DAZ aktuell

Phytotherapie – eine ≥besondere Therapierichtung„

Besonders umstritten, besonders rationell oder besonders metaphysisch?

Von M. Wiesenauer, Weinstadt

Bei der Suche nach weiteren Einsparpotentialen bei der Arzneimittelverordnung werden immer wieder Indikationen genannt, bei denen die Kostenträger eine Erstattung in Frage stellen wollen. Die Arzneimittelrichtlinien führen hierbei die geringfügigen Gesundheitsstörungen grundsätzlich – und eine Reihe von Indikationen relativ – an und lösen die Aufgabe der Definition dieser Indikationen durch Verweis auf Arzneistoffe, die hierfür verwendet werden. Eine solche Logik ist nicht ohne Tücke und führt dazu, daß ganze Arzneimittelgruppen formal diskriminiert werden (Beispiel: die sog. Expektoranzien). Daß diese Problematik in den Bereich der Phytotherapie auch hineinwirkt, weil diese als besondere Therapierichtung gilt, und Phytopharmaka eben auch bei diesen kurzerhand als ≥umstritten„ bezeichneten Indikationen zur Anwendung kommen, verdankt sich Publikationen, die das Attribut ≥umstritten„ auf die Arzneimittel selbst anwenden; besonders gerne werden die pflanzlichen Arzneimittel als typische Stellvertreter für Therapeutika in diesen Indikationsgruppen auf diese Weise angegriffen ([4], siehe aber dazu [2]).

Der niedergelassene Arzt sieht die Situation jedoch anders: Er ist die Instanz, von der adäquates Handeln angesichts konkret in der Sprechstunde erscheinender Patienten erwartet wird – dazu hat er eine lange und intensive Ausbildung absolviert und ist im Idealfall in Theorie und Praxis fortgebildet; ≥seinem„ Arzt vertraut sich der Patient an, damit eine Diagnose gefunden und über geeignete Maßnahmen entschieden wird. Ggfs. gehört dazu auch die Überweisung an einen Gebietsarzt oder die Einweisung zur stationären Behandlung in eine Klinik. Man beachte, daß – im Prinzip – das Arbeitsfeld der Klinik dort anfängt, wo der niedergelassene Kollege aufhört – mit allen Konsequenzen für die Anforderungen an die Pharmakotherapie.

Zum niedergelassenen Kollegen kommt ein Teil der Patienten mit klaren und eindeutigen Befunden, andere weisen vielfältige, differenzierte und diffizile Krankheitsbilder auf. Jene Beschwerdebilder mit Syndromcharakter mögen vielleicht schwierig faßbar sein, doch ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre Existenz nicht zu leugnen oder wegzudiskutieren. Die Praxis lehrt, daß der Patient mit der Entscheidung für den Gang zum Arzt eine Diagnose schon gestellt hat: daß nämlich ≥mehr„ gestört ist als nur die reine ≥Befindlichkeit„. Wie auch immer die klinische Diagnose nun aussieht: Der Patient erwartet die Entscheidung über die geeigneten therapeutischen Maßnahmen, von denen die in diesem Beitrag thematisierte Phytotherapie eine von mehreren therapeutischen Optionen ist.

Was heißt nun ≥geeignet„ in der Pharmakotherapie? Aus der Sicht der Praxis ist die Antwort klar: Das Arzneimittel muß die Aufgabe erfüllen, die entsprechende Erkrankung, ihre Symptome oder Folgen möglichst gut und möglichst ohne gravierende Nebenwirkungen zu bekämpfen. Die Lehrbücher der Pharmakologie sollten hierfür die umfassende Informationsquelle darstellen. In der Praxis sind sie das nur bedingt: sie beschränken sich auf die Darstellung von synthetischen Substanzen, die aus der modernen pharmakologischen Forschung hervorgegangenen sind und verzichten weitestgehend auf die Darstellung einer ganzen Arzneimittelgruppe, die in der Praxis des niedergelassenen Arztes keine unwesentliche Rolle spielt, nämlich der Phytopharmaka. Worauf diese Beschränkung zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Sie hat aber zur Folge, daß pflanzliche Arzneistoffe nicht als pharmakologisch aktiv und klinisch wirksam erscheinen, mithin eine Beurteilung der Verschreibungspraxis anhand der Lehrbücher der Pharmakologie den Widerspruch zu entdecken glaubt, daß bei bestimmten Indikationen Arzneimittel verordnet werden, zu denen scheinbar kein pharmakologisches und klinisches Erkenntnismaterial vorliegt.

