resorption in vitro

Hydrolyse des Salicins Im Magen des durchschnittlichen, gesunden Menschen beträgt der pH-Wert während der Verdauung infolge der Säuresekretion 1 bis 2. Das entspricht einer Salzsäure-Konzentration von etwa 0,5%. Im nüchternen Zustand liegt der pH-Wert bei etwa 5. Bei gefülltem Magen finden sich niedrige Werte nur in Wandnähe, während im Magenzentrum meist höhere pH-Werte messbar sind. Im sich anschließenden Zwölffingerdarm steigt der pH-Wert in den neutralen Bereich. Bei der schubweisen Entleerung des Magens schwankt er kurzzeitig um den Bereich 3 bis 5 [21].

Zur Nachahmung physiologischer Verhältnisse in vitro wurden 10 mg Salicin mit 10 ml einer 0,5%igen, 37 °C warmen Salzsäure versetzt. Nach 90 min wurde mit Ether ausgeschüttelt und festgestellt, dass unter diesen Bedingungen keine Hydrolyse des Glucosids stattfand [21]. Auch bei Anwesenheit von Pepsin wurde keine Hydrolyse nachgewiesen [22]. Aufgrund der Versuchsbedingungen ist auch in vivo nicht mit der Hydrolyse des Salicins durch Magensäure zu rechnen.

Um zu prüfen, ob die Amylase des Speichels das Salicin hydrolysiert, wurden Untersuchungen mit verdünntem Mundspeichel durchgeführt. Die Ergebnisse zeigten, dass keine Hydrolyse des Salicins durch Speichelamylasen stattfand. Speichel enthält keine β-Glucosid-spaltenden Fermente [21].

Hydrolyse des Salicortins 5 mg Salicortin wurden in 5 ml künstlichem Darmsaft, bestehend aus einem Puffer mit einem pH-Wert von 7,4 bis 7,6, bei 37 °C gelöst. In periodischen Abständen wurden dem Reaktionsgemisch jeweils 10 ml entnommen und der Abbau des Salicortins quantitativ per HPLC bestimmt. Nach sechs Stunden war Salicortin zu Salicin abgebaut. Die Halbwertszeit (t1/2) lag bei 4,2 h [23]. In künstlichem Magensaft (pH 1,0) konnte nach Inkubation bei 37 °C kein Abbau des Salicortins zu Salicin gemessen werden [23].

Enzymatische Hydrolyse und Esterspaltung Das Enzym β-Glucosidase, isoliert aus Meerschweinchenleber, metabolisierte Salicin und Salicortin zu Saligenin. Die an der Glucose acetylierten bzw. benzoylierten Derivate Fragilin und Tremulacin wurden durch b-Glucosidase nicht abgebaut. Nicht spezifische Esterasen, aus Kaninchen- oder Meerschweinchenleber isoliert, metabolisierten Salicortin zu Salicin (98,1%), Acetylsalicortin zu Acetylsalicin (75,5%) und Tremulacin zu Tremuloidin (63,9%) [24, 25). Auch pankreatische Proteasen bauen Salicortin zu Salicin, Tremulacin zu Tremuloidin ab [26].

Membranpermeabilität bei Erythrozyten Der Transport von Salicin und Saligenin in die Erythrozyten war unterschiedlich schnell. Beim Saligenin betrug er ca. 1 Minute, beim Salicin 4 Stunden bis zur Sättigung. Dieser Prozess ist reversibel und belegt eine schnelle Freisetzung des Saligenins und eine verzögerte Penetration des Salicins [27].

Proteinbindung Sowohl Salicin als auch Saligenin binden das menschliche Serum-Albumin. Saligenin hat eine signifikant höhere Affinität [27].

Metabolismus in Leber-, Lungen-, Nierenhomogenat Nach Inkubation mit Rattennierenhomogenat wurde Salicin anteilig zu Saligenin und Salicylsäure abgebaut. Saligenin wurde durch Homogenate aus Leber, Lunge und Nieren zu Salicylsäure umgewandelt. Nach Inkubation von Saligenin in homogenisierte Leber wurde Gentisinsäure (2,5-Dihydroxybenzoesäure) qualitativ nachgewiesen [28].

Darmmetabolismus In isolierten Rattendarm injiziertes Salicin wurde von der Darmflora des Blind- und Dickdarms zum Aglykon Saligenin hydrolysiert [28].

