Arzneimittel und Therapie

Die Renaissance einer altbekannten Substanz

Bei Arsen denken die meisten Pharmazeuten eher an ein stark wirkendes Gift als an ein Arzneimittel. Das kann sich bald ändern. Amerikanische Krebsforscher haben jetzt nämlich die Arbeiten von chinesischen Wissenschaftlern bestätigt, die gefunden hatten, daß Arsentrioxid gegen eine spezielle Leukämieform wirksam ist. Bei elf von zwölf Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie kam es nach einer entsprechenden Behandlung zu einer Remission, die 12 bis 39 Tage anhielt. Der Wirkmechanismus von Arsentrioxid ist noch nicht geklärt. Die Befunde sprechen dafür, daß die Wirkung dieser Substanz vor allem auf der Induktion des programmierten Zelltodes (Apoptose) beruht.

Heilmittel und Gift

Seit der Antike haben die Menschen Arsenverbindungen genutzt. Die beiden natürlich vorkommenden schwefelhaltigen Arsenverbindungen, das gelbe Auripigment und der rote Sandarak, dienten, wie Dioskurides berichtet, nicht nur zum Färben und Haarentfernen, sondern auch zur Behandlung von Geschwüren. Arsentrioxid (As2O3), das "Arsenik", war bis ins 20. Jahrhundert hinein ein weit verbreitetes Ratten- und Mäusegift. Innerlich wurde Arsenik in Einzelgaben von höchstens 5 mg zur Anregung des Stoffwechsels bei Hautkrankheiten, bei intermittierendem Fieber und bei Blut- und Nervenkrankheiten eingesetzt.

Akute Promyelozytenleukämie

In den letzten Jahren berichteten verschiedene Forscher aus China, daß sie mit Arsentrioxid vollständige Remissionen bei Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie erzielen konnten. Ein Forscherteam um Steven L. Soignet vom New Yorker Sloan-Kettering Cancer Center überprüfte nun die chinesischen Ergebnisse an zwölf Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie und versuchte, den Wirkmechanismus von Arsentrioxid herauszufinden.
Leukämien sind Krebserkrankungen der Leukozyten. Die weißen Blutkörperchen entwickeln sich aus den Stammzellen im Knochenmark. Von Leukämie spricht man, wenn die Reifung der Stammzellen zu Leukozyten unvollständig ist und sich die Zellen verändern. Diese Veränderungen betreffen häufig das genetische Material der Vorläuferzellen von Leukozyten. Die Zellen können sich dann unkontrolliert vermehren, im Knochenmark festsetzen und gesunde Vorläuferzellen verdrängen. Werden die leukämischen Zellen aus dem Knochenmark in die Blutbahn freigesetzt, werden sie zu anderen Organen transportiert und schädigen sie. Bei den Leukämien gibt es akute und chronische Formen. Sie betreffen entweder die Lymphozyten oder die Myelozyten. Letztere sind Vorläuferzellen der Granulozyten, einer Untergruppe der Leukozyten.

Blutungsneigung ist häufig

Die akute Promyelozytenleukämie heißt so, weil die Entwicklung der Myelozyten hin zu den Granulozyten auf der Stufe der Promyelozyten stehenbleibt. Die Promyelozyten können sich dadurch nicht weiter differenzieren. Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie leiden häufig an "disseminierter intravasaler Koagulation" mit erhöhter Blutungsneigung und verschiedenen Blutungskomplikationen. Der Mangel an "normalen" Leukozyten führt in der Regel dazu, daß sich die Patienten schwach und erschöpft fühlen. Häufig klagen sie über Kopfschmerzen und sind besonders anfällig für Infektionskrankheiten.

Genetische Veränderungen der Leukozyten

Das Knochenmark von Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie ist mit Promyelozyten infiltriert. Die Promyelozyten, die man findet, sind genetisch verändert, und zwar dadurch, daß Teile der Chromosomen 15 und 17 gegenseitig vertauscht sind. Diese "reziproke Translokation" führt dazu, daß in den veränderten Promyelozyten die genetische Information für zwei verschiedene Proteine nebeneinander liegt und sich vermischt. Bei den zwei Proteinen handelt es sich um das RAR-alpha-Protein (RAR: retinoic acid receptor) und um das PML-Protein (PML: promyelocytic leukemia gene). Durch die genetische Vermischung entsteht das sogenannte PML-RAR-alpha-Protein.