Dagegen hat die Aufbereitungsarbeit der Arzneimittelkommission E jedoch gezeigt, daß dieser Schein trügt. Neue Übersichten und Lehrbücher [3,5, 7] der Phytotherapie sind erschienen und dokumentieren eine rege Forschungstätigkeit und eine Fülle von Erkenntnissen zu einzelnen Arzneidrogen oder Arzneimitteln (die selbstverständlich nicht generalisierbar ist, aber hierin unterscheiden sich Phytopharmaka durchaus nicht von synthetischen Arzneistoffen). Die Gesellschaft für klinische Pharmakologie setzt sich auf Symposien neuerdings mit pflanzlichen Wirkstoffen auseinander [5]0. Derjenige Arzt – ob niedergelassen oder in der Klinik –, der Pharmakotherapie therapieorientiert und nicht stofforientiert betreibt und mit Phytopharmaka gute Erfahrungen gemacht hat, kann aus der theoretischen Fundierung der Phytopharmaka den intellektuellen Gewinn ableiten, daß die eigenen Beobachtungen objektivierbar und erklärbar sind.

Ein Patient ist ein Individuum mit der Mehrdimensionalität seiner Krankheit; für eine wirtschaftliche und rationale Pharmakotherapie ist dies eine wichtige Einsicht. Aus ihr folgt, daß die Behandlung mit dem Ausstellen des Rezeptes noch nicht erledigt ist, sie vielmehr den Patienten auch erreichen muß – mit anderen Worten: Eine wirtschaftliche und rationale Pharmakotherapie hat sich auch Gedanken über den Patienten zu machen und seine Bereitschaft, die verordneten Medikamente einzunehmen. Auch einschlägige positive und negative Listen, oftmals ohne wesentliche Einflußnahme der niedergelassenen Ärzte erstellt, nehmen auf dieses Moment der Therapie nur ungenügend Rücksicht, weil sie auf den Fundamenten der Pharmakologie stehen, die als solche – wohlgemerkt – hier in keiner Weise kritisiert werden sollen. Doch geht die Pharmakologie vom Eintritt der erwünschten pharmakologischen Wirkung aus und begibt sich mit diesem Optimismus mitunter in Widerspruch zur Praxis, weil der Patient, in Kenntnis vermuteter oder erfahrener unerwünschter Wirkungen, dem Pharmakon gar keine Chance (mehr) zur Wirksamkeit gibt. Solcher Umgang mit der verordneten Therapie unterliegt rationalen wie irrationalen Einflüssen und ist schwer zu steuern, zumal die wesentlichen Einflußgrößen einerseits die Art und Ausprägung der Erkrankung und andererseits das mehr oder weniger günstig empfundene Nutzen-Risiko-Verhältnis der Therapie sein dürften.