Transport durch die Darmwand Der Transport von Salicin und Saligenin durch die isolierte Darmwand wurde unter Verwendung eines hinteren Abschnitts (Ileum) eines Rattendarms nachgewiesen. Nach Injektion von Salicin und Saligenin in die geschlossene Darmwand penetrierten beide Verbindungen den Rattendarm unverändert. Saligenin passierte die Darmwand dreimal schneller als Salicin [29].

Metabolismus und Elimination in vivo

Serumspiegel der Salicylsäure Nach oraler Gabe von Salicin (400 mg/kg KG) oder Natriumsalicylat (29 mg/kg KG) im Rattenversuch wurde im Serum die Konzentration der Salicylsäure (Metabolit) bestimmt. In den ersten 2 Stunden nach Applikation des Salicins konnte keine messbare Salicylsäure-Konzentration ermittelt werden. Danach flutete die Salicylsäure allmählich an, erreichte nach 5 Stunden die maximale Serumkonzentration mit Cmax = 82,4 mg/ml und sank innerhalb von 14 Stunden auf 7,8 mg/ml (t1/2 = 2,45 h). Nach oraler Applikation von Natriumsalicylat flutete Salicylsäure erwartungsgemäß innerhalb 1,5 Stunden zum Konzentrationsmaximum Cmax = 104,2 mg/ml an.

Nach Applikation von Natriumsalicylat verlief die Eliminationsphase von Salicylsäure wesentlich langsamer als nach Gabe von Salicin. Aus den AUC-Werten (area under the curve) beider Konzentrations-Zeit-Kurven der Salicylsäure wurde für Salicin im Vergleich mit Natriumsalicylat eine relative Bioverfügbarkeit von 3,25% ermittelt [30].

Männlichen Wistarratten wurde oral 0,268 g/kg KG Salicin appliziert. Im Ausscheidungsversuch wurden im Urin neben 15% unverändertem Salicin 0,1% Saligenin, 30% Salicylsäure, 5% konjugierte Salicylsäure, 2% Gentisinsäure und 0,1% 2,3-Dihydroxy-benzoesäure bestimmt. In den Faezes konnte nur unverändertes Salicin nachgewiesen werden [22].

Salicin und Salicortin Nach oraler Gabe von 14C-markiertem Salicin (8,9 mg/Maus) wurde Salicin schnell und vollständig metabolisiert. Freie Salicylsäure wurde im Blut nachgewiesen. Die Ausscheidung fand hauptsächlich renal statt. Salicortin (4 mg/Maus) und Tremulacin (11 mg/Maus) wurden teilweise metabolisiert. Gentisinsäure wurde gelegentlich im Dünndarm gefunden [26].

Untersuchungen an Probanden

Absorption von Salicin Nach Einnahme von 500 mg Salicin (= 7,5 mg/kg KG) wurden Saligenin, Salicylsäure, Salicylursäure und Gentisinsäure im Urin gefunden [21]. Nach oraler Gabe von 4 g Salicin (entsprechend 1730 mg Saligenin bzw. 2520 mg ASS) und in einer weiteren Untersuchung mit 2 g Natriumsalicylat wurden pharmakokinetische Untersuchungen an Probanden durchgeführt. Nach Einnahme von Salicin wurde die maximale Plasmakonzentration von freiem Salicylat nach 2 Stunden erreicht mit Cmax = 100 mg/ml, bei Natriumsalicylat nach 2 Stunden Cmax = 150 mg/ml (Abb. 3). 86% des applizierten Salicins wurde nach 24 Stunden renal als Metaboliten (Salicylursäure 51%, Salicylglucuronide 14%, Salicylsäure 12%, Gentisinsäure 5%, Saligenin 4%) ausgeschieden. Außerdem wurden kleine Mengen von unverändertem Salicin nachgewiesen [21].

Nach rektaler Applikation (Suppositorium) von 500 mg Salicin konnten im Urin keine Metaboliten nachgewiesen werden. Das Glucosid wurde unverändert ausgeschieden [21]. Das bedeutet, dass in Blut und Leber keine Enzyme vorhanden sind, die Salicin spalten.

