Arzneimittel und Therapie

DPhG Hamburg: Mikroflora des Dickdarms ermöglicht neue "intelligente" Arzneif

Eine gezielte Wirkstoff-Freisetzung im Dickdarm mag auf den ersten Blick kaum realisierbar und zudem wenig brauchbar erscheinen. Doch ist dies durchaus praktikabel und eröffnet möglicherweise sogar Lösungen für einige klassische galenische Probleme. Die denkbaren Anwendungen gehen über die lokale Arzneistoffwirkung hinaus und betreffen sowohl Retardformulierungen als auch oral applizierbare Peptide.

Der "klassische" Fall dickdarmlöslicher Zubereitungen sind Arzneimittel, die ihre Wirkung lokal im Dickdarm entfalten sollen, z. B. 5-Aminosalicylsäure. Wie bei dünndarmlöslichen Arzneistoffen ist hierfür ein magensaftresistenter Überzug erforderlich, der sich im annähernd neutralen Milieu des Darmes auflöst. Um den Arzneistoff auch während der Dünndarmpassage zu schützen, wird üblicherweise ein hinreichend dicker zusätzlicher Überzug zwischen Wirkstoff und äußerer magensaftresistenter Hülle verwendet. Wenn die Zeit für die Dünndarmpassage und die Auflösung des zweiten Überzuges übereinstimmen, wird der Wirkstoff am gewünschten Ort freigesetzt.

Unterschiedliche Nahrung und verschiedene Zeiten der Nahrungsaufnahme und Arzneimitteleinnahme können die Verweilzeiten des Arzneimittels in den einzelnen Darmregionen stark verändern und damit dieses Konzept vereiteln. Dementsprechend wichtig sind bei derartigen Präparaten die Einnahmehinweise und deren Befolgung.

Dünn- und Dickdarm haben unterschiedliche Darmflora

Das elegante Prinzip der pH-abhängigen Auflösung läßt sich nicht auf die Dünndarmresistenz anwenden, da zwischen Dickdarm und Dünndarm kein verwertbarer pH-Gradient besteht. Der Dünndarm-pH liegt zwischen 6,6 und 7,5, während im Dickdarm pH-Werte zwischen 6,4 und 7,0 bestehen. Um ein vergleichbares Konzept zu entwickeln, ist ein geeigneter Gradient zu suchen, mit dem sich Dünn- und Dickdarm gut unterscheiden lassen. Ein solcher Unterschied zeigt sich in der Darmflora. Während im Dünndarm überwiegend aerobe Bakterienarten auftreten, enthält der Dickdarm mehr anaerobe Arten. Ein besonders ausgeprägter Gradient besteht zwischen dem Ileum und dem Zäkum (Blinddarm, gemeint ist nicht der Appendix). Der Blinddarm enthält um etwa 9 Zehnerpotenzen mehr koloniebildende Einheiten als der Dünndarm. Außerdem dominieren im Blinddarm die anaeroben Keime im Verhältnis 1:1000.

Vielfältige Polymere zur Auswahl

Diese deutlichen Unterschiede lassen sich mit Überzugsmaterialien ausnutzen, die von der speziellen anaeroben Mikroflora des Kolons bzw. Zäkums abgebaut werden. Zunächst wurden hierfür azovernetzte Polymere verwendet, die durch Azoreduktasen gespalten werden. Nach diesem Konzept werden auch die Prodrugs Sulfasalazin und Olsalazin in wirksame Substanzen umgewandelt.

Da die azovernetzten Polymere nur recht langsam gespalten werden, wurden anschließend Polysaccharide als Überzugsmaterialien getestet. Diese werden durch Endoglykosidasen deutlich schneller abgebaut. Zur Optimierung des Verfahrens müssen unterschiedliche Materialien getestet werden, die sich von der menschlichen Darmflora abbauen lassen. Auch die Derivate geeigneter Substanzen erweisen sich als abbaubar, sofern diese quellfähig und für die bakteriellen Enzyme zugänglich sind. So können Derivate geschaffen werden, die die Resistenz gegen Magen- und Dünndarmsäfte verbessern. Anschließend wird durch den Polymerisierungsgrad ein Gleichgewicht zwischen Löslichkeit und Abbaubarkeit eingestellt. Untersucht wurden bisher Blockpolymere aus Polyurethanen und Polysacchariden, vollständig ethylierte Galactomannane, vernetzte Polysaccharide und Dextran-Fettsäureester.

Letztere erscheinen aus toxikologischer Sicht besonders geeignet. Denn sie stammen aus nachwachsenden Rohstoffen, sind vollständig abbaubar und lassen keine toxischen Folgeprodukte erwarten. Doch wurden die Substanzen bisher nur in vitro getestet. Hierfür dient ein kleiner Fermenter, der mit dem Inhalt von Schweine-Zäkum oder mit den reinen Enzymen der Darmflora gefüllt wird. Als nächster Schritt wären Korrelationsstudien zwischen In-vitro- und In-vivo-Ergebnissen mit menschlichen Probanden erforderlich, doch ist zuvor eine weitere Optimierung der zur Zeit untersuchten Überzüge nötig.

Praktischer Nutzen schwer überschaubar

Wenn das Konzept Einzug in die Praxis findet, verspricht es eine Reihe von Vorteilen gegenüber bisherigen Technologien. So ist die lokale Wirkung von Arzneistoffen im Dickdarm viel sicherer durch eine gezielte Freisetzung am Wirkort als durch eine zeitliche Kontrolle zu steuern. Dies eröffnet auch neue Perspektiven für Retardpräparate mit Auflösungszeiten von 12 Stunden und mehr. Durch weitere Verfeinerungen des Konzeptes ließen sich gezielt einzelne Bereiche des Dickdarms ansteuern, um dort topische Effekte auszulösen. Eine breitere Anwendung verspricht der Einsatz mit niedermolekularen Peptidarzneistoffen, die so vor der Zersetzung geschützt werden.

Der begrenzende Faktor für diese Applikation von Peptiden dürfte das Resorptionsvermögen im Dickdarm sein. Während Peptide aus bis zu 10 Aminosäuren gut aufgenommen werden, wäre die Resorption von Insulin aufgrund der Molekülgröße eher unzuverlässig. Möglicherweise würden sich bei regelmäßigem Angebot von Peptiden im Dickdarm auch dort Peptidasen ansiedeln und die Peptide vor der Resorption zerstören. Demnach ist der praktische Wert einer gezielten Wirkstoff-Freisetzung im Dickdarm heute noch kaum abzuschätzen.

Quelle: Prof. Dr. Kurt H. Bauer, Freiburg, Vortrag für die Landesgruppe Hamburg der DPhG, 10. November 1998.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.