Dieses "Fusionsprotein" soll bei der Entstehung der Promyelozytenleukämie eine wichtige Rolle spielen. Das Fusionsprotein verhindert nämlich, daß all-trans-Retinsäure ihr Zielprotein RAR-alpha aktiviert. Die Folge davon ist, daß sich die Promyelozyten nicht zu Granulozyten differenzieren können und sich im Knochenmark anreichern.

Arsentrioxid ist weniger spezifisch als all-trans-Retinsäure

Seit einigen Jahren ist das Fusionsprotein PML-RAR-alpha ein wichtiges Ziel in der medikamentösen Behandlung der Promyelozytenleukämie. Das Fusionsprotein läßt sich mit all-trans-Retinsäure in pharmakologischen Dosen abbauen, wobei der Mechanismus sehr komplex ist. Der Patient erlebt eine deutliche Besserung seines Zustandes. Durch den Abbau des Fusionsproteins können die Promyelozyten reifen und sich weiter differenzieren.
Auch Arsentrioxid, so fanden die amerikanischen Forscher heraus, fördert die Differenzierung der entarteten Promyelozyten. So ließen sich bei acht der elf Patienten nach der Behandlung mit Arsentrioxid keine Fusionsproteine mehr nachweisen. Die drei Patienten mit positivem Nachweis hingegen erlitten schon frühzeitig einen Rückfall. Die Zelldifferenzierung war jedoch unter Arsentrioxid nicht so vollständig, wie man das von der Behandlung mit all-trans-Retinsäure kennt. So ließen sich unter der Behandlung mit Arsentrioxid spezielle Oberflächenantigene auf den Knochenmarkzellen nachweisen, die sowohl für reife als auch für unreife Zellen charakteristisch sind.

Der programmierte Zelltod

Der partielle Abbau des Fusionsproteins kann nicht der entscheidende Wirkmechanismus von Arsentrioxid sein, vermuteten die amerikanischen Forscher. Denn überraschenderweise löste Arsentrioxid auch bei Patienten eine vollständige Remission aus, die gegenüber all-trans-Retinsäure und Chemotherapie resistent waren und Rückfälle erlitten.

In-vitro-Studien zeigen, daß Arsentrioxid den programmierten Zelltod (Apoptose) auslösen kann. Die Substanz steigert die Expression von Cysteinproteasen (Caspasen), deren Bedeutung für die Apoptose erst seit kurzem bekannt ist. Zudem fördert Arsentrioxid den Umbau von inaktiven Caspase-Vorläufermolekülen zu aktivierten Enzymen. In vitro dauert es nur wenige Tage, bis mit Arsentrioxid die Apoptose einsetzt, in vivo hingegen zwei bis vier Wochen.

Gute Verträglichkeit

In der amerikanischen Studie erhielten die Teilnehmer in der Regel 0,15 Milligramm Arsentrioxid pro Kilogramm Körpergewicht als Infusionen. Diese Infusionen wurden täglich verabreicht, bis keine sichtbaren leukämischen Zellen im Knochenmark übrigblieben. Die Patienten vertrugen Arsentrioxid gut. Als Nebenwirkungen traten Benommenheit während der Infusion, Müdigkeit, Schmerzen an der Skelettmuskulatur und eine leichte Hyperglykämie auf.

Interessante Substanz für neoplastische Krankheiten

Arsentrioxid, so faßt Soignet seine Ergebnisse zusammen, kann eine vollständige Remission bei Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie herbeiführen, die nach einer ausgeprägten Therapie mit anderen Mitteln Rückfälle erlitten haben. Die Substanz führt bei Leukämiezellen zu einer unvollständigen Zelldifferenzierung und zum programmierten Zelltod. Die Wirksamkeit der Substanz bei der akuten Promyelozytenleukämie einerseits und andererseits der unspezifische Wirkmechanismus machen Arsentrioxid zu einem interessanten Kandidaten für Studien bei Patienten mit anderen neoplastischen Krankheiten.

Literatur: Soignet, S. L., et al.: Complete remission after treatment of acute promyelocytic leukemia with arsenic trioxide. N. Engl. J. Med. 339, 1341-1348 (1998).

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