Nach oraler Gabe von Saligenin war das qualitative Metabolitenspektrum identisch mit dem des Salicins [21]. Populin wurde nach oraler Gabe unverändert ausgeschieden. Die Benzoylierung der Glucose verhindert offensichtlich einen Abbau des Populins im Körper. Untersuchungen am Menschen haben gezeigt, dass Salicin weitgehend zum gleichen Metabolitenspektrum im Harn führt wie Acetylsalicylsäure nach oraler Gabe (Tab. 1) [21, 31, 32].

Absorption und Metabolismus von Weidenrindenextrakten Zwölf männliche Probanden (Alter 22-30 J.) erhielten am ersten Versuchstag 3 Dragees Weidenrindenextrakt (= 55 mg Salicin) oral verabreicht, anschließend wurde über 12 Stunden die Pharmakokinetik der Salicylsäure bestimmt. Die maximale Konzentration der Salicylsäure wurde 3 Stunden nach Applikation erreicht mit Cmax = 130 ng/ml). Die Halbwertszeit betrug 2,5 Stunden. Bei wiederholter Einnahme von je 3 Dragees im Abstand von vier Stunden wurde Cmax = 311 ng/ml 6 Stunden nach Gabe der ersten Dosis erreicht. Nach der dritten Dosis erhöhte sich die Plasmakonzentration also nicht weiter [33, 34].

Wirkungsmechanismus

Vom Prodrug zum Wirkstoff Zu den wirkungsrelevanten Inhaltsstoffen der Weidenrinde gehören verschiedene Glucoside, deren Vertreter sich vom Saligenin (Salicylalkohol) ableiten. In den nativen Glucosiden ist die phenolische OH-Gruppe des Salicylalkohols mit Glucose verknüpft (Salicin). Bei einigen Glucosiden trägt das Sauerstoffatom am C6' der Glucose noch einen Acylrest (Fragilin, Populin). Im Salicortin ist das C7 acyliert.

Im In-vitro-Test zeigten Salicin, Salicortin und verschiedene Weidenrindenextrakte keine Hemmung der Prostaglandinsynthese. Salicin und Salicortin bewirkten im Lipoxygenasetest bei hoher Dosierung nur eine schwache und physiologisch unbedeutende 18%ige Hemmung [23, 35-37]. Das entspricht den Erwartungen, da es sich bei den geprüften Substanzen um Glucoside und um Prodrugs der analgetisch, antiphlogistisch und antipyretisch wirkenden Salicylsäure handelt. Für die Extrakte gilt Gleiches. Das bedeutet nicht, dass die nativen Salicylate keine Wirkungen entfalten.

Mit dem "Hen's Egg Chorioallantoic Membrane", das als biologisches Modell zum Wirksamkeitsnachweis von Antiphlogistika etabliert ist, wurden Salicin, Tremulacin, Salicylalkohol, Natriumsalicylat und Acetylsalicylsäure getestet. Salicin und Tremulacin zeigten deutlich entzündungshemmende Effekte, doch setzte ihre Wirkung aufgrund der notwendigen Abspaltung des Glucoserestes später ein als bei Salicylalkohol, Natriumsalicylat und Acetylsalicylsäure [38, 39].

Die genuinen Hauptglucoside Salicin und deren Ester Salicortin, Tremulacin und Acetylsalicortin passieren unverändert das saure Milieu des Magens. Auch das Pepsin und der Speichel beeinflussen sie nicht. Erst im Darm werden die Ester ebenso wie das Salicin hydrolytisch-enzymatisch gespalten. Aus Salicin entstehen Saligenin (Salicylalkohol) und D-Glucose. Saligenin wird schnell und fast vollständig (86%) resorbiert. Darauf bewirkt das Enzymsystem Cytochrom-P 450 in der Leber seine Oxidation zur wirksamkeitsbestimmenden Salicylsäure [40] (Abb. 4).

Hemmung der Prostaglandine Salicylsäure und die Acetylsalicylsäure gehören als peripher wirkende Analgetika zur Gruppe der anionischen Pharmaka. Sie hemmen die Schmerzentstehung in den Nozizeptoren und haben zusätzlich eine deutliche antiphlogistische Wirksamkeit, die auf ihrer Anreicherung im sauren, entzündlich veränderten Gewebe beruht.