Hier kommen die pflanzlichen Arzneimittel wieder ins Spiel. Der häufig geäußerte Vorwurf, die Nutzenseite dieser Arzneimittel sei ungenügend bekannt, muß genauso als Pauschalismus zurückgewiesen werden, wie man umgekehrt nicht allen synthetischen Pharmaka durchwegs höchste Wirksamkeit und ein positives Nutzen/Risiko-Verhältnis zusprechen kann. Dies hat die Aufbereitungsarbeit aller Arzneimittelkommissionen sehr deutlich gemacht.Im internationalen Vergleich hat die Bedeutung der Phytotherapie innerhalb der Pharmakotherapie in der Bundesrepublik im übrigen eine Reihe neuer Entdeckungen hervorgebracht (beispielhaft genannt seien die Erforschung eines dopaminergen Wirkprinzips in der Droge Agnus castus oder die Untersuchungen zu antiallergischen Effekten von Inhaltsstoffen der Zwiebel) und zu einem hohen Wissenstand geführt. Prinzipiell läßt sich in der Literatur zu Phytopharmaka eines festhalten: Mit geeigneten Forschungsanstrengungen lassen sich auch in Bereichen, in denen bevorzugt von ≥mite"-Wirkungen gesprochen wird, klinisch und pharmakologisch Effekte fassen, die die Erfahrungen mit Phytotherapeutika plausibel werden lassen; auch für Phytopharmaka ist Wirksamkeit objektivierbar: Sie ist zwar eine Eigenschaft des Arzneimittels, aber sie äußert sich nur als Wirkung auf einen Krankheitszustand und ist damit so gut (oder schlecht) faßbar wie der Krankheitszustand selbst. Es ist wissenschaftlich nicht korrekt, Probleme der Faßbarkeit (≥Meßbarkeit„) eines Krankheitszustandes als ein Manko des Arzneimittels zu werten, welches in dieser Indikation eingesetzt wird. Das von Vorstand und wissenschaftlichem Beirat der Bundesärztekammer herausgegebene Memorandum [6] geht im übrigen fehl in der – wissenschaftstheoretisch und -praktisch nicht nachzuvollziehenden – Annahme, daß eine biostatistische Nachprüfbarkeit mittels kontrollierter klinischer Studien (Doppelblindversuch) in der Phytotherapie nicht machbar sei und dementsprechend nicht zum wissenschaftlichen Repertoire dieser Therapierichtung gehöre.Mit den in den letzten Jahren erarbeiteten Erkenntnissen [1, 5] zu pflanzlichen Arzneimitteln wird gleichzeitig die Ansicht widerlegt, ein Arzneimittel verdiene diesen Namen erst dann, wenn ≥der„ Wirkstoff gefunden, isoliert und synthetisiert ist, unter Umständen aus patentrechtlichen Gründen als Strukturvariante des ursprünglichen Pflanzeninhaltsstoffes – und die Abstammung von der Arzneipflanze nicht mehr erkennbar ist.Beschäftigt man sich schließlich noch mit der Risiko-Seite von Arzneimitteln, erscheint die breite Akzeptanz der Phytotherapie verständlich und unverzichtbar für die Pharmakotherapie. Die Forschungsanstrengungen der letzten Jahre haben die praktische Seite um viele theoretische Aspekte ergänzt – was nur dann fortgeführt werden wird, wenn diese Arzneimittel weiterhin für die erstattungsfähige Verordnung zu Verfügung stehen. Daß das Verfahren der Nachzulassung in bezug auf Rationalität und Qualität der gesamten Arzneimitteltherapie ein neues Niveau erzeugt hat, welches den Arzneimittelrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen gerecht wird, weil von den pharmazeutischen Herstellern die Arzneimittelprüfrichtlinien der EU bzw. des Bundesministeriums umzusetzen waren, ist gut und richtig und als Fortschritt, der keineswegs ausschließlich in dieser ≥besonderen„ Therapierichtung fällig war, zu begrüßen und anzuerkennen. Indikationsgerechte Arzneimittel mit gesicherter Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit für das gesamte Spektrum der in der Praxis auftretenden Erkrankungen müssen zur Verfügung stehen: Und gerade dazu zählen auch Phytopharmaka – nicht pauschal, weil ≥Phyto„, sondern rational, weil ≥Pharmaka„. Das ist auch schon die Besonderheit dieser Therapierichtung: Sie unterscheidet sich nicht im theoretischen Fundament, sondern in der Substanz – im engsten Sinne des Wortes.


Literatur [1]Bauer R., F.-Ch. Czygan, G. Franz, M. Ihrig, A. Nahrstedt und E. Sprecher: Pharmazeutische Qualität, Standardisierung und Normierung von Phytotherapeutika. Zeitschrift für Phytotherapie 15 (1994), 82–91. [2]Bräuer U.: Die Phytotherapie verblüht sicher nicht! naturamed 9 (1994), 6: 26–29. [3]Fintelmann V., H. G. Menßen, C. P. Siegers: Phytotherapie Manual, Hippokrates Verlag, Stuttgart, 1993. [4]Glaeske G.: Verblüht die Phytotherapie? naturamed 8 (1993), 12: 626–635. [5]Loew D., N. Rietbrock (Hrsg.): Phytopharmaka in Forschung und klinischer Anwendung. Steinkopf Verlag, Darmstadt, 1997. [6]Vorstand und wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (Hrsg.): Memorandum. Arzneibehandlung im Rahmen ≥besonderer Therapierichtungen„. 2. überarbeitete Auflage, Deutscher Ärzte-Verlag: Köln, 1993, p. 19. [7]Wagner H., Wiesenauer M.: Phytotherapie. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, 1995. [8]Zeitschrift für Phytotherapie, Abstractband (1995).

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.