Kommentar

Stark - und doch ohnmächtig

Er war wirklich eindrucksvoll, dieser Demonstrationszug, der sich über die breiten Berliner Straßen schob. Die Sprechchöre hatten Ohrwurmcharakter. Die Stimmung war der Situation angemessen: zornig, verzweifelt, aufgebracht. Von Resignation (noch) keine Spur. Der Wunsch, durch eigenen Einsatz noch etwas ändern zu können, war deutlich spürbar, und es schien, als liege ein hoher Energiepegel über diesen 25000 Demonstranten. Auffallend viele junge Menschen waren darunter.

Gesundheitsberufe gehen schließlich nicht alle Tage auf die Straße, da muss es schon hart kommen. Die Sorge um den Arbeitsplatz wurde immer wieder deutlich. Und natürlich auch die Sorge um die Patienten. Dass eigene (auch wirtschaftliche) Interessen und das Wohlergehen der Patienten im Bereich der Gesundheitsberufe nun einmal gekoppelt und schwer zu trennen sind, ist Tatsache und sollte nicht in einen Vorwurf verwandelt werden. Gegenüber der Politik gehört der Patient in den Vordergrund - das war auch auf der Demo nicht anders. Und man bediente sich dazu teilweise sehr drastischer Mittel. Ein Skelett am Tropf im Krankenbett, ein weiteres Skelett im Rollstuhl - da waren die Fernsehkameras zur Stelle. Doch nicht nur ich habe mich gefragt, ob hier nicht die Grenzen des Geschmacks überschritten sind? Dass die Gesundheitsreform 2000 mehr Tote produzieren wird, ist schon eine gewagte Behauptung. Doch ich räume ein: Wer Aufmerksamkeit erzielen will, muss gelegentlich überzeichnen.

Das Reformgesetz ist nun seit Wochen in der Diskussion. Seitens des Bundesgesundheitsministeriums zeigt sich kaum Bewegung. Die Positivliste wird zur Rationierung führen - so klar und deutlich wie die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion dies anlässlich der Jahrestagung der Arzneimittelhersteller, einen Tag nach der Großdemo in Berlin, aussprach, habe ich dieses Bekenntnis bisher noch nie gehört oder gelesen. Rationierung, das ist in der Tat ein Wort, das zu Beklemmungen führt. Ich schlussfolgere: die Demo hat bei den Verantwortlichen offensichtlich keinen Eindruck hinterlassen. Man hält am Programm fest, passiere, was wolle.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Auch ich halte das Globalbudget für ein extrem bedenkliches Argument, auch ich teile die Ansicht derer, die den Gesundheitsmarkt für einen Wachstumsmarkt halten, sofern man ihn nicht mit Gewalt erschlägt. Doch mit den in der Resolution (siehe Bericht über die Demo in Berlin) formulierten Forderungen "kein Globalbudget", "keine Allmacht den Kassen" sowie drei weiteren "Keins" wird es schwer sein, Gehör zu finden. Ein Programm kann nicht nur in Ablehnungen und "Nichtwollen" bestehen. Es gehören schon Gegenvorschläge auf den Tisch.

Doch außer dem Angebot einer Gesprächsbereitschaft war von den Kundgebungssprechern nichts zu hören - ich habe genau hingehört und darauf gewartet. Was wirklich helfen würde, traut sich leider kaum einer offen auszusprechen. Man müsste den Mut haben zu einer wirklichen Strukturreform, in der die Lohnnebenkosten von den Gesundheitsausgaben abgekoppelt werden, um nur ein wichtiges Beispiel zu nennen.Sicher war die Demo in Berlin ein wichtiges Zeichen, hat es doch auch gezeigt, dass Solidarität unter den Gesundheitsberufen möglich ist und stärkt. Doch gleichzeitig bleibt ein schales Gefühl von Ohnmacht zurück - der Karren muss offensichtlich erst richtig an die Wand fahren, bevor jemand sich traut, das Steuer nicht nur anzutippen, sondern herumzureißen.

Reinhild Berger

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