Botenstoffe, die bei der Gewebsschädigung freigesetzt werden, lösen in den Nozizeptoren den Schmerz aus. Die Schmerzempfindlichkeit wird durch Prostaglandine (E1, E2) erhöht. Das Schlüsselenzym für die Synthese der Prostaglandine, des Prostacyclins und der Thromboxane aus freier Arachidonsäure ist die Cyclooxygenase. Salicylsäure blockiert dieses Enzym. Eine Verhinderung des Konzentrationsanstiegs der Prostaglandine im peripheren Entzündungsbereich hat eine Schmerzdämpfung zur Folge [41].

Nach Applikation von Natriumsalicylat und Acetylsalicylsäure wurde die Ausscheidung der Metaboliten der Prostaglandine gemessen. Dabei zeigte sich kein Unterschied zwischen beiden Substanzen: In beiden Fällen war die Ausscheidung der Prostaglandin-Metaboliten am 3. Tag nach Applikation deutlich reduziert und erst am 7. Tag wieder im Normbereich [40]. Allerdings gibt es wesentliche Unterschiede in der Wirkung der Acetylsalicylsäure einerseits und der nicht-acetylierten Salicylate andererseits. ASS überträgt seine Acetylgruppe auf die Cyclooxygenase, was nicht nur das Wirkungspotential, sondern auch das Nebenwirkungs- und Interaktionspotential von ASS fördert. Prostaglandine spielen nämlich nicht nur bei entzündlichen, schmerzauslösenden Prozessen eine zentrale Rolle, sie steuern auch die Sekretion von Schleim zum Schutz der Magenwand, wobei ihnen vermutlich selbst eine Schutzfunktion zukommt. Die Cyclooxygenase der Thrombozyten reagiert besonders empfindlich auf ASS, da sie durch Acetylierung irreversibel inaktiviert wird [40].

Klinische Studien

In einer randomisierten, doppelblinden, Plazebo-kontrollierten klinischen Studie mit 78 stationären Patienten einer Rheumaklinik wurde ein Weidenrindenextrakt geprüft [42]. Die Patienten litten unter Arthrose (Osteoarthritis) des Knie- und/oder des Hüftgelenks. Die Verifizierung erfolgte mittels ARA-Kriterien. Prüfsubstanz war ein standardisierter Weidenrindenextrakt zur oralen Anwendung. Nach einer Auswaschphase von vier Tagen erhielten die Patienten 14 Tage lang 1360 mg Weidenrindenextrakt als Dragee resp. Plazebo. Die Prüfmedikation entsprach 240 mg Salicin/Tag. Die analgetische Wirkung wurde durch Monitoring gemäß WOMAC-Schmerzindex vom Tag 0 bis 14 bestimmt.

Unter Verwendung einer 10 cm VAS-Skala (visual-analogue scales) wurde zwischen der Verum- und Plazebogruppe eine Differenz von 0,65 cm bei Bewertung sämtlicher in die Prüfung einbezogener Patienten festgestellt (n = 78); in der nach Protokoll ausgewerteten Gruppe betrug der Unterschied 0,73 cm (n = 68). In beiden Gruppen war die Wirkung statistisch signifikant (p < 0,05), jedoch schwächer ausgeprägt als klinisch relevant (etwa 1,5 cm).

Anwendungsbeobachtungen

Von insgesamt 733 Patienten und Probanden, die mit Weidenrindenextrakt behandelt worden waren, wurden unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) in 27 Fällen (3,7%) berichtet [6, 33, 34].

  • 441 Patienten (319 w., 122 m.) bekamen während einer zweiwöchigen Studie ein Prüfpräparat mit Weidenrindenextrakt (360 mg standard. auf 11% Gesamtsalicin) und Passifloraextrakt (40 mg) 5 Tbl./die in der ersten, dann 3 Tbl./die in der zweiten Woche. Milde UAWs traten bei 10 Patienten (2,3%) auf, 5 Patienten klagten über Bauchschmerzen, 2 über Übelkeit, ein Teilnehmer hatte Hautrötung (Urtikaria) und starkes Schwitzen [6].
  • Mit gleichem Verum wurden 11 Patienten ebenfalls 14 Tage lang mit 6 Tbl./die behandelt. Bei 10 Patienten wurden keine signifikanten UAWs registriert; 1 Patient brach die Studie wegen Magenschmerzen ab [6].
  • 228 Patienten wurden einen Tag lang mit einem Kombinationspräparat aus Weidenrindenextrakt (340 mg standard. auf 11% Gesamtsalicin) und Trockencolasamenextrakt (80 mg standard. auf 22,5% Coffein) behandelt. Von reversiblen Magen-Darm-Beschwerden berichteten 13 Patienten (5,7%) [6].
  • In einer Studie an 12 Probanden wurde die Kombination aus Weidenrindenextrakt (166,6 mg) und Trockencolanussextrakt (38 mg, standard. bis 25% Coffein) geprüft. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen traten nicht auf [33, 34].
  • 41 Arthritis-Patienten mit chronischen Schmerzen wurden in einer Doppelblindstudie 8 Wochen lang mit einem Kombinationspräparat aus Weidenrindenextrakt (220 mg/die) behandelt. Insgesamt wurden 3 UAWs wie dyspeptische Beschwerden, Durchfall und Kopfschmerz berichtet [43].

Zusammenfassung

Nach der Monographie der Kommission E von 1984 besitzt das native Wirkstoffgemisch aus der Weidenrinde antipyretische, antiphlogistische und analgetische Wirkungen. Im Gegensatz zu Acetylsalicylsäure (ASS) ist der Weidenrindenextrakt zunächst ein pharmakologisch unwirksames Glucosidgemisch, ein Prodrug. Seine genuinen Hauptglucoside Salicin, Salicortin und Tremulacin passieren das saure Milieu des Magens unverändert. Weder der niedrige pH-Wert des Magensafts noch Speichel verändern die Glucoside der Weidenrinde. Erst der alkalische Darmsaft hydrolysiert die Salicylderivate. Darmbakterien, primär des unteren Darmabschnitts (Blind-, Dickdarm), spalten enzymatisch Salicin und Salicortin in Glucose und Saligenin (Salicylalkohol). Saligenin wird schnell und fast vollständig resorbiert.

In der Leber bewirkt Cytochrom-P 450 die Oxidation des Saligenins zur wirksamkeitsbestimmmenden Salicylsäure. Diese hemmt die für die Prostaglandinsynthese essentielle Cyclooxygenase und verhindert somit die verstärkte Bildung der Prostaglandine E1 und E2. Damit wirkt sie an den peripheren Nozizeptoren indirekt analgetisch. Die analgetische Wirksamkeit interferiert mit der antiphlogistischen Wirkung durch Anreicherung des anionischen Pharmakons im sauren Milieu des entzündeten Gewebes.

Die Salicinverbindungen der Weidenrinde werden erheblich langsamer metabolisiert als synthetische Salicylate (ASS, Natriumsalicylat). Die Konzentration-Zeit-Kurve der Salicylsäure im Serum steigt beim Salicin, verglichen mit äquimolarer Gabe von Natriumsalicylat, langsamer an (slow release effect) und flutet auch langsamer ab.

Die Verlängerung (Retardation) des Salicylsäure-Blutspiegels bedingt eine protrahierte Verfügbarkeit im Blut und eine Wirkungsverlängerung am Ort des Entzündungsgeschehens.

In einer Doppelblindstudie von 1998 wurde mit einem Weidenrindenextrakt die analgetische Wirkung bei Arthrose des Hüft- und/oder Kniegelenkes nachgewiesen. Die europäische ESCOP-Monographie stützt sich auf Erfahrungsberichte der Anwendung unterschiedlicher Weidenrindenpräparationen an insgesamt 733 Patienten und Probanden. Alle Untersuchungen zeigen eine gute Verträglichkeit und niedrige Nebenwirkungsrate im Vergleich mit synthetischen Salicylaten. Unerhebliche, reversible Nebenwirkungen traten bei etwa 4% aller ausgewerteten Anwendungen auf.

Weidenrindenextrakt beeinflusst die Magenschleimbildung nicht und verursacht keine Anreicherung von Protonen an der Magenwand. Läsionen an der Magenschleimhaut sind auch bei Langzeitanwendung nicht beobachtet worden. Auftretende gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit und Magendruck sind bei salicinhaltigen Arzneimitteln auf eine individuelle Empfindlichkeit gegen Catechin-Gerbstoffe der Droge zurückzuführen bzw. die Folge einer nicht identifizierten Salicylat-Überempfindlichkeit, einer generellen Kontraindikation für alle Salicylat-haltigen Arzneimittel